Einleitung
Am 27. September 1951 verkündete Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) vor dem Deutschen Bundestag einen 14 Punkte umfassenden Gesetzentwurf für gesamtdeutsche Wahlen als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands. "Der Spiegel" berichtete, dass dieser Entwurf nicht Produkt von Adenauers Courage oder eigener staatsmännischer Überlegungen sei, auch nicht auf das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) unter Jakob Kaiser (CDU) zurückginge, sondern auf Ausarbeitungen des Königsteiner Kreises, eines Zusammenschlusses von "aus der Ostzone geflüchtete[n] Experten aus Verwaltung, Justiz und Wirtschaft". Das Magazin zitierte das geschäftsführende Vorstandsmitglied dieser Vereinigung, Helmut Külz, mit der Aussage, dass Konrad Adenauer als "typischer Rheinländer keinen klaren Blick für die besondere Situation der Ostzone" habe und die Königsteiner die "Praktiken, aber auch die Schwächen der SED drüben" gut kennen würden.
Was war dieser Königsteiner Kreis für eine Organisation, deren Mitglieder sich bei Versuchen zur Wiedervereinigung gegen den Bundeskanzler als Experten positionierten? Worauf gründeten diese Leute ihren Anspruch, Experten für gesamtdeutsche Fragen zu sein? Welche Bedeutung hatten dabei ihre Kenntnisse über die Situation in der DDR?
Dieser Aufsatz behandelt den Königsteiner Kreis, die Vereinigung der Juristen, Volkswirte und Beamten aus der Sowjetischen Besatzungszone e.V. (KK), eine in der Forschung bislang kaum beachtete politikberatende Organisation von SBZ/DDR-Flüchtlingen.
Die Untersuchung steuert drei Beiträge zur Forschung über die frühe Bundesrepublik bei. Erstens wird durch Blick auf den KK eine Forschungslücke über eine weitere Organisation im "kaum übersehbare[n] Vorfeld"
Im Folgenden wird der Königsteiner Verein in seinen Grundstrukturen und seiner Arbeitsweise skizziert. Anschließend wird er ins Feld gesamtdeutscher Fragen eingeordnet. Zuletzt werden anhand zweier Fallbeispiele die Tätigkeiten der Vereinigung analysiert. Leitende Fragen sind: Was unternahm die Vereinigung? Wie begründete sie ihr Wirken? Wie argumentierte sie für ihren Status als Experten?
Der Königsteiner Kreis
Der KK war ein im Dezember 1949 in Königstein im Taunus gegründeter überparteilicher Zusammenschluss von Politikern, Juristen, Beamten und Volkswirten, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der frühen DDR in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik geflohen waren. Der Verein bestand, bis seine Mitgliederversammlung 1997 die Auflösung beschloss. Die Initiatoren und
Gründungsmitglieder des Königsteiner Kreises: vorn links Hermann Brill, hinten rechts Karl Magen, 17. Dezember 1947 (© Bundesarchiv, B 299 Bild-000263)
Gründungsmitglieder des Königsteiner Kreises: vorn links Hermann Brill, hinten rechts Karl Magen, 17. Dezember 1947 (© Bundesarchiv, B 299 Bild-000263)
Gründungsmitglieder waren hochrangige Politiker und Juristen der Länder Thüringen und Sachsen-Anhalt gewesen, unter ihnen Thüringens Regierungspräsident Hermann Brill (SPD), der Hallenser Oberbürgermeister Theodor Lieser (FDP), der zunächst parteilose Minister Helmut Külz (später SPD), Hans Lukaschek (später Bundesvertriebenenminister, CDU) und der Vizepräsident des Oberlandesgerichtes Thüringen Karl Magen (CDU).
Haus der Begegnung in Königstein (Ts.) (© Haus der Begegnung Betriebs-GmbH)
Haus der Begegnung in Königstein (Ts.) (© Haus der Begegnung Betriebs-GmbH)
Wesentliche Organe waren die jährlich in Königstein (Taunus) tagende Mitgliederversammlung und der mit der Führung der laufenden Geschäfte und der Außenvertretung betraute, paritätisch nach Parteienproporz besetzte Vorstand.
Die Finanzierung erfolgte hauptsächlich über Mittel des BMG.
Arbeitsweise
Die Vereinigung zeichnete sich weniger durch öffentliches Auftreten als vielmehr durch Arbeit in Ausschüssen aus. Zentrale Organe waren seit 1951 die Ausschüsse für Verfassung und seit 1954 für Recht sowie anfänglich noch ein Wirtschaftsausschuss. Die Gründung des Verfassungsausschusses (VA) ging wesentlich auf die initiative Bemühung des KK für eine gesamtdeutsche Wahl zurück. Wesentlich für diesen Ausschuss war seine enge Zusammenarbeit mit den Bundesressorts. Unter dem Vorsitz des Staats- und Völkerrechtsprofessors Werner Weber, Göttingen, zuvor Leipzig, war er eingebunden in die vom Gesamtdeutschen Ministerium gewünschte Arbeitsteilung seiner Vorfeldorganisationen und dabei zuständig für grundsätzliche, langfristige Themen verfassungsrechtlichen Charakters und leistete in den 1950er-Jahren wichtige Unterstützung für die noch nicht konsolidierten Bundesressorts.
Da das BMG von den Königsteinern in steigendem Maße Gutachten über die rechtliche Situation der Verwaltung in der DDR erwartete und die Geschäftsstelle des KK zunehmend mit Rechtsfragen beansprucht wurde, die sie allein ohne Vorklärung nicht mehr beantworten konnte, beschloss der Vorstand die Gründung des Rechtsausschusses (RA). Den Vorsitz übernahm der aus ostdeutscher Haft entlassene, vormalige Oberlandesgerichtspräsident von Sachsen-Anhalt, Hans Diedrich Schmidt.
Die Ausschüsse waren als "kleine, exklusive und arbeitsfähige" Gremien, die den KK von anderen Verbänden abheben würden
Akteure im Feld gesamtdeutscher Fragen
Der Königsteiner Kreis agierte im Feld gesamtdeutscher Fragen, das die Deutschland- und Wiedervereinigungspolitik sowie die Ostvertriebenen- und DDR-Flüchtlingsfrage umfasste. Neben dem Verein existierten hier viele weitere private und halbstaatliche Organisationen.
Ein wichtiger Bezugspunkt für die Gruppen war das Gesamtdeutsche Ministerium. Hierbei handelte es sich um ein völlig neuartiges Ressort, für das es in der jungen Bundesrepublik kein Vorbild gab. Anders als die klassischen Ministerien, deren Zuschnitt – und zum Teil auch Mitarbeiter – aus der NS-Zeit übernommen worden waren, konnte das neugegründete BMG nicht an administrative oder personelle Grundlagen früherer Zeiten anknüpfen. Es wäre allein kaum in der Lage gewesen, den selbstgestellten Aufgaben und Herausforderungen angemessen gerecht zu werden, denn dafür fehlten organisatorische Voraussetzungen und Material. Daher bediente sich der Staatssekretär Franz Thedieck (CDU) einer Aushilfskonstruktion. Er band die genannten und weitere Organisationen an das Ministerium, indem er sie finanziell förderte und sich auf ihre Arbeiten im Sinne einer "grauen Verwaltung" stützte. Hierbei kam es zu teilweise unüberschaubaren Kooperationsvereinbarungen.
Der Königsteiner Kreis und das BMG teilten die gleichen politischen Absichten, nämlich die Überwindung der deutschen Teilung. Nach Ansicht des mit dem Verein Kontakt haltenden BMG-Referatsleiters, Oberregierungsrats Georg Kunisch (CDU, als ehemaliger Finanzminister Sachsen-Anhalts ebenfalls DDR-Flüchtling), behandelte er "die gleichen Themen, mit denen sich die zuständigen Ministerien fast täglich zu befassen haben."
Der Anteil der ostdeutschen Heimatvertriebenen und politischen Flüchtlinge aus der SBZ/DDR im Personalbestand des BMG machte 1950 mit etwa 46 Prozent der Beamten einen hohen Anteil aus. Daneben kam es in der Person des Leiters der Abteilung II, Ministerialrat Karl Magen, als Gründungsmitglied und Mitvorsitzender des KK zu personellen Überschneidungen.
Der Experte als politischer Initiator:
Mitarbeit bei der Ausgestaltung gesamtdeutscher Wahlen 1950–1953
Der Hohe Kommissar der amerikanischen Besatzungsmacht, John J. McCloy, benannte am 28. Februar 1950 als Ziel der USA die politische Einigung Deutschlands auf der Grundlage freier gesamtdeutscher Wahlen. Die Bundesregierung nahm diese Anregung auf und schlug den vier Besatzungsmächten am 22. März vor, ein Wahlgesetz zu erlassen, auf dessen Basis unter internationaler Kontrolle eine verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt werden sollte.
Seit November 1950 sah sich die Bundesregierung verstärkt mit deutschlandpolitischen Initiativen der DDR konfrontiert. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl schlug einen Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat für die Vorbereitung der Durchführungsbedingungen einer gesamtdeutschen Wahl vor.
Bereits seit September 1950 hatten sich KK-Mitglied Werner Weber und Vorstandsmitglied Helmut Külz mit Möglichkeiten einer gesamtdeutschen Verfassungsgebung befasst.
Die erste Tagung des KK-Verfassungsausschusses am 27. und 28. Juli 1951 entwickelte eine Regelung für die Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen.
Herbert Wehner als Bundestagsabgeordneter 1953 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00011167; Flink)
Herbert Wehner als Bundestagsabgeordneter 1953 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00011167; Flink)
Herbert Wehner (SPD), teil.
Um die Initiative zur Wiedervereinigung voranzutreiben, bemühte sich der Vorstand um eine starke politische und öffentliche Resonanz.
Am 27. September 1951 zeigten Regierung und Opposition im Bundestag, mit Ausnahme der KPD, große Einigkeit und drängten auf die rasche Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen. Bundeskanzler Adenauer verkündete, dass die Regierung nun selber eine Wahlordnung vorlegen werde. Diese sollte im Wesentlichen auf 14 grundsätzlichen Punkten basieren.
Die Ausarbeitungen des KK hinterließen einen starken Eindruck. Die bundesdeutschen Stellen waren erleichtert, mit dem Entwurf etwas Konkretes in der Hand zu halten. Die Bundesregierung sah sich nun in der Lage, den Hohen Kommissaren bald eine Wahlordnung zuzuleiten.
Zur Konkretisierung von Bestimmungen zur internationalen Mitwirkung und Kontrollstatuten bei der Wahldurchführung, die im bald folgenden Wahlgesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen waren
BMG-Referent Kunisch dankte für die Zusammenarbeit. Die gewonnenen Ergebnisse trügen bei den Bundesressorts zu einem nun viel plastischeren Bild von der Möglichkeit einer gesamtdeutschen Wahl bei.
Der Experte als Interessenvertreter:
Wirken zum Bundesvertriebenengesetz 1950–1961
Für eine bundeseinheitlich geregelte Bewältigung des Zuzugs der Millionen von Heimatvertriebenen und des Zustroms von Flüchtlingen aus der DDR entstand das "Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge" (BVFG). Während des Gesetzgebungsprozesses zwischen 1950 und 1953 waren die Trennung von Flüchtlingen und Vertriebenen und die Größe des Berechtigtenkreises auf Anerkennung als Flüchtling stets umstritten. Eine große Rolle spielte dabei die Ausgestaltung des § 3, der die Definition des Sowjetzonenflüchtlings enthielt.
Auch der KK versuchte über mehrere Wege auf die Ausgestaltung des BVFG Einfluss zu nehmen. Neben den eigenen Mitgliedern fasste der Vorstand unter dem berufsständischen, sozialen Vereinsziel wie selbstverständlich bald auch die Belange aller Flüchtlinge.
Allerdings fand dieser Entwurf, der den Kreis der Berechtigten für die Anerkennung als DDR-Flüchtling erheblich erweitert hätte, indem er die Tatsache der Flucht und nicht deren Gründe als Anerkennungsgrundlage heranzog, keinen Niederschlag im Gesetz.
Nach Erlass des BVFG sahen die Königsteiner ihre Aufgabe darin, auf eine großzügige und einheitliche Auslegung des Gesetzes hinzuwirken, um für einen möglichst großen Kreis die Anerkennung als Flüchtlinge zu erreichen.
Bei den zuständigen Kommunalbehörden stockte die Ausweisausstellung, da sie tatsächlich Probleme bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaften hatten.
Die eigene DDR-Erfahrung war hier für den KK der zentrale Legitimationsgrund, gutachtlich zur Frage der Flüchtlingsanerkennung wirken zu können. Allerdings betonte er, sich nicht "als Interessenvertreter" zu beteiligen, sondern "als Sachverständige" aufzutreten, "um der Gesamtheit der Sowjetzonenflüchtlinge mit dieser Arbeitsweise am besten helfen" zu können.
Auch der Rechtsausschuss befasste sich bis 1962 auf fast jeder Sitzung mit Fragen der Rechtsprechung zum BVFG und geriet hier bisweilen heftig mit dem Vertriebenenministerium aneinander.
Schluss
Seine größte Bekanntheit erlangte der Königsteiner Kreis Anfang der 1950er-Jahre mit dem Wahlgesetzentwurf als einem wichtigen Bestandteil des heute weitgehend vergessenen Versuchs über gesamtdeutsche Wahlen die Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen. Seit den 1960er-Jahren verlor der Verein langsam an Bedeutung für die Bundesressorts. Gründe dafür waren der sinkende Mitgliederstand und das hohe Alter der meisten Mitglieder. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 blieb der erhoffte "nichtabreissende[…] Strom der Flüchtlinge aus der SBZ" aus und das Problem verschärfte sich weiter.
Der Status des KK als Organisation von Experten in seiner Hochphase beruhte auf einer Gemengelage von wissenschaftlich-theoretischen, berufspraktischen und erfahrungsbasierten Wissensbeständen. Beim Wahlgesetz berief sich der Verfassungsausschuss auf wissenschaftliche Ausarbeitungen, aber auch auf Erfahrungen aus der Verwaltungspraxis der KK-externen Mitarbeiter. Beim Bundesvertriebenengesetz verstand sich der Verein ausschließlich als Erfahrungsexperte. Er stützte sich sehr häufig und entschieden auf das eigene Wissen über die SBZ/DDR.
Mit Übergang in die 1970er-Jahre lässt sich beobachten, dass der KK stärker als zuvor mit Wissenschaftlichkeit argumentierte und diese auch mit ihm assoziiert wurde. Die Bedeutung der SBZ-Erfahrung erlebte in diesem Zusammenhang eine Transformation. Sie war nicht mehr primäres Argument für Handlungsanleitungen, sondern sollte im Sinne des zweiten Vereinsziels für wissenschaftliche Zwecke an nachfolgende Generationen weitervermittelt werden.
Der vorliegende Beitrag basiert auf der Magisterarbeit d. Vf., Universität zu Köln 2010 (Betreuer: Ralph Jessen).