Lager in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
Lager waren ein integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Herrschaft.
Einige dieser Provisorien entwickelten sich im Laufe der Jahre zu Dauereinrichtungen. Andere Lager wurden geschlossen und unzählige neu eingerichtet. Im Jahr 1955 existierten bundesweit einschließlich Westberlin insgesamt 3.064 Lager, in denen knapp 400.000 Personen untergebracht waren. Einrichtungen mit einer kurzen Verweildauer waren Grenzdurchgangslager wie Friedland oder Piding sowie Notaufnahmelager wie Uelzen-Bohldamm, Berlin-Marienfelde oder Gießen. In den Bundesländern bestanden nachgelagerte Durchgangslager, etwa Unna-Massen in Nordrhein-Westfalen, sogenannte Notunterkünfte Ost und Wohnlager. Insbesondere die beiden letztgenannten Einrichtungen dienten dazu, jene provisorisch zu beherbergen, die die Länder nach dem vereinbarten Verteilungsschlüssel aufzunehmen verpflichtet waren, denen sie aber in Zeiten akuten Wohnungsmangels noch keinen Wohnraum zur Verfügung stellen konnten. Über 80.000 Lagerbewohner wohnten schon seit 1946 oder früher in einer provisorischen Unterkunft, die Mehrzahl aber mindestens zwei Jahre.
Mit ihren vielfältigen Funktionen waren die Lager immer auch Kristallisationspunkte kontroverser Debatten und Aushandlungsprozesse. In Friedland etwa waren Fragen von Zugehörigkeit, Heimat und Identität von großer Bedeutung. Hier registrierten die Behörden zunächst jene Flüchtlinge und Vertriebenen, die in Folge des deutschen Rassen- und Vernichtungskrieges ihre bisherige Heimat im östlichen Europa verlassen mussten und nun in das besetzte Deutschland kamen. Nach dem Ende der Vertreibungsmaßnahmen nahm Friedland dann vor allem Aussiedler aus Polen auf, die sich von den Flüchtlingen und Vertriebenen - vereinfacht gesagt - durch ihre verzögerte und zumindest dem Anspruch nach regulierte, internationalen Abkommen folgende Ausreise aus Ost- und Ostmitteleuropa unterschieden. Lager wie Friedland waren damit die ersten Orte, in denen geklärt werden musste, welche Rechte die Bundesrepublik jenen zubilligte, die sie formal als Deutsche oder deutsche Volkszugehörige aufnahm, welche gesellschaftliche Rolle sie ihnen zuwies und wie sich diejenigen verhalten sollten, die ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden wollten.
War in Friedland eine Zurückweisung sehr selten, eine Überprüfung der Ankommenden aber gesellschaftlich von großer Bedeutung, kam einem Lager wie Uelzen in weit stärkerem Maße eine Auswahlfunktion zu. Hier mussten diejenigen, die aus der DDR flohen, ein Notaufnahmeverfahren durchlaufen, das gerade in den ersten Nachkriegsjahren für viele Antragsteller mit einer Ablehnung endete.
Sittlichkeitsdiskurse und Lager. Die Debatte um die Abwerbungen in Westertimke
Die 1952 eingerichteten Jugendauffanglager Sandbostel und Westertimke nahmen alleinstehende männliche und weibliche Jugendliche auf, die zumeist über Berlin aus der DDR geflohen waren.
Zunächst waren Sandbostel und Westertimke keine Orte, die in einer breiten Öffentlichkeit größere Beachtung fanden. Dies änderte sich im Sommer 1958, als der NDR-Hörfunk berichtete, Jugendliche würden im Umfeld der Lager in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse abgeworben. Diese Missstände, denen die Behörden nur mit Schwierigkeiten entgegentreten könnten, bedeuteten eine "Gefährdung" der Jungen und Mädchen, weil sie mittelfristig in die Jugendkriminalität abzugleiten drohten.
Zumeist konzentrierten sich die Zeitungen aber auf das Mädchenlager Westertimke und beschrieben in einem oftmals skandalisierenden Ton, wie gerade an den Wochenenden unzählige zwielichtige Gestalten das Mädchenlager ansteuerten. Einige von ihnen suchten nach "amourösen Abenteuern", andere waren "Mädchenfänger" oder "[ü]ble Schlepper".
Die Vorstellung der Abwerbung junger Frauen in Bordelle und bordellartige Etablissements verfing, ob imaginiert oder aus tatsächlichen Missständen erwachsen, zu einer Zeit, in der der seit dem späten 19. Jahrhundert diskutierte, mit vielen Phantasien aufgeladene "Mädchenhandel" öffentlich immer wieder thematisiert wurde.
Die aufgeregten Presseberichte verfehlten ihre Wirkung nicht. Während sie bei manchen Werbern und Neugierigen offenbar erst das Interesse an Westertimke weckten, alarmierten sie auch die Politik.
Die Wahrnehmung junger Frauen in Westertimke
Die zweifellos dramatisierten Missstände im Umfeld der Lager repräsentierten für manche Zeitgenossen zunächst die negativen Seiten des Wirtschaftswunders. So bezeichnete das katholische Boulevardwochenblatt Neue Bildpost die Abwerber als "Hyänen des Wirtschaftswunders".
Im Falle Westertimkes zeigte die Berichterstattung nachdrücklich, wie sehr der transitorische Zustand der Betreuten mit Fragen der Sexualmoral verbunden war. In den Fokus solcher Debatten gerieten Lager nicht zuletzt, weil sie mit ihrer fluktuierenden Belegung außerhalb des klassischen Sozialgefüges standen und ihre Bewohner oder die dort Betreuten von Teilen der Gesellschaft mitunter als Gefahr für Moral, Sitte und Anstand von der Gesellschaft aufgefasst wurden.
Gerade dieses zweite Bild war in den späten 1950er Jahren in den Köpfen niedersächsischer Verwaltungsbeamter und Fürsorger noch fest verankert. Gegenüber dem Bundesvertriebenenministerium erklärte der Leiter von Sandbostel und Westertimke, die Zahl derjenigen, die die Lager eigenmächtig verließen und nicht zurückkehrten, sei trotz gewisser jahreszeitlicher Schwankungen mit durchschnittlich etwa drei Prozent konstant geblieben. Er müsse aber darauf hinweisen, dass "ein grosser Teil der Jugendlichen, die sich überhaupt abwerben lassen, früher oder später aus den Wohn- und Arbeitsplätzen […] ausbrechen würden, weil es sich hier zumeist um asoziale Typen oder sozialpädagogische Fälle handelt." Der Lagerleitung bereite daher deren Abwerbung "keine besonders grossen Sorgen". Bedauerlich seien die Zustände hingegen wegen des Eindrucks, den diejenigen gewannen, die sich nicht abwerben ließen.
Für die Lagerleitung waren aber weit mehr als drei Prozent der Jugendlichen problematisch. Der Lagerleiter beklagte während einer Fachbesprechung im August 1959, die "Qualität der Jugendlichen, besonders der weiblichen Jugendlichen, [sei] stark abgesunken", eine Formulierung, die ganz in der Tradition völkischen und sozialhygienischen Gedankenguts stand. Laut Lagerleiter verbrächten ein Fünftel der in Westertimke untergebrachten Mädchen "trotz aller nur erdenklichen fürsorgerischen Maßnahmen" die Wochenendnächte außerhalb des Lagers.
Derartige Vorbehalte hatten ganz praktische Auswirkungen auf die in Sandbostel und Westertimke betreuten Jugendlichen. Zwei Jahre vor der Debatte erhob das hessische Innenministerium beim niedersächsischen Vertriebenenministerium Einspruch gegen die in Westertimke niedergeschriebene Bewertung einer jungen Frau, die in ein Durchgangslager des Bundeslandes weitergeleitet worden war. Die Fürsorger in Westertimke hätten in den Akten notiert, "[d]as Mädchen sei "ein unsympathischer, einfacher Typ", habe "etwas Hastiges und Nervöses an sich" und neige "zu Freundschaften mit unangenehmen Elementen."
Die Notenvergabe verteidigte die Lagerleitung nachdrücklich. Sie sei gerade auch ein Wunsch der Fürsorger in den nachgelagerten Heimen, die dankbar seien für diese "wertvolle Unterstützung in ihrem Bestreben, den Jugendlichen rechtzeitig und durchgreifend zu helfen."
Dass aber nicht nur ein kleiner Teil der Ankommenden kritisch beäugt wurde, zeigt sich an den ärztlichen Untersuchungen in den Lagern. Bis 1959 wurden alle Jugendlichen in Westertimke und Sandbostel auf "ansteckende Krankheiten, insbesondere auf Geschlechtskrankheiten" untersucht.
Fazit: Lager und Diskurse in den 1950er Jahren
In den 1950er Jahren waren Lager auf drei Ebenen bedeutsam für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Sie waren erstens funktionale Einrichtungen, um Menschen in der Bundesrepublik aufzunehmen und notwendige Formalia zu erledigen. Gegebenenfalls wurden die Aufgenommenen für längere, mitunter auf unabsehbare Zeit in Lagern oder lagerähnlichen Unterkünften beherbergt. Zweitens konnten Lager zum Gegenstand (erinnerungs)politischer, moralischer und gesellschaftlicher Debatten und Aushandlungsprozesse werden. Im Fall Westertimkes entpuppte sich die Aufregung um die Missstände als kurzlebige Mediendebatte. Das tatsächlich vorhandene Problem der Abwerbung schien nicht fortzubestehen. Als 1959, ein Jahr nach dem Skandal, die Verlegung der Jugendlager nach Uelzen und Friedland beschlossen wurde, war die Frage der Abwerbung von Jugendlichen kein Thema mehr. Gleichwohl offenbarte der Fall Westertimke, wie die Gesellschaft mit jenen umging und jene wahrnahm, die in den 1950er Jahren über Durchgangslager in die Bundesrepublik kamen.
Drittens schließlich verweisen die Debatten auf die weitergehenden Aufgaben der Lager. So war die vielfach beschworene Gefährdung stets doppeldeutig. Der Begriff konnte sich zum einen auf die sittlichen und emotionalen Gefahren beziehen, denen die Jugendlichen durch die Gesellschaft ausgesetzt waren, zum anderen aber auch die Bedrohung der moralischen und gesundheitlichen Integrität der Gesellschaft durch verwahrloste Jugendliche meinen, insbesondere der - oft so wahrgenommenen - sexuell verworfenen jungen Frauen. Indem die Jugendauffanglager Gegenstand dieses Moraldiskurses wurden und mit der Erwartung konfrontiert wurden, für eine entsprechende Betreuung der Jugendlichen zu sorgen, kam diesen Einrichtungen eine Aufgabe zu, die nicht ihrer Struktur entsprach. Die an sie gestellten Anforderungen, aber auch das Selbstverständnis der dort tätigen Akteure erinnerten viel eher an Erziehungsheime. Auch wenn die Jugendauffanglager deren Funktionen nicht übernehmen konnten, prägten sie doch in gewisser Weise mit, welche Erwartungen die Gesellschaft an die Ankommenden stellte und welche Rolle diese ihnen zudachte.
Eine moralische Beurteilung der in den Lagern Betreuten sowie des durch ihre Anwesenheit geschaffenen Umfeldes, beschränkte sich nicht nur auf junge Frauen in Westertimke. Die in der frühen Nachkriegszeit verbreitete Kriminalisierung der vielfach mit "Asozialen" assoziierten Lagerbewohner durch die Nachkriegsgesellschaft erwies sich als langlebig. Eine Ministerialrätin des Bundesvertriebenenministeriums erklärte noch 1960, "in sehr abgelegenen Lagern" Bayerns mit einer langen Unterbringungsdauer würden "die Menschen mit der Zeit asozial werden."
Zitierweise: Sascha Schießl, Zwischen Aufnahme, Kontrolle und Gefährdung. "Mädchenhandel" und Sittlichkeitsdiskurse im Umfeld des Jugendauffanglagers Westertimke. In: Deutschland Archiv Online, 10.05.2013, Permalink: http://www.bpb.de/159420