Sammelrezension zu:
Ruth Hoffmann: Stasi-Kinder. Aufgewachsen im Überwachungsstaat, Berlin: Propyläen 2012, 317 S., € 19,90, ISBN: 9783549074107.
Udo Grashoff: Schwarzwohnen. Die Unterwanderungen der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR (Berichte und Studien; 59), Göttingen: V&R unipress 2011, 200 S., € 19,90, ISBN: 9783899718263.
Dieter Bub: Das Honecker-Attentat und andere Storys. Als "Stern"-Reporter in der DDR, Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag 2012, 344 S., € 14,95, ISBN 9783898129428.
Dietmar Riemann: Schöne Grüße aus der DDR. Fotografien 1975–1989. Mit Texten von Roman Grafe, Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag 2012, 128 S., € 24,95, ISBN: 9783898129435.
Susanne Buddenberg, Thomas Henseler: Berlin – Geteilte Stadt. Zeitgeschichten, Berlin: Avant 2012, 98 S., € 14,95, ISBN: 9783939080701.
Stasi-Kinder
In nahezu allen Familien gibt es Konflikte zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern. In der Regel gefährden sie den familiären Zusammenhalt und die Liebe zwischen Söhnen und Töchtern zu ihren Vätern und Müttern nicht. Die Hamburger Journalistin Ruth Hoffmann will mit ihrem Buch, dem – wie sie schreibt – sechs Jahre dauernde Recherchen zugrunde liegen, darauf aufmerksam machen, dass dies für die Familien von Offizieren des Staatssicherheitsdienstes der DDR nicht gilt. Sie hat in Interviews mit "Stasi-Kindern" und durch das Studium einschlägiger "Stasi-Akten" herausgefunden, dass ganz normale Familienkonflikte durch die "Härte und Unerbittlichkeit des 'Apparates', der auf familiäre Bindungen keine Rücksicht nahm", zur nachhaltigen Entfremdung vor allem zwischen Vätern und Kindern, ja zu regelrechten Familiendramen geführt haben.
Die Autorin spricht von "Rahmenbedingungen", die das Familienleben dieser Stasi-Familien beherrschten: Die Offiziere unterlagen in ihrem durch lebenslang geltenden Eid bekräftigten direkten Dienst- und Befehlsverhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit strengen Vorschriften, die selbst ihre privaten Lebensbereiche regelten. Sie hatten zudem innerhalb ihrer Familie nicht nur ihre Dienststellung und ihre Tätigkeit zu verschweigen, sie waren auch verpflichtet, ihre Familie ideologisch und gesellschaftlich auf Parteilinie zu halten, ihre Kinder entsprechend zu erziehen und keine Abweichungen von den marxistisch-leninistischen Normen zuzulassen. Besondere familiäre Vorkommnisse – nicht zuletzt Westkontakte – waren zu melden. Selbst die innersten familiären Beziehungen wurden vom "Apparat" überwacht. Jederzeit konnten die Väter zur Rechenschaft gezogen werden, wenn durch abweichendes Verhalten der Kinder Zweifel an ihrer eigenen ideologischen Festigkeit und Linientreue aufkamen, was zu beruflichen Nachteilen des Betreffenden führen konnte.
Die Zahl der heute längst erwachsenen "Stasi-Kinder" wird auf mindestens eine halbe Million geschätzt. Kein Zweifel, dass die große Mehrheit von ihnen – auch wenn ihre Väter und Mütter ihr gesamtes Privatleben dem MfS in die Hand gegeben haben – ohne besondere Probleme aufgewachsen ist. Und manchem Stasi-Offizier wird es wohl auch gelungen sein, sich im Zweifel eher für die Familie und die Kinder zu entscheiden als für die Ansprüche seines Dienstherrn. Ruth Hoffmann, die manche Absagen erhalten hat und nur 20 ausführliche Interviews führen konnte, beschreibt die Lebensgeschichten von 13 Kindern aus "Stasi-Familien" (darunter auch Familien von DDR-Spionen im Westen), in denen es durch die "Rahmenbedingungen" zu erheblichen Schädigungen der Kinder gekommen ist. Die Namen von fünf dieser Kinder sind anonymisiert. Das ist wohl auch dadurch zu erklären, dass sie noch heute Nachteile befürchten, wenn sie öffentlich über ihre Herkunft berichten.
Die Autorin beklagt, dass es wenig Material über Stasi-Kinder gebe, "keine Bücher, keine soziologischen oder psychologischen Untersuchungen, nicht einmal ein Forum im Internet". Während ehemalige MfS-Angehörige längst selbstbewusst ihre Sicht der Vergangenheit schilderten, "schweigen ihre Söhne und Töchter". So pauschal stimmt das freilich nicht. Schließlich befinden sich unter den von Hoffmann veröffentlichten Lebensgeschichten fünf von betroffenen Töchtern und Söhnen, die bereits ausführliche Berichte über ihre Schicksale vorgelegt haben: Nicole Glocke und Edina Stiller (Verratene Kinder. Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland", 2003), Pierre Boom (Der fremde Vater. Der Sohn des Kanzlerspions Guillaume erinnert sich, 2005), Thomas Raufeisen (Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei. Eine deutsche Tragödie, 2010) und Vera Lengsfeld (Ich wollte frei sein. Die Mauer, die Stasi, die Revolution, 2012). Ihre nacherzählten und durch Interviews ergänzten Lebensgeschichten füllen in Hoffmanns Buch mehr als 110 Seiten.
1999 sei ihr bewusst geworden, dass "ich etwas mit mir herumschleppe, mit dem ich mich auseinandersetzen muss, bevor es mich erdrückt", sagt die promovierte Historikerin Nicole Glocke der Autorin im Interview. Der damals neun Jahre alten Tochter eines leitenden Angestellten bei RWE in Bochum brach im Januar 1979 eine Welt zusammen. Ihr Vater, der von dem Stasi-Oberleutnant Werner Stiller nach dessen Flucht in den Westen als DDR-Spion enttarnt worden war, wurde verhaftet und verurteilt und verweigerte seiner Tochter nach seiner Haftentlassung und Rückkehr zur Familie "verschlossen und unnahbar" eine umfassende Erklärung über seinen Verrat. 20 Jahre später macht Nicole Glocke sich an die Aufarbeitung, trifft den Überläufer Werner Stiller und bekommt Kontakt zu seiner Tochter Edina, die im Januar 1974 ihren Vater "verlor"; erst 1989 hatte Edina Stiller (heute verheiratete Gade) erfahren, "dass er mein Land verraten hat". Das Buch, in dem beide ihre Lebensgeschichten berichten, bewog Markus Wolf, den langjährigen Chef der Hauptabteilung Aufklärung und stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, mit den beiden "Stasi-Kindern" Kontakt aufzunehmen. Hoffmann berichtet das zwar, hat es aber offenbar versäumt, Glocke nach Zahl und Inhalt ihrer Gespräche mit Wolf zu befragen, die sie bis zu dessen Tod mit ihm geführt hat.
Dennoch ist das journalistisch gut und spannend geschriebene Buch von Ruth Hoffmann ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung eines wichtigen Aspekts des zerstörenden Wirkens des Staatsicherheitsdienstes der DDR. Die zwischen die Darstellungen der Schicksale der "Stasi-Kinder" eingestreuten "Exkurse" liefern kurzgefasst die erforderlichen Informationen über den "Apparat", die "geschlossene Gesellschaft" seiner hauptamtlichen Mitarbeiter, die "überwachten Überwacher", Gehälter und Privilegien, den "Männerbund Stasi", die Stasi-Wohngebiete und nicht zuletzt über Liebe und Partnerschaft, denn "nichts ist privat" gewesen beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR.
Ruth Hoffmanns Buch und ihre Film-Dokumentation "Stasi-Kinder. Mein Vater war beim MfS" sollten weitere "verratene" Stasi-Kinder dazu bewegen, ihre Lebensschicksale, ihre Suche nach dem verlorenen und fremden Vater, die mit Versöhnung oder endgültigem Verlust endet, aufzuschreiben und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit zu leisten.
Schwarzwohnen
Udo Grashoff, Schwarzwohnen (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Udo Grashoff, Schwarzwohnen (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Einen weiteren ungewöhnlichen Einblick in das Leben in der DDR eröffnet Udo Grashoff mit seinem gründlich recherchierten Beitrag über das "Schwarzwohnen" in der DDR der Ära Honecker. Auch Grashoff stützt sich auf Interviews mit rund 40 Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben in Ost-Berlin, Halle, Jena, Leipzig und Rostock freimütig und ausführlich über ein Geschehen berichten, das sich vom Anfang der Siebziger- bis Ende der Achtzigerjahre weithin unbemerkt und verschwiegen von Presse, Rundfunk und Fernsehen im "Arbeiter-und-Bauern-Staat" ereignete: "Obgleich es nur bruchstückhafte Statistiken gibt, ist nachweisbar, dass tausende DDR-Bürger illegal in Wohnungen eingezogen sind". Kurioserweise war diese Art der Wohnungs- und vereinzelt auch Hausbesetzung eine Folge der von Erich Honecker bei seinem Amtsantritt 1971 versprochenen Lösung des Wohnungsproblems bis 1990 mittels eines ehrgeizigen, die Ressourcen der DDR aber überfordernden Wohnungsbauprogramms. Während zwei Millionen Neubauwohnungen entstanden, verfiel der seit Jahrzehnten vernachlässigte Altbaubestand immer mehr, da Mittel für die vorgesehene Sanierung oder für den Abriss nicht verfügbar waren. Es entstand ein umfangreicher Pool von "leergezogenen" Wohnungen, die vor allem junge Leute – nicht zuletzt Studenten und Künstler – anzogen, die in der Besetzung von "Bruchbuden" eine Möglichkeit sahen, sich unter den Bedingungen einer Diktatur Freiräume für ihre Selbstverwirklichung zu schaffen, wenn sie – im Gegensatz zu den westlichen Hausbesetzern – still und unauffällig handelten, um möglichst wenig mit dem Staatsapparat in Berührung zu kommen.
Wer in der DDR irgendwo wohnen wollte – und sei es auch im eigenen Haus – benötigte eine behördliche "Zuweisung". "Zur Gewährleistung des Grundrechts der Bürger auf Wohnraum und zur Sicherung einer gerechten Verteilung unterliegt der gesamte Wohnraum der staatlichen Lenkung … Voraussetzung für die Begründung eines Mietverhältnisses ist die Zuweisung des Wohnraums durch das zuständige Organ", hieß es im Zivilgesetzbuch der DDR von 1975. Eine umfangreiche "Verordnung über die Lenkung des Wohnraums", die erst 1990 außer Kraft trat, regelte die Einzelheiten. Wie der Anspruch des Staates, die staatliche Wohnraumlenkung zu beherrschen und zu kontrollieren, durch die "Wohnungsbesetzer" oder "Schwarzbewohner" auf vielfältige Weise unterlaufen wurde, zeigt Grashoff ebenso wie die Reaktionen – oder besser: Nichtreaktionen – der oft hilflosen Behörden. Schließlich lag es nicht im Interesse der Partei- und Staatsführung, Wohnungsbesetzungen durch rigoroses Vorgehen – bis hin zu möglichen Zwangsräumungen besetzter und meist unzumutbarer Wohnungen – in der breiten Öffentlichkeit bekannt werden zu lassen. Zudem galt der gesetzliche Grundsatz, dass eine Zwangsräumung nur dann erfolgen dürfe, "wenn dem Bürger zumutbarer Wohnraum zugewiesen wurde".
Wer sein Auge auf eine leerstehende Wohnung geworfen hatte, beantragte gar nicht erst eine "Zuweisung", da das für junge Alleinstehende als aussichtslos galt. In den meisten Fällen wurde unauffällig das Schloss aufgebrochen und ein neues eingebaut. Wenn einige Zeit alles ruhig geblieben war, zog er oder sie in die Wohnung ein, meldete sich wohl auch polizeilich an, da dies nicht von der Vorlage einer "Zuweisung" abhängig war, setzte die Wohnung notdürftig in Stand, brachte ein paar Einrichtungsgegenstände mit und zahlte zumeist die in der DDR spottbillige, weil auf dem Stand der Dreißigerjahre eingefrorene Miete, ohne einen Mietvertrag zu besitzen, auf das Konto des Vermieters ein. Das waren zu 39 Prozent die Kommunale Wohnungsverwaltung oder der VEB Gebäudewirtschaft, zu 16 Prozent Wohnungsbaugenossenschaften und zu 45 Prozent private Eigentümer sowie treuhänderische Wohnungsverwaltungen. Wenn die Versorgung mit Elektrizität und Wasser noch funktionierte, zahlten viele der illegalen Bewohner die anteiligen Kosten.
Die Volkspolizei veranstaltete keine gezielte Suche nach illegal bezogenen Wohnungen, und die Staatssicherheit interessierte sich nicht für das "Schwarzwohnen". Wenn Repressionen der Sicherheitskräfte stattfanden, richteten sie sich in der Regel gegen als "staatsfeindlich" eingestufte Aktivitäten der Bewohner, wie Zusammenkünfte, Ausstellungen oder Lesungen. Die mit der Wohnraumlenkung beauftragten Behörden fahndeten – schon aus Personalmangel – nicht systematisch nach besetzten Wohnungen. Wenn sie Wohnungsbesetzer entdeckten, konnten sie Ordnungsstrafen zwischen 10 und 500 Mark aussprechen oder auch die Räumung der Wohnung anordnen. In vielen Fällen wurde jedoch eine nachträgliche Zuweisung für die besetzte Wohnung erteilt, sofern eine Ordnungsstrafe gezahlt worden war.
Eine derjenigen, die in der DDR eine Wohnung illegal bezogen hatten, war übrigens Angela Merkel, die heutige Bundeskanzlerin, nachdem sie sich 1981 von ihrem ersten Ehemann getrennt hatte. Dazu Grashoff unter Hinweis auf Äußerungen Merkels: "In dieser Situation hatte sie mit Hilfe von Kollegen vom Zentralinstitut für Physikalische Chemie eine leer stehende, heruntergekommene Wohnung in der Templiner Straße im Prenzlauer Berg aufgebrochen und illegal bezogen. Als angekündigt wurde, dass das Haus saniert würde, bekamen alle Mieter, ohne nach der Zuweisung zu fragen, eine neue Wohnung. Auf diese Weise erhielt Angela Merkel nicht nur eine legale Wohnung, ihre Wohnsituation verbesserte sich sogar: Die neue Wohnung in einem Hinterhaus in der Schönhauser Allee hatte eine Gasheizung."
Als "Stern"-Reporter in der DDR
Dieter Bub, Das Honecker-Attentat und andere Storys (© Mitteldeutscher Verlag)
Dieter Bub, Das Honecker-Attentat und andere Storys (© Mitteldeutscher Verlag)
Einen ganz anderen – leider recht verwirrenden – Blick auf die DDR wirft Dieter Bub. Von den seit 1974 in der DDR ständig akkreditierten Korrespondenten aus der Bundesrepublik wurden im Lauf der Jahre vom "Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA)" insgesamt vier aus der DDR ausgewiesen: Jörg R. Mettke ("Der Spiegel") im Dezember 1975, Lothar Loewe (ARD) im Dezember 1976, Peter van Loyen (ZDF) im Mai 1979 und eben Dieter Bub ("Stern") im Januar 1983. In den drei ersten Fällen haben sich die akkreditierten Kollegen mit den Ausgewiesenen solidarisch erklärt und beim MfAA protestiert. Nur im Fall Bub – seit April 1979 in der DDR akkreditiert – geschah dies nicht, da er gegen ein Grundgesetz des Journalismus verstoßen hatte: "Weil dieser Kollege, der eine ziemlich reißerische Story veröffentlicht hatte, seine Informanten preisgegeben hat. Und das war für uns der Grund, nun nicht mit ihm solidarisch zu sein", sagte der damalige Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor der Enquetekommission des Bundestages zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur". Bub hatte damals in der Hamburger Zeitschrift "Stern" über einen angeblichen Attentatsversuch auf Honecker berichtet.
Sein jetzt erschienenes Buch "Das Honecker-Attentat und andere Storys" sei keine Reportage, sondern "Erzählung und Erinnerung, Realität, Reflexion und Fiktion", schreibt Dieter Bub. Er macht es dem Leser schwer zu entscheiden, was in dem Buch dem tatsächlichen Geschehen entspricht, also Fakten schildert und was Erfindungen und Ausschmückungen des Autors sind. Zusätzlich verwirrend wird das Ganze dadurch, dass Bub sich in seinen "Storys" hinter dem Namen "Dieter Müller" verbirgt. Dazu schreibt er: "Dieter Bub verwendet in seinem Buch den Namen Dieter Müller (um auch Fiction-Passagen einfügen zu können), unter dem er bis 1956 vor seiner Flucht aus der DDR in Halle gelebt hatte. Für die Behörden der DDR war er, bevor seine Identität von der Staatssicherheit entdeckt wurde, nur unter dem Namen Bub bekannt."
"Müller" schildert am Anfang Gespräche in der Chefredaktion des "Stern", die ihn als Korrespondenten nach Ost-Berlin schicken will. Dabei zitiert er den Chefredakteur Peter Koch in wörtlicher Rede: "Sie müssen die Geschichten finden, ohne Rücksicht … Ohne Rücksicht auf Vorschriften … Sie können über alles berichten – außer über langweilige Verlautbarungen." Wenn der Autor über seine offizielle Akkreditierung beim MfAA und Gespräche mit den Mitarbeitern der Abteilung Journalistische Beziehungen berichtet, die für die Korrespondenten zuständig waren und die er mit Pseudonymen belegt, und es auch nicht lassen kann, seine Vorstellung vom Leben dieser Mitarbeiter, ja sogar Träume zu schildern, dann fragt man sich schon: Was ist wahr und was erfunden? Und das erst recht, wenn von höheren Funktionären bis hin zu Stasi-Minister Erich Mielke – die er alle beim richtigen Namen nennt – interne Gespräche über "Müller" und Überlegungen, was mit ihm zu geschehen habe, wiedergegeben werden. Was steht denn nun wirklich in den Stasi-Akten Bubs, wenn er daraus Stellen zitiert, in denen von "Müller" die Rede ist? Gemeinhin tauchen in solchen Akten nicht die Klarnamen, sondern die vom Ministerium für Staatssicherheit (Hauptabteilung Spionageabwehr II/13) gebrauchten Tarnnamen für die Bespitzelten auf. Und Bubs Tarnname bei der Stasi war nicht "Müller", sondern "Wabe". Schließlich die Besuche bei Robert Havemann und Rainer Eppelmann sowie die Gespräche "Müllers" mit ihnen? Sind auch hier Fiction-Passagen eingebaut?
Das Honecker-Attentat, das im Titel auftaucht, wird im Buch von Dieter Bub/"Müller" auf seinen wahren Kern zurückgeführt: "Ein betrunkener Ofensetzer, abgewiesen von seiner Freundin, rast außer sich vor Wut auf die Fernstraße, gerät in die Fahrzeugkolonne, schießt um sich und tötet sich dann selbst." Dieter Bub schreibt: "Müller fährt nach Hamburg, liefert seinen Bericht ab, wird von einem Chauffeur nach Berlin zurückgebracht … In seiner Abwesenheit wird aus der Reportage über den Ofensetzer [Paul] Eßling und seine Verzweiflungsaktion das 'Attentat auf Honecker'. Der Chefredakteur [Peter Koch] streicht alle Passagen, in denen Müller den labilen Charakter des Handwerkers und seine privaten Probleme schildert. Nichts von seinem Alkoholkonsum … Eßling wird zum Gegner der DDR, erfüllt von Hass auf das Leben der Bonzen in Staats- und Parteiführung. Koch will kein Psychogramm, keine mildernden Umstände. Dass da einer betrunken in einer privaten Lebenskrise durchgedreht ist, passt nicht ins Bild, das Koch braucht. Koch will mehr. Den Aufmacher. Die Schlagzeile. Den Erfolg. Der Zwischenfall von Klosterfelde wird zur Titelstory mit dem Bild Honeckers im Fadenkreuz, daneben ein Foto des Ofensetzers." Der "Erfolg" dieser "Titelstory", die Bub wohl nicht verhindern und von der er sich auch nicht öffentlich protestierend distanzieren konnte oder wollte: "Eine Steigerung der Auflage um 20.000 Exemplare. Das bedeutet eine dreiviertel Million Mehreinnahmen – und weltweite Aufmerksamkeit."
"Zu den wichtigsten Ereignissen der Zeit in der DDR gehörte für ihn die Begegnung mit einer Frau, die nicht nur zu seiner Freundin, sondern auch zu einer wichtigen Informantin wurde und viele Bekanntschaften ermöglichte. Mit dieser Frau lebt er heute noch zusammen", schreibt der Autor. Seine Liebesgeschichte nimmt denn auch einen nicht geringen Teil des Buches ein. Dieter Bub hat sich und seinen Lesern mit diesem Buch sicher keinen Gefallen getan. Wäre er doch nur ohne diese "Müller"-Mystifikation bei seinen Reportagen geblieben – ohne Fiktionen und ohne seine überheblichen Selbstgefälligkeiten!
Schöne Grüße aus der DDR
Dietmar Riemann, Schöne Grüße aus der DDR (© Lehmstedt)
Dietmar Riemann, Schöne Grüße aus der DDR (© Lehmstedt)
Es sind faszinierende künstlerische Foto-Dokumente aus einer untergegangenen Welt, die Dietmar Riemann in seinem Bildband "Schöne Grüße aus der DDR" versammelt. Es gelingt dem an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig diplomierten Fotografen, den Alltag in der DDR der Honecker-Ära, den "real existierenden Sozialismus" mit rund 150 Aufnahmen so darzustellen, wie er wirklich war. Die "sprechenden" Fotografien – Erinnerungen für jene, die es erlebten – vermitteln den Nachgewachsenen eindrückliche Erkenntnisse jenseits von Schönfärberei ebenso wie von kenntnisloser Pauschalverdammung.
Die Fotografien aus den Jahren 1975–1989 sind in vier Kapitel gegliedert: "Wände – Mauern", "Menschen", "Stadt und Land", "Schaufenster". Man muss sie genau betrachten, um ihre Botschaft zu verstehen. Alle Fotos sind mit Ort und Jahr der Aufnahme versehen, Bildunterschriften fehlen. Stattdessen hat Roman Grafe kurze, prägnante Texte beigesteuert. Riemann (Jahrgang 1950) und Grafe (Jahrgang 1968) waren beide DDR-Bürger und haben nach langem Ringen mit den Behörden 1989 noch vor dem Mauerfall die DDR legal verlassen. Seine Fotos hatte Riemann mit Hilfe von Bekannten in den Westen geschafft. In der DDR wurde er bekannt, als er zusammen mit dem Schriftsteller Franz Fühmann 1985 das Buch "Was für eine Insel in was für einem Meer" über die Arbeit mit geistig Behinderten veröffentlichte, das großes Aufsehen erregte. In dem vorliegenden Band finden sich einige Fotos von dieser Arbeit mit Behinderten, die der "Arbeiter-und-Bauern-Staat" gern den beiden Kirchen überließ und entsprechende Verträge abschloss. Auch das gehörte zum Alltag in der Ära Honecker, wie die Mauer in Berlin, die Riemann aus verschiedenen Perspektiven von Osten fotografierte
Berlin – Geteilte Stadt
Susanne Buddenberg/Thomas Henseler, Berlin – Geteilte Stadt (© Avant)
Susanne Buddenberg/Thomas Henseler, Berlin – Geteilte Stadt (© Avant)
Kann man über die menschenverachtende Berliner Mauer auch in Bildergeschichten seriös und mit historischer Triftigkeit informieren? Susanne Buddenberg und Thomas Henseler beweisen mit ihren "Geschichts-Comics", dass dies gut gelingen kann, wenn wahre Geschichten mit Tatort-Rekonstruktionen am historischen Ort, basierend auf Auskünften beteiligter Zeitzeugen und einem gründlichen Akten- und Kartenstudium in präzisen, eindrucksvollen Zeichnungen und Texten geschildert werden.
In "Berlin – Geteilte Stadt" werden fünf "Zeitgeschichten" zur Mauer erzählt: "Wie der Mauerbau fast mein Abitur verhindert hätte"; die Arbeit der Rettungsstelle des Lazarus-Krankenhauses direkt an der Mauer und der Tod des fünften Maueropfers in der Bernauer Straße im September 1962; "Mit der Seilbahn über die Mauer", die erfolgreiche Flucht einer ganzen Familie 1965; das Schicksal eines jungen Ost-Berliners, bei dem 1987 insgesamt 179 Mauer-Fotos gefunden wurden, und "Mein 18. Geburtstag", an dem ein Ost-Berliner am 9. November 1989 den Mauerfall erlebte. Erklärende Texte vermitteln jeweils den historischen Hintergrund zu den Bildergeschichten. Die wissenschaftlich fundierten und künstlerisch anspruchsvollen Comics stellen eine eigene, ernstzunehmende Kategorie von Geschichtsschreibung dar und sind ein wirksames modernes Mittel zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, zur politischen Bildungsarbeit zuvörderst unter Jugendlichen in Schulen, Gedenk- und Begegnungsstätten.