Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat viele Facetten. Eine davon ist es, Unterlagen, die für das Verständnis von Funktionsweise und Wirkung der SED-Diktatur und ihres wichtigsten Herrschaftsinstruments, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), von Bedeutung sind, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) erfolgt dies durch die Erschließung von Akten, ihre Herausgabe an Betroffene, Wissenschaftler und Journalisten, die Publikation von Forschungsergebnissen – und nicht zuletzt die wissenschaftliche Edition von Quellen, die für die Geschichte des MfS und der DDR zentral sind: Seit 2009 gibt die Forschungsabteilung des BStU die Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS heraus, die von Mitte 1953 bis Ende 1989 unmittelbar an die Partei- und Staatsführung geliefert wurden. Diese befassen sich mit den unterschiedlichsten Themen und vermitteln auf diese Weise einen Eindruck von dem besonderen "Blick der Stasi" auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR.
Auch die ZAIG-Berichte des Jahres 1977 decken ein breites Spektrum ab, das von Republikfluchten, Grenzverletzungen und Asylanträgen über oppositionelle Aktivitäten und kirchenpolitische Ereignisse bis hin zu Unfällen in Volkseigenen Betrieben und Klagen der Bevölkerung über Versorgungsprobleme reicht.
Stephan Hermlin, Aufnahme von 1989 (© picture-alliance/AP, Elke Bruhn-Hoffmann)
Stephan Hermlin, Aufnahme von 1989 (© picture-alliance/AP, Elke Bruhn-Hoffmann)
Die Berichte der ZAIG zu den Folgen dieser Ereignisse gehören – neben den bereits vor längerer Zeit publizierten Dokumenten zu den Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband
Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl
Besonders intensiv befasste sich das MfS zum einen mit denjenigen Unterzeichnern der Protesterklärung, die in der Bevölkerung bekannt und beliebt waren, zum anderen mit Intellektuellen, die auch in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland ein hohes Ansehen genossen. Zur ersten Kategorie gehörten zweifellos die miteinander befreundeten Schauspieler
Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl in dem Fernsehfilm "Die Verschworenen" (DDR 1971) (© Bundesarchiv, Bild 183-K0911-030; ADN-ZB/DFF)
Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl in dem Fernsehfilm "Die Verschworenen" (DDR 1971) (© Bundesarchiv, Bild 183-K0911-030; ADN-ZB/DFF)
Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl. Krug war bekannt durch Filme wie "Fünf Patronenhülsen" und "Beschreibung eines Sommers" und außerdem als Sänger populär. Mueller-Stahl galt als einer der renommiertesten Film- und Theaterschauspieler der DDR. Bei ihm kam – aus Sicht des MfS – erschwerend hinzu, dass er in der erfolgreichen Fernsehserie "Das unsichtbare Visier" ausgerechnet den charmanten Stasi-Spion Achim Detjen verkörperte, der beim DDR-Fernsehpublikum zum "absolute[n] Sympathieträger" avanciert war.
Allein mit Manfred Krug befassen sich sieben Informationen: Anfang 1977 absolvierte Krug eine Konzerttournee durch die DDR. Die Termine waren bereits im Sommer des Vorjahres vereinbart, doch von den ursprünglich vorgesehenen 15 Konzerten nach dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung neun ersatzlos gestrichen worden.
Manfred Krug bei seiner Ankunft in West-Berlin nach Passieren des Grenzübergangs Bornholmer Straße auf der Berliner Bösebrücke, 20. Juni 1977 (© picture-alliance, Konrad Giehr/dpa)
Manfred Krug bei seiner Ankunft in West-Berlin nach Passieren des Grenzübergangs Bornholmer Straße auf der Berliner Bösebrücke, 20. Juni 1977 (© picture-alliance, Konrad Giehr/dpa)
Wenige Monate nach dem Ende der Tournee, am 19. April 1977, stellte Manfred Krug einen Antrag auf Ausreise aus der DDR.
Für die ZAIG war der Ausreiseantrag Anlass für einen 19-seitigen Bericht über den Schauspieler.
Armin Mueller-Stahl musste nach der Unterzeichnung der Protesterklärung gegen die Biermann-Ausbürgerung ähnliche Erfahrungen machen wie Krug. Seine berufliche Isolierung in dieser Zeit beschreibt er im Rückblick so: "Über Jahre hinweg hatte bei mir pausenlos das Telefon geklingelt. Nun plötzlich: Totenstille. Ich war beruflich von einem Tag zum anderen kaltgestellt."
Die anhand von Krug und Mueller-Stahl exemplifizierten Zuschreibungen – insbesondere die Geltungssucht und die materiellen Interessen – finden sich auch bei anderen Unterzeichnern der Protesterklärung wieder. So wird in einem umfangreichen Dossier über den Schriftsteller Stefan Heym erwähnt, dieser würde immer wieder betonen, dass er "einer der ganz wenigen Schriftsteller der DDR sei, die in der ganzen Welt gelesen werden".
Spaltung der DDR-Intellektuellen
Die Biermann-Ausbürgerung hatte die literarisch-künstlerische Intelligenz in zwei Lager gespalten. Das "sonst immer so einheitliche Feld der DDR-Kunstschaffenden", so Werner Mittenzwei, "war plötzlich aufgerissen zwischen Unterzeichnern und Gegenunterzeichnern."
Das MfS vollzog in seiner Berichterstattung diese Spaltung mit. Es zog eine klare Trennlinie zwischen "progressiven" und "negativen" Kräften – schon in den Überschriften der entsprechenden ZAIG-Berichte. Mehrere Informationen befassen sich mit Klagen "progressiver" Künstler über die Privilegien "negativer Kulturschaffender". So kritisierten unter anderen die Schriftsteller
Eva Strittmatter im Gespräch mit Kurt David und Willi Meinck (l.) am Rande des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR im Palast der Republik, 30. Mai 1978 (© Bundesarchiv, Bild 183-T0530-0423; Gabriele Senft/ADN-ZB)
Eva Strittmatter im Gespräch mit Kurt David und Willi Meinck (l.) am Rande des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR im Palast der Republik, 30. Mai 1978 (© Bundesarchiv, Bild 183-T0530-0423; Gabriele Senft/ADN-ZB)
Eva und Erwin Strittmatter, Wolfgang Kohlhaase und Günter Görlich die umfangreiche Reisetätigkeit "von als negativ bekannten Kunst- und Kulturschaffenden" in nichtsozialistische Staaten.
Die ZAIG beließ es hier nicht bei der Zusammenstellung der kritischen Äußerungen, sondern gab sogar konkrete Handlungsempfehlungen: Die Reisetätigkeit in nichtsozialistische Staaten solle "im kulturellen Bereich straffer organisiert", die "existierenden staatlichen Normative und Richtlinien" konsequent angewendet werden.
Hintergrund der Kritik der "progressiven" Schriftsteller an der angeblichen Bevorzugung ihrer "negativen" Kollegen war vermutlich nicht nur Neid auf deren Erfolg und ihre Reise-"Privilegien", sondern auch die Tatsache, dass sie selbst sich durch ihre Zustimmungserklärungen zur Biermann-Ausbürgerung und die offensiv geführten Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband ebenfalls exponiert hatten. Nun erwarteten sie von der Regierung, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Deutlich wird dieser Zusammenhang in einem Bericht, in dem es um die Vorbereitung des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR geht, der für Mai 1978 geplant war.
VIII. Schriftstellerkongress der DDR: Verabschiedung der scheidenden Vorsitzenden Anna Seghers durch Staats- und Parteichef Erich Honecker. Im Hintergrund Seghers' Nachfolger Hermann Kant, rechts mit Honeckers Blumenstrauß Erwin Strittmatter. 29. Mai 1978 (© Bundesarchiv, Bild 183-T0529-0027; Peter Koard/ADN-ZB)
VIII. Schriftstellerkongress der DDR: Verabschiedung der scheidenden Vorsitzenden Anna Seghers durch Staats- und Parteichef Erich Honecker. Im Hintergrund Seghers' Nachfolger Hermann Kant, rechts mit Honeckers Blumenstrauß Erwin Strittmatter. 29. Mai 1978 (© Bundesarchiv, Bild 183-T0529-0027; Peter Koard/ADN-ZB)
Auf Kritik stieß hierbei die Ankündigung der SED, die Auseinandersetzungen im Berliner Schriftstellerverband im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung auf dem Kongress nicht zu thematisieren. Die ZAIG berichtete, diese Absicht finde "kein Verständnis und führe bei progressiven Kräften unter den Schriftstellern zu Resignation und Verärgerung". Zudem würde mit einer Aussparung dieser Konflikte "die mühevolle und aufwendige Arbeit der Genossen, die sich mit den feindlich-negativen Kräften auseinandersetzten", disqualifiziert.
Die Parteiführung reagierte auf diese Meldung offenbar prompt. Zwei Wochen später berichtete die ZAIG über ein Gespräch Kurt Hagers mit einigen "progressiven" Schriftstellern, in dem er diesen zusicherte, dass auf dem Schriftstellerkongress "eine offene und parteiliche Auseinandersetzung mit negativen Auffassungen" möglich sein werde.
Die Konfliktlinien verliefen indes nicht nur zwischen den Unterzeichnern und den staatsnahen Schriftstellern. Auch innerhalb des Kreises der Unterzeichner kam es zu Misshelligkeiten, die freilich von der Parteiführung gezielt befördert wurden: So hatte die Berliner SED-Bezirksleitung die Strategie vorgegeben, die Petitionisten "nicht als Gruppe [zu] behandeln", sondern zu "differenzieren" und zu versuchen, "einige wieder an uns heranzuführen".
Auseinandersetzungen unter den Petitionisten gab es vor allem – aber nicht ausschließlich – zwischen denjenigen, die sich entschlossen hatten, in den Westen zu gehen, und denjenigen, die (zunächst) in der DDR blieben. Manfred Krug war zwar nicht der erste der Unterzeichner, der die DDR verließ, doch stellte sein Weggang aufgrund seiner Prominenz einen Einschnitt dar und wirkte vorbildhaft für andere. Günter Kunert notiert über die Atmosphäre auf Krugs Abschiedsfeier: "Man wird neidisch. Der hat's geschafft! Der hat's hinter sich! […] Und: Wer wird der nächste sein? Krug wirkt wie ein Schleusenwärter, der zum Abfließen bringt, was sich aufgestaut hat. Von diesem Abend an verstärkt sich die Exodusbereitschaft."
Der Regisseur Frank Beyer (l.) wird am 9. März 1984 vom stellvertretenden DDR-Kulturminister Horst Pohnert mit dem Heinrich-Greif-Preis ausgezeichnet (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0309-035; Heinz Hirndorf/ADN-ZB)
Der Regisseur Frank Beyer (l.) wird am 9. März 1984 vom stellvertretenden DDR-Kulturminister Horst Pohnert mit dem Heinrich-Greif-Preis ausgezeichnet (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0309-035; Heinz Hirndorf/ADN-ZB)
Frank Beyer, der mehrere Filme mit Manfred Krug gedreht hatte, war einem ZAIG-Bericht zufolge verärgert über dessen Ausreise, weil er anderen Filmschaffenden damit schade und die Aufführung bereits gedrehter Filme gefährde – darunter die seines eigenen, gerade fertig gestellten Streifens "Das Versteck".
Einflussnahmen aus dem Westen
Großen Raum nimmt in der Berichterstattung der ZAIG der – angebliche oder tatsächliche – Einfluss von Personen aus der Bundesrepublik ein. Ausführlich wird berichtet über Besuche von Günter Grass bei Unterzeichnern der Biermann-Petition in Ost-Berlin, die er aufgefordert habe, "aktiv für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR einzutreten". Dabei habe Grass "offen Thesen im Sinne des Sozialdemokratismus" vertreten.
Hannes Schwenger, Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller in der IG Druck und Papier Berlin, bei der Vorstellung des "Schutzkomitees für Freiheit und Sozialismus" am 10. Dezember 1976 in West-Berlin (© picture-alliance, Konrad Giehr/dpa)
Hannes Schwenger, Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller in der IG Druck und Papier Berlin, bei der Vorstellung des "Schutzkomitees für Freiheit und Sozialismus" am 10. Dezember 1976 in West-Berlin (© picture-alliance, Konrad Giehr/dpa)
Hannes Schwenger, der Vorsitzende des nach der Biermann-Ausbürgerung gegründeten "Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus", das sich für Schriftsteller in der DDR einsetzte, die aus politischen Gründen verfolgt und bedrängt wurden.
Besonders intensiv beobachtet wurden westdeutsche Journalisten, darunter die DDR-Korrespondenten des "Spiegel" bzw. des ZDF, Ulrich Schwarz und Dirk Sager. Dabei ging es darum, ihre Verbindungen zu "feindlich-negativen" Kräften aufzudecken – im Falle von Schwarz vor allem Personen aus dem persönlichen Umfeld von Wolf Biermann wie Eva-Maria Hagen und Sibylle Havemann, die sich bereits in der Bundesrepublik befanden, sowie der unter Hausarrest stehende Robert Havemann.
Die Berichterstatter konnten sich viele Vorgänge, die die kritischen Schriftsteller betrafen, offenbar gar nicht anders als vom "Westen" zentral und strategisch gesteuert vorstellen. Das führte mitunter zur Konstruktion von absurden Zusammenhängen: Als Reiner Kunze im Januar 1977 von der Stadt Salzburg der Georg-Trakl-Preis für Lyrik verliehen wurde, unterstellte das MfS, westdeutsche Kontaktpartner Kunzes wie die Münchner Ärztin Annemarie Doelderlein und der Redakteur des Hessischen Rundfunks Karl Corino hätten diese Entscheidung betrieben. Corino habe sogar versucht, über den Sekretär von Bundeskanzler Bruno Kreisky Einfluss auf die österreichische Regierung zu nehmen.
Beobachtung im Westen
Die ZAIG berichtete auch nach deren Übersiedlung in den Westen über die Künstler und Intellektuellen, über ihre private und berufliche Situation sowie über ihre Beziehungen untereinander. Besonders interessant ist ein 29-seitiges Dossier vom Oktober 1977 "über die Situation und soziale Lage ehemaliger Kulturschaffender der DDR, die in die BRD, nach Westberlin und andere kapitalistische Staaten übergesiedelt sind".
So wird über Eva-Maria Hagen berichtet, sie habe außer "gelegentlichen Auftritten mit Biermann […] keine anderen Erwerbsmöglichkeiten", über den Musiker
Klaus Jentzsch bei einem Konzert der Klaus-Renft-Combo 1975 in Leipzig (© picture-alliance, Peter Langer/dpa-ZB)
Klaus Jentzsch bei einem Konzert der Klaus-Renft-Combo 1975 in Leipzig (© picture-alliance, Peter Langer/dpa-ZB)
Klaus Jentzsch ("Renft") heißt es, er lebe in "bescheidenen Verhältnissen" und habe es noch nicht geschafft, eine neue Band aufzubauen. Die Sängerin Christiane Wunder-Ufholz lebe in West-Berlin in einer "Kleinst-Altbauwohnung" und beziehe Arbeitslosenunterstützung, und auch die Schriftsteller Sarah Kirsch und Bernd Jentzsch sowie der Komponist Tilo Medek hätten es bisher nicht geschafft, sich eine gesicherte Existenz aufzubauen. Als Kronzeugen für diese Lage wurden vor allem Berichte der westdeutschen Presse sowie Äußerungen von ebenfalls ausgereisten Künstler-Kollegen herangezogen. Im Hinblick auf die Ursachen für diese Probleme verweist der Bericht auf die "Bedingungen der kommerzialisierten Unterhaltungsbranche" in der Bundesrepublik, "fehlende[] Beziehungen" sowie auf unterschiedliche Geschmäcker in Ost und West. Beispielsweise werde in der bundesdeutschen Presse diskutiert, ob Sarah Kirschs literarischer Stil im Westen überhaupt gefragt sei.
Eberhard Cohrs im Programm des Berliner Friedrichstadtpalastes "Er macht det schon", 1968 (© Bundesarchiv, Bild 183-G0309-0017-001; Klaus Franke/ADN-ZB)
Eberhard Cohrs im Programm des Berliner Friedrichstadtpalastes "Er macht det schon", 1968 (© Bundesarchiv, Bild 183-G0309-0017-001; Klaus Franke/ADN-ZB)
Große Schwierigkeiten, im Showgeschäft der Bundesrepublik Fuß zu fassen, hatte der Komiker Eberhard Cohrs. Er hatte sich zwar nicht dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung angeschlossen, war aber im Februar 1977 von einem Gastspielaufenthalt in West-Berlin nicht zurückgekehrt, auch deshalb, weil ihm aufgrund seiner zunehmend kritischen Witze in der DDR ein "Mentor" zur Seite gestellt werden sollte, der seine Texte schrieb bzw. kontrollierte.
Auch auf sozialpsychologische Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung der Übersiedler in der Bundesrepublik geht der Bericht ein. Die Ehefrau von Wolf Biermann, Christine, wird mit den Worten zitiert, sie könne "mit der 'Kälte in den zwischenmenschlichen Beziehungen', der 'Selbstsucht'" in der westdeutschen Gesellschaft "nur schwer fertig werden" und habe "zunehmend 'Sehnsucht' nach ihrem in der DDR lebenden Vater sowie nach ihrem ehemaligen Umgangs- und Bekanntenkreis". Thomas Brasch und Katharina Thalbach fühlten sich dem Bericht zufolge "nach eigenen Äußerungen nach ihrer Ausreise nach Westberlin dort wie 'Fremdlinge'",
Thomas Brasch und Katharina Thalbach nach ihrer Ausreise aus der DDR bei der Ankunft auf dem Stuttgarter Flughafen, 14. Dezember 1976 (© picture-alliance, Dick)
Thomas Brasch und Katharina Thalbach nach ihrer Ausreise aus der DDR bei der Ankunft auf dem Stuttgarter Flughafen, 14. Dezember 1976 (© picture-alliance, Dick)
und die Kinder von Manfred Krug hätten "noch keine Beziehung und Bindung zu ihrer Umwelt gefunden".
Denjenigen Übersiedlern, um deren finanzielle und soziale Lage es besser bestellt war, wird im Gegenzug die Verfolgung vorrangig materieller Interessen und opportunistische Anpassungsfähigkeit unterstellt. Im Zentrum steht dabei Wolf Biermann selbst. Dieser habe sich zum "Sprachrohr der reaktionärsten Kräfte der BRD" gemacht, weshalb er in linken Kreisen der Bundesrepublik zunehmend auf Ablehnung stieße. Zudem stünde seine "immer deutlicher hervortretende[] Tendenz zur Kommerzialisierung" im Widerspruch zu seiner Selbstbezeichnung als "Kommunist". Seine Zustimmung für Auftritte mache er "grundsätzlich von der Höhe des Honorars abhängig". Manfred Krug unterstellte der Bericht ähnliche Absichten: Krug sei "eifrig bemüht, sich umfassende Kenntnisse über kommerzielle Praktiken im Unterhaltungsgewerbe der BRD anzueignen, um für sich die bestmöglichen Vertragsabschlüsse zu erzielen". Zudem habe er Rollenangebote bisher abgelehnt, "offensichtlich in dem Bestreben, damit Gagenangebote in die Höhe zu treiben". Der Schriftsteller Thomas Brasch wiederum habe es "bisher am besten verstanden […,] für seine finanziell-materielle Sicherstellung zu sorgen und sich ein Image als ernsthafter, produktiver Künstler zu schaffen", nicht zuletzt aufgrund seines "sicheren Umgang[s] mit in der DDR 'verpönten' westlichen Techniken und Stilmitteln" – ein kaum verhohlener Vorwurf des künstlerischen Opportunismus.
Die unterschiedlichen (Integrations-)Erfolge führten immer wieder zu Konflikten und Meinungsverschiedenheiten. Der Bericht enthält zahlreiche Äußerungen der Übersiedler übereinander, die von einer zunehmenden Entfremdung zeugen. So habe Sarah Kirsch in einem "internen Gespräch" über Thomas Brasch geäußert, "sie kenne ihn nicht wieder, sein ganzes Auftreten und Verhalten sei stark arriviert. Seine Wohnung sei hervorragend eingerichtet und alles zeuge von Geld und Besitz." Ein aus der DDR ausgereister Musiker kritisierte
Wolf Biermann und Nina Hagen in Rom, 13. Dezember 1976 (© picture-alliance/AP)
Wolf Biermann und Nina Hagen in Rom, 13. Dezember 1976 (© picture-alliance/AP)
Nina und Eva-Maria Hagen, die "dämlich quatschen" würden über ihre "angeblich erlangte Freiheit" und keinerlei Ambitionen zeigten, eine Arbeit aufzunehmen. "Von derartigen 'Idioten und Typen'", so heißt es weiter, "würden er und Manfred Krug sich distanzieren." Weiter heißt es, Wolf Biermann sei Manfred Krug gegenüber kurz nach dessen Umzug "arrogant, belehrend und anmaßend aufgetreten" und habe – in Anbetracht von Krugs improvisierter Wohnsituation – geäußert: "Ihr habt in der DDR lange genug wie die Fürsten gelebt, nun könnt Ihr mal sehen, wie es den einfachen Menschen geht." Umgekehrt kritisierte Krug Biermanns Verhalten, das "widersprüchlich" sei und nicht mit dem Inhalt seiner Lieder übereinstimme. Auch zwischen Wolf Biermann, Gerulf Pannach, Christian Kunert und Jürgen Fuchs kam es im Vorfeld eines gemeinsamen Konzertes in West-Berlin zum Streit. So hatte Pannach kritisiert, dass Biermann im Westen Lieder über die DDR singe, "die 'zwar in der DDR wegen ihrer politischen Brisanz wichtig gewesen, jetzt im Westen […] jedoch ohne Bedeutung'" seien, "da sie von der Mehrheit der Zuhörer nicht verstanden würden."
Christian Kunert, Gerulf Pannach, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs nach der Abschiebung Kunerts, Pannachs und Fuchs' nach West-Berlin, Ende August 1977 (© picture-alliance, dpa)
Christian Kunert, Gerulf Pannach, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs nach der Abschiebung Kunerts, Pannachs und Fuchs' nach West-Berlin, Ende August 1977 (© picture-alliance, dpa)
Kunert kritisierte die Einstellung Biermanns "als zu kommerziell gedacht"; es sei nicht richtig, sich als "Moralapostel" hinzustellen und Lieder über die DDR zu singen, "die nur eine kleine linke Elite versteht". Biermann reagierte darauf verärgert: "er lebe schon ein Jahr in der BRD, und er [Kunert] habe das das 'System' bis jetzt noch nicht kennengelernt; Pannach, Kunert und Fuchs sollten erst eine Weile in Westberlin oder in der BRD leben, und dann würden sie ihre Meinung auch ändern."
Schlussbetrachtung
Die Berichte bestätigen damit scheinbar sowohl die düsteren Prophezeiungen gegenüber den ausgereisten Künstlern – soziale und berufliche Anpassungsschwierigkeiten im Westen – als auch die negativen Vorurteile: Die Übersiedler seien in erster Linie von materiellen Motiven getrieben und ließen sich durch die westdeutsche Politik und die Medien gegen die DDR vereinnahmen. Auch die Kennzeichnung der westdeutschen Gesellschaft entspricht der der DDR-Propaganda: Soziale Kälte in zwischenmenschlichen Beziehungen, Egoismus, Konkurrenzdenken und Materialismus werden hervorgehoben. Ebenso vorurteilsbeladen fallen die Charakterisierungen der Unterzeichner der Protesterklärung in den übrigen Berichten aus: Fast sämtlich werden sie als egoistisch und von sich selbst eingenommen gekennzeichnet, als arrogant, materialistisch und als leicht zu beeinflussen.
Zudem hebt die ZAIG den Einfluss des Westens besonders hervor. Zahlreich sind die Berichte über Journalisten, Schriftsteller, Verlagsmitarbeiter und Literaturkritiker aus der Bundesrepublik, die die DDR-Kulturschaffenden angeblich in ihrer "negativen" Haltung bestärkten oder sie – nach der Übersiedlung – als Sprachrohr für Propaganda gegen die DDR benutzten. Hier zeigt sich das für nicht wenige ZAIG-Informationen typische Bestreben der Staatssicherheit, der Erwartungshaltung der Adressaten entgegenzukommen – was freilich dadurch erleichtert wurde, dass SED und MfS die gleiche ideologische Brille aufhatten.
Auf der anderen Seite wirkte die ZAIG-Berichterstattung immer wieder auch als Korrektiv der SED-Politik. Dies wird etwa deutlich im Zusammenhang mit den Klagen der "progressiven" Schriftsteller über ihre geringe Beachtung durch die Partei – wenig später wurden sie zu einem Gespräch mit Kurt Hager eingeladen. Auch legte das MfS der Parteiführung indirekt nahe, die Genehmigungspraxis für Westreisen kritischer Künstler und Literaten restriktiver zu handhaben. Dieser Vorschlag kam nicht nur den Wünschen der "progressiven Kulturschaffenden" entgegen, sondern entsprach auch dem grundsätzlichen Sicherheitsdenken der Geheimpolizei, demzufolge Westkontakte von DDR-Bürgern, die als politisch unzuverlässig galten, möglichst unterbunden werden sollten.