Sammelrezension zu:
Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen: Wallstein 2012, 428 S., € 34,90, ISBN: 9783835310599.
Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur (BStU: Analysen und Dokumente; 34), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 250 S., € 16,95, ISBN: 9783525350454.
Clemens Vollnhals (Hg.): Jahre des Umbruchs. Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 43), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 406 S., € 59,95, IBSN: 9783525369197.
Tobias Hollitzer, Sven Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig. Bilder, Dokumente und Objekte, 2 Bde., Leipzig 2012, 816 S., € 39,90, ISBN: 9783865836472.
Armin Mitter: "Die Tragödie ist vorbei". Die Alliierten in Berlin 1989/90 (LStU Berlin: Schriftenreihe; 32), Berlin 2011, 125 S., € 1,40 (in Briefmarken an: LStU, Scharrenstr. 17, 10178 Berlin), ISBN: 9783934085374.
Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR, (HAIT: Berichte und Studien; 60), Göttingen: V&R unipress 2011, 248 S., € 20,90, ISBN: 9783899718812.
Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben: Texte von und über Ludwig Mehlhorn (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; 13), Leipzig: Ev. Verlagsanstalt, 2012, 297 S., € 13,80, IBSN: 9783374030118.
Nicole Glocke: Spontaneität war das Gebot der Stunde. Drei Abgeordnete der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer berichten, Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag 2012, 239 S., € 14,95, ISBN: 9783988128988.
1989 und die Rolle der Gewalt
Die ostmitteleuropäischen Revolutionsjahre von 1989 bis 1991 gehören zweifellos zum Kernbestand der historischen Erinnerung und Identität Europas. Diese Erkenntnis bricht sich jedoch nur mühsam Bahn, und so ist jeder Beitrag höchst begrüßenswert, der das Phänomen eines Zyklus von friedlichen, gegen die kommunistischen Diktaturen gerichteten Revolutionen, die Frage nach dem Wunder ihrer weitgehenden Gewaltlosigkeit aufgreift und das revolutionäre Geschehen in vergleichender Perspektive analysiert.
Dazu trägt ein von Martin Sabrow verantworteter Sammelband Erhebliches bei, der in deutscher und in internationaler Perspektive nach der Rolle der Gewalt in den 1989er-Revolutionen fragt. Hier ist die Antwort eindeutig: Auch diese Revolutionen waren mit Gewaltanwendung verbunden, außer in Rumänien dominierte diese jedoch nicht die Ereignisse.
Martin Sabrow wie auch andere Autoren bezeichnen den schließlichen Gewaltverzicht der Diktatoren und der Opposition als "Wunder von 1989", gleichzeitig setzen gerade hier wichtige Fragen an. Für die Entwicklung wird gerade bei Sabrow klar, dass die weit mehr als 70.000 Menschen am 9. Oktober 1989 auf den Straßen Leipzigs den revolutionären Durchbruch brachten. Dies erklärt sich jedoch nur vor dem Zusammenspiel von Ausreisern (Ausreisewilligen bzw. Ausreiseantragstellern), Demonstranten und Oppositionellen. Der Autor führt als vierte Kraft noch die Reformer innerhalb der SED an, doch war von deren Wirken im Herbst 1989 kaum etwas zu spüren. Überzeugender sind dagegen die Ausführungen über die innere Lähmung der SED-Führung und über die Ausstrahlung der christlichen Religion (etwa durch die Bausoldaten, deren Verhalten Holger Nehring beschreibt) besonders auf die Gruppen der Bürgerbewegung. Der Ruf "Keine Gewalt" entzog schließlich der SED die "kulturelle Hoheit" über den "legitimen Einsatz" von Waffen. Welche Rolle der "Anti-Chaos-Reflex" moderner arbeitsteiliger Gesellschaften spielte – wie etwa Andreas Wirsching oder Heinrich August Winkler meinen – wird noch präziser zu ergründen sein. Das gilt auch für die Bedeutung der "Entgewaltung" des 20. Jahrhunderts, die für Sabrow wesentlich für die Erklärung des Gewaltverzichts 1989 ist, und für die These, dass Menschenrechte zur Leitnorm des politischen Diskurses des Westens geworden seien.
Bemerkenswert sind weiterhin die Ausführungen Rüdiger Bergiens über die "Kapitulation" der SED-Funktionäre, denen das Motiv des "Klassenkampfes" abhanden gekommen war, Jens Giesekes Schilderung des "entkräfteten Tschekismus" und Heiner Bröckermanns Analyse des Verhältnisses der Nationalen Volksarmee zur Gewaltanwendung. Die drei Autoren sind sich dabei einig, dass – wenn es nicht zu einem schleichenden Prozess der Delegitimierung des kommunistischen Herrschaftsanspruchs gekommen wäre – die SED zweifellos die (bewaffneten) Kräfte gehabt hätte, die Revolution blutig und schnell niederzuwerfen. Die Fragen, ob sich daraus ein langwieriger Bürgerkrieg entwickelt und wie sich der Westen verhalten hätte, müssen offen bleiben.
Auch für Detlef Pollack ist die Frage der Friedfertigkeit in den Freiheitsrevolutionen von 1989 von zentraler Bedeutung. Allerdings sieht er die entscheidenden Verdienste in der DDR bei deren Machthabern und hält das Theorem der "politischen Spiritualität" für die Erklärung des Verhaltens der Demonstranten für überflüssig. Weiterhin beschäftigt sich Bernd Schäfer mit der SED und der "chinesischen Lösung" (also der Möglichkeit, die Proteste nach dem Vorbild Pekings vom Juni 1989 gewaltsam niederzuschlagen), Edward Hamelrath beschreibt Gewalteskalation und Sicherheitspartnerschaft in Dresden, und Walter Süß analysiert erneut den friedlichen Ausgang des 9. Oktobers in Leipzig. Gerade hier wird deutlich, dass nochmals untersucht werden muss, ob an diesem Abend 70.000 Menschen auf den Straßen Leipzigs waren oder Zehntausende mehr, wie in letzter Zeit wieder Karl-Dieter Opp ausführt.
Im internationalen Teil des Sammelbandes von Martin Sabrow beschäftigt sich Manfred Görtemaker mit dem friedlichen Umbau der europäischen Ordnung und der Bonner Politik, die er als defensiv, behutsam und vom Osten getrieben beschreibt. Anregend ist Peter Haslingers Meinung, dass die Etikettierung der Revolution von 1989 als "friedliche" zwar richtig sei, sie jedoch nur retrospektiv anzuwenden wäre, da der revolutionäre Verlauf durchaus erhebliches Gewaltpotential geborgen hätte.
Włodzimierz Borodziej weitet den Blick auf Polen und auf dessen Repressions- und Oppositionsgeschichte seit 1944. Zu wenig beachtet wurde dabei bisher – das wird hier deutlich –, dass die polnische Opposition gegen den Staatssozialismus auf lange personelle Kontinuitäten zurückblicken konnte. Das schildert der Autor genauso beeindruckend wie den Übergang der Opposition zur Akzeptanz der Alternativlosigkeit evolutionären Wandels. Dieser unterminierte ab 1976 die Diktatur zusehends und ermöglichte den verhandelten Übergang zur Demokratie.
Anschließend beschreibt Peter Ulrich die rumänische Revolution 1989/90 als den Sonderfall eines gewaltsamen Aufstandes, der auch in dem ungeheuren Hass begründet läge, der sich im Land angestaut hatte, und in der Gewaltversessenheit der kommunistischen Führer. Neu ist Ulrichs Schilderung der Auseinandersetzungen um die Revolution in Rumänien in den vergangenen 20 Jahren. Bedauerlich ist dabei, dass hier intellektuell und moralisch immer noch die "sinnstiftende" Gewalt und nicht Freiheit als Erinnerungsort im Zentrum stehen. Trotzdem erlebt gerade jetzt die rumänische Revolutionsforschung einen Aufschwung, wobei besonders der Gegensatz zwischen der Gewalterinnerung und dem Blick auf den friedlichen Ablauf der Revolution in anderen kommunistischen Staaten anregend wirkt.
Michael Pullmann gelingt es in seinem Beitrag über die "Umbruchszeit" in der Tschechoslowakei eine neuartige Perspektive auf das Thema Gewalt zu gewinnen. In überzeugender Weise zeigt er, dass die Diktatoren auch in den Jahren seit 1968 Gewalt anwandten, allerdings in "geordneten" bzw. "zivilisierten" Bahnen. Dies akzeptierten viele Tschechen und Slowaken als legitime Gewalt, die sie solange duldeten, wie ihnen die Herrschaft ein gesichertes Leben zu garantieren schien. Gleichzeitig blieben die Bürgerrechtler als "gemeinschaftsfremd" isoliert; das änderte sich erst, als die Staatspartei wieder zum Mittel illegitimer Gewalt – gegen friedlich demonstrierende Studenten – griff. Jetzt wurden die Dissidenten kurzzeitig von der Bevölkerung unterstützt handlungsmächtig, und ihre "Ideologie der Gewaltlosigkeit" verhalf der Samtenen Revolution zum Sieg.
Für Bulgarien gelingt es Stefan Troebst, deutliche Unterschiede zum revolutionären Geschehen in den anderen Staaten des sowjetischen Imperiums herauszuarbeiten. Theoretisch überrascht dabei, dass Troebst im Gegensatz zum inzwischen weitgehenden durchgesetzten Terminus "Revolution" den Begriff der "Wende" gebraucht. Dabei argumentiert er überraschend und wenig überzeugend damit, dass dies eine Rückübersetzung des bulgarischen Begriffs "promjana" wäre – doch könnte nicht der Begriff der Krenzschen "Wende" nicht aus dem Deutschen ins Bulgarische übernommen worden sein? Das kommunistische Regime in Bulgarien war insgesamt im hohen Maß gewaltbereit und -erfahren. Doch richtete sich diese Gewalt zuerst gegen die ethnische Minderheit der Türken. In diesem Konflikt trat zum Jahreswechsel 1988/89 die Überdehnung der Kontroll- und Steuerungsfähigkeit des Regimes offen zutage, während sich eine politische Opposition zu diesem Zeitpunkt erst zaghaft zu formieren begann. Jetzt verlor der innere Zirkel der kommunistischen Partei an Zusammenhalt, und eine Palastrevolution folgte. Dies führte zum Sturz des Diktators, bedeutete aber noch nicht das Ende der Diktatur. Die Durchsetzung der Demokratie erfolgte schließlich weiterhin "im Schatten" des Konflikts mit den bulgarischen Türken, und erst ab 1992 kann Bulgarien als "befriedet" gelten.
Jugoslawien war das Land in (Süd-)Osteuropa, das in seiner realsozialistischen Phase seinen Bürgern die größten Freiheiten ließ; und trotzdem war hier der Systemwechsel mit Zerfallskriegen und Hunderttausenden Opfern verbunden. Den Gründen dafür geht Marie-Janine Calic nach. Sie zeigt, dass sich das jugoslawische Selbstverständnis stark auf das Militärische stützte, dass aber die Elemente struktureller Gewalt nicht über das im Ostblock "Übliche" hinausgingen. 1989 traten die Kommunisten in den Teilrepubliken zwar friedlich von der Macht ab, doch begannen jetzt Eigeninteressen der Teilrepubliken zu dominieren, und die Einteilung in Freund oder Feind erfolgte nach ethnischen Kriterien. Das führte zu brutalen militärischen Auseinandersetzungen, die jedoch nicht zwangsläufig aus dem Ende des Realsozialismus abzuleiten sind. Gleichzeitig wird hier, wie auch am Beispiel der Sowjetunion, deutlich, dass der politische Wandel ab 1989 eine unkontrollierbare Dynamik entfalten konnte.
So kann für die Sowjetunion Jan C. Behrends zeigen, dass hier, wie schon im Zarenreich, Herrschaft auf Gewalt beruhte. Dies stellte erstmals Michail Gorbatschow zur Disposition und ermöglichte dadurch die Selbstauflösung des Imperiums 1991 ohne Bürgerkrieg. Dies war ein einmaliger Glücksfall der Weltgeschichte, da die Gewalt in der postsowjetischen Zeit wieder nach Russland zurückkehrte. Behrends gelingt es zu zeigen, dass der Gewaltverzicht ein erhebliches Verdienst Gorbatschows ist, der jedoch gleichzeitig das Moskauer Diktatursystem erhalten wollte. Dieser offenkundige Widerspruch lässt sich nur dadurch erklären, dass es für die sowjetische Führungsspitze einfach unvorstellbar war, dass das sozialistische Staatssystem wieder von der politischen Weltkarte verschwinden könnte.
Das Revolutionsjahr 1989
Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Der von Bernd Florath herausgegebene Band über "Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur", so der Untertitel, vermittelt bedauerlicherweise den Eindruck einer Buchbindersynthese. Dazu kommt, dass die beschriebenen Revolutionen falsch Osteuropa zugeordnet werden, während sie mit der DDR, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn einen Schwerpunkt in Mitteleuropa hatten. Diese Einschätzung mindert jedoch nicht den Wert der einzelnen Beiträge.
Hier sind zuerst die Ausführungen von Ilko-Sascha Kowalczuk zur Revolution in der DDR hervorzuheben, in denen er zu dem Schluss kommt, dass diese von Bürgern erkämpft und zum Sieg geführt worden sei; ihr Ziel sei die Freiheit gewesen. Hoch informativ ist auch Bernd Floraths Beschreibung des Untergangs der SED, die zumindest partiell aus dem Wissen eines Insiders schöpft. Matthias Braun betrachtet die Rolle von Künstlern und Schriftstellern von der Biermann-Ausbürgerung bis zum Herbst 1989. Bestechend ist ebenfalls Christian Halbrocks Analyse von Rolle und Haltung der Kirchen in den Revolutionen – allerdings gilt dies nur für seine Ausführungen über die DDR, die mit einigen Randbemerkungen über die Lage in Polen ergänzt werden. Besonders wichtig ist dabei die klare Unterscheidung zwischen der Haltung der katholischen und den evangelischen Kirchen, die allerdings ebenfalls die Revolution nicht umfassend unterstützten. Das Verdienst kommt hier vielmehr nur einigen Theologen und wenigen Gemeinden zu.
Andere Autoren wenden sich ohne vergleichenden Ansatz einzelnen Ländern zu. So bringt Svitlana Hurkinas Beitrag zumindest für den deutschen Leser viel Neues über den Prozess der Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche im Prozess der Erringung der Unabhängigkeit der Ukraine. Weitere Texte setzen sich mit den internationalen Bedingungen der Wiedervereinigung auseinander, mit den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und mit der Aufdeckung des Massakers von Katyn. Die Ursachen des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems in der Tschechoslowakei beschreibt Tomáš Vilímek, und mit den unterschiedlichen Interpretationen der blutigen Auseinandersetzungen im Dezember 1989 in Rumänien beschäftigt sich kenntnisreich Raluca Grosescu. Dazu kommen William Totoks Schilderungen der Spitzeltätigkeit der rumänischen Geheimpolizei gegen deutschstämmige Schriftsteller und János Rainers Beschreibung der tief zerklüfteten Erinnerungslandschaft in Ungarn.
Im engeren Sinn übergreifende Themen behandeln die Schilderung der Kontakte der ungarischen demokratischen Revolution zu den Bürgerrechtlern in der DDR durch Reinhard Weißhuhn und Jerzy Holzers Überlegungen zur Bedeutung der "Runden Tische" im Prozess des Systemwandels. Gerade die beiden letztgenannten Aufsätze weisen in die richtige Richtung, während insgesamt eher das fortbestehende Desiderat einer vergleichenden Revolutionsforschung deutlich wird. Das sollte allerdings als Ansporn und Herausforderung für künftige Forschungsanstrengungen begriffen werden. Letztlich ist auch Ágnes Heller beizupflichten, die meint, dass das Verschwinden des sowjetischen totalitären Systems der größte Erfolg sei, der in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht werden konnte.
Jahre des Umbruchs
Clemens Vollnhals (Hg.): Jahre des Umbruchs (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Clemens Vollnhals (Hg.): Jahre des Umbruchs (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Clemens Vollnhals geht in seinem Sammelband über "Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa" von der Reformpolitik Michail Gorbatschows und von deren gravierenden Folgen für das Moskauer Imperium aus. Allerdings ist hier immer wieder die Frage zu stellen, ob der sowjetische Parteichef nicht selbst ein Getriebener war, der sein Reich lediglich mit unkonventionellen Mitteln retten wollte. In dem Sammelband werden die unterschiedlichen "Systemtransformationen" in der DDR, in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive thematisiert. Es geht um den Zustand der realsozialistischen Autokratien, die jeweilige Spezifik des Systemwechsels, das Verhältnis von Massen und Eliten zueinander und schließlich um die Etablierung neuer Demokratien. Dabei liegt der Fokus der Untersuchungen allerdings auf der DDR.
So arbeitet Richard Schröder klar heraus, dass die Besonderheit der DDR darin bestand, dass Nation und Staat nicht deckungsgleich waren. Außerdem spielten die evangelischen Kirchen bei der Vorbereitung der Revolution in der deutschen kommunistischen Diktatur eine Rolle wie in keinem anderen realsozialistischen Land. Die immer wieder beschriebene Gewaltlosigkeit der Demonstranten und Oppositionellen hat hier ihre Wurzeln.
Für Walter Süß war die Revolution in der DDR ein Ergebnis von Zufällen wie auch von längerfristig wirkenden strukturellen Faktoren. Zwar überschätzt Süß die Wirkung des Antifaschismus als Legitimationsstrategie, doch ist es sicher richtig, dass eine Nomenklatura, die nicht an der eigenen Herrschaft resigniert gewesen wäre, die Revolution auch bewaffnet hätte niederschlagen lassen können. Zu Recht meint Detlef Pollack, dass die Analyse der Bedingungsfaktoren des Umbruchs in der DDR multidimensional angelegt werden müsse, und so untersucht auch er die strukturellen Bedingungen für die Formierung des Protestes zum Massenprotest. Dabei unterscheidet Pollack strukturelle und ereignisgeschichtliche Ursachen für die Revolution und führt das Element des Zufalls ein. Dem wird man folgen können, allerdings wären im weiteren Zug der Entwicklung aus den Zufällen des Jahres 1989 letztlich wohl doch Notwendigkeiten geworden.
Zu den Akteurskonstellationen in der Friedlichen Revolution in der DDR legt Michael Richter einen Text vor und zu den Runden Tischen in Thüringen Francesca Weil. Sehr anregend beschreiben Mark R. Thompson und Matthias Damm die Gewaltlosigkeit und Spontaneität als zwingende Voraussetzung für das Gelingen der Revolution in der DDR. Beides war nicht selbstverständlich und von den Herrschenden so nicht vorauszusehen. Dazu kamen das Wechselverhältnis zwischen Ausreisern und Oppositionellen sowie die christliche Logik der Gewaltlosigkeit. Durch ihren massenhaften Entzug der Loyalität erzwangen die Bürger schließlich das Ende der Diktatur – obwohl die Anwendung von Waffengewalt noch bis in den Winter 1989 möglich schien und es wohl auch war.
Für Ehrhart Neubert war die Revolution gegen die kommunistische deutsche Diktatur in allen ihren Aspekten ein Prozess der Selbstermächtigung und Selbstbestimmung der Ostdeutschen. Die Revolution war ein offener Machtkampf, der bis in den Oktober 1989 nicht immer gewaltlos blieb. Prägend für diesen Prozess waren auch die Etablierung des Rechts und eine fast explosionsartige Entfaltung der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig sollte nach dem Wunsch der meisten Bürger alles aus dem Westen kommen, und darin liegt ein Grund, warum viele der 89er-Revolutionäre heute wieder am Rande stehen. Schließlich betont Eckhard Jesse die Erfolge der demokratischen Konsolidierung in Ostdeutschland, beklagt aber gleichzeitig den Mangel an zivilgesellschaftlichen Strukturen und Mentalitäten dort. Trotzdem kommt er zu dem hoffnungsvollen Schluss, dass Deutschlands totalitäre Tradition endlich Geschichte sei.
Im internationalen Teil der Aufsätze erklärt Helmut Altrichter, dass die Sowjetunion 1988/89 nicht mehr zu einer Intervention in den Staaten ihres Blocksystems in der Lage war, da sie zuerst wegen der notwendigen inneren Stabilisierung ihre gewaltigen Rüstungskosten senken musste und auf die Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen war. Das bedeutet also Systemaufgabe nicht aus Einsicht oder Reformwillen, sondern aus Schwäche. Tytus Jaskułowski geht für Polen der These nach, es habe sich hier um eine "ausgehandelte", ja "reglementierte" Revolution (immer wieder auch als "Wende" bezeichnet) gehandelt, die von den Machthabern gesteuert worden sei. Dies kann er widerlegen und zeigen, dass das Land stattdessen eine Vorreiterrolle im ostmitteleuropäischen Revolutionszyklus einnahm. Allerdings lagen für die Entwicklung nach dem Ende des Kommunismus keine Pläne vor, sodass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Polen weitgehend ausblieb.
Dieter Bingen zeigt, dass in der Transformationsforschung vor allem die Rolle der Eliten betont wird, in Polen jedoch Massen und Eliten aufeinander angewiesen waren und es hier durchaus einen ausgehandelten Systemwechsel mit einer überdurchschnittlich langen Phase der Massenmobilisierung gab. Davon ausgehend präsentiert Bingen hochinteressante Überlegungen zum Verhältnis von Massen und Eliten in gesellschaftlichen Umwandlungsprozessen, wobei allein schon der katholischen Kirche wegen ihrer noch nicht ausreichend untersuchten Rolle eine besondere Stellung zukommt. Für die Zeit nach dem Systemwechsel bescheinigt Klaus Ziemer Polen einen großen Erfolg bei der Entwicklung und Stabilisierung seiner Demokratie. Diese erscheint zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau als gesichert.
Für Ungarn zeichnet Máté Szabó ein Bild vom inneren Zustand der dortigen Opposition und der "Reformelite" der Vereinigten Arbeiterpartei (UVAP) vor und im Jahr 1989. Dabei spielten die Kirchen keine Rolle, während die "nationale Problematik" zunehmend an Bedeutung und die Exilungarn immer stärker an Einfluss gewannen. Hierin liegt auch ein Grund dafür, dass der rechte Populismus heute eine so starke Mobilisierungskraft besitzt. Schließlich analysiert Sándor Pesti das während des Systemwechsels neu entstandene rechtliche und politische Institutionensystem in Ungarn. Er kommt zu dem Schluss, dass die Polarisierung zwischen kommunistischen und antikommunistischen Kräften äußerst stark sei. Gleichzeitig sei das 1989/90 eingeführte System rechtlicher Institutionen bis heute unverändert geblieben.
Die Tschechoslowakei hingegen war nach Jan Holzer gekennzeichnet von einer "stillen Übereinkunft" der Herrschenden mit der Gesellschaft, die Privatsphäre der Menschen weitgehend zu respektieren. Dagegen führte die oppositionelle "Charta 77" ein Ghettodasein und konnte das Regime nicht erschüttern. Das wurde erst möglich, als die katastrophale Wirtschaftssituation die "Übereinkunft" hinfällig machte, entscheidend war letztlich die breite Unzufriedenheit der Bevölkerung. Heute sind politische Akteure vor allem auf lokaler Ebene zu suchen. Die Entwicklung der ČSSR von einem post-totalitären (eingefrorenen) zu einem demokratischen System beschreibt Stanislav Balík. Dabei gab es in seiner Sicht ein Wechselspiel zwischen Massen und Eliten, wobei erstere einige Tage dominierten, um dann die Schlüsselrolle wieder zu verlieren. Für Karel Vodička ist schließlich in Tschechien die Konsolidierung der politischen und intermediären Systeme weit vorangeschritten. Positiv wirken dabei Europäische Union und NATO, negativ dagegen Korruption und das Misstrauen der meisten Bürger in politische Institutionen.
Uwe Backes lenkt den Blick wieder ins Allgemeine und zeichnet ein differenziertes Bild der Herrschaftsrealität in den kommunistischen Diktaturen und zeigt so, in welcher Weise sich die totalitären Merkmale abschwächten, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden. Interessant ist Backes' Überlegung, dass der Totalitarismus mit einem hohen Bildungsniveau der Bevölkerung (Modernität) und ausgefeilten Formen der Staatlichkeit durchaus auch für eine Demokratie förderliche Transformationsbedingungen schuf. Ähnlich argumentiert Jerzy Maćków, der sich vehement für die weitere Verwendung des Begriffs "Totalitarismus" für das sowjetische Imperium einsetzt. Er meint, dass ein modernisierungstheoretischer Ansatz die ostmitteleuropäischen Diktaturen als autoritäre Staaten verharmlosen würde. Allerdings überzieht Maćków, wenn er schließlich der gesamten politikwissenschaftlichen Transformationsforschung Komplettversagen vorwirft.
Friedbert R. Rüb lehnt den Revolutionsbegriff für das Ende der realsozialistischen Systeme ab, da die siegreichen oppositionellen Kräfte der Gesellschaft kein neues revolutionäres Programm oktroyieren wollten. Dagegen sei der Systemwechsel das Ergebnis der Entscheidungen freigewählter Parlamente und Regierungen gewesen. Dabei übersieht Rüb in seiner These einer "koordinierten Transformation", dass gerade diese Volksvertretungen Ergebnisse revolutionären Handels waren. So könnte für die DDR etwa formuliert werden, dass es ohne den 9. Oktober 1989 in Leipzig keine freie Volkskammerwahlwahl am 18. März 1990 gegeben hätte. Und auch von Selbstbeschränkung der Revolutionäre kann wohl kaum die Rede sein, wenn in ganz Ostmitteleuropa waffenstarrende Diktaturen grundlegend und in kürzester Zeit unter der Beteiligung breiter Volksmassen – für die Mehrzahl der Beteiligten wie der Beobachter vollkommen überraschend – beseitigt wurden. Abschließend weitet Steffen Kailitz den Blick auf alle 30 postkommunistischen Staaten: Zu unterscheiden sei zwischen ausgehandeltem Systemwechsel, Regimezusammenbruch und von alten Eliten kontrolliertem oder von außerhalb eingeleitetem Systemwandel. Dabei würde der jeweilige Modernisierungsgrad der überwundenen Diktaturen eine ausschlaggebende Rolle spielen, in der auch begründet läge, dass die Länder des westlichen Kulturkreises (DDR, Polen, Tschechoslowakei und Ungarn) schneller Demokratien westlichen Typs aufbauen konnten.
Die Friedliche Revolution in Leipzig
Tobias Hollitzer, Sven Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig (© Leipziger Universitätsverlag)
Tobias Hollitzer, Sven Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig (© Leipziger Universitätsverlag)
An der Friedlichen Revolution waren Ostdeutsche in vielen Städten und Gemeinden beteiligt, neben Ost-Berlin spielten gerade sächsische Städte eine herausgehobene Rolle. Dabei ist es unzweifelhaft, dass die Entscheidung am 9. Oktober in Leipzig fiel, als sich weit mehr als 70.000 Menschen angesichts von 8.000 Bewaffneten auf die Straßen wagten und mit ihrem friedlichen Protest der Diktatur das Rückgrat brachen. Daran wird in der Stadt vielfältig erinnert und gegenwärtig zeigt das Bürgerkomitee Leipzig die Ereignisse in einer Sonderausstellung und dokumentiert diese in einem zweiteiligen opulenten Katalog. Dabei ist es durchaus wichtig, dass das Bürgerkomitee, in deren Auftrag der Katalog erstellt wurde, (wie auch die Initiative "Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989") auf der Grundlage bürgerschaftlichen Engagements arbeitet und damit eine Tradition der Friedlichen Revolution fortsetzt.
Der von Tobias Hollitzer und Sven Sachenbacher herausgegebene Katalog "Die Friedliche Revolution in Leipzig" zeichnet sich durch seine ausgesprochene Materialfülle aus, die vieles, was der Besucher der Ausstellung nicht auf den ersten Blick erfassen kann, nachlesbar macht. Viele der geschickt zusammengestellten Bilder, Texte und Abbildungen von Ausstellungsobjekten werden erstmals veröffentlicht und geben der bereits umfangreichen Forschung zur Geschichte Leipzigs in der Friedlichen Revolution neue Impulse (dagegen bringt das reißerisch aufgemachte Buch von Roland Mey zum "Schießbefehl am 9. Oktober 1989"
Ab Anfang 1989 hielten schließlich öffentliche Aktionen oppositioneller Basisgruppen das Regime in Atem, Immer neue Formen einer Protestkultur entstanden, zu der die SED mit ihrer Geheimpolizei des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) keine adäquate Gegenstrategie mehr fand. Dazu gehörten die Kontrolle der Kommunalwahl am 7. Mai durch Oppositionelle, der Pleißepilgerweg am 4. Juni, der Evangelische Kirchentag im Juli und die Massenflucht seit dem Sommer 1989. Daran schlossen sich die Formierung der Opposition und der Übergang von Demonstrationsversuchen Einzelner zum massenhaften Aufbruch im September 1989 an. Der 25. September mit der ersten großen Montagsdemonstration auf dem Leipziger Innenstadtring und die brutalen Einsätze der Polizei gegen den Protest zum "Nationalfeiertag" der DDR am 7. Oktober leiteten dann unmittelbar die Revolution ein.
Höhepunkte der Darstellung bilden natürlich der 9. Oktober 1989 und die Besetzung der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in der "Runden Ecke" am 4. Dezember. Bezogen auf das erste Datum werden jedoch auch Forschungslücken sichtbar. Dazu gehört die Wirkung des "Aufrufs der Leipziger Sechs" im Vergleich zum massenhaft verbreiteten Flugblatt Leipziger Basisgruppen um Wonneberger mit dem Appell zur Gewaltlosigkeit. Die Zahl der Demonstrierenden an diesem Tag wird weiter zu erforschen sein, was ebenfalls für die Rolle der westlichen Massenmedien, die einzelner evangelischer Theologen und für die "Revolutionsverweigerung" der Leipziger Universität gilt. Dagegen gelingt es den Autoren des Kataloges, die Legende, die Revolution und besonders die Beseitigung der Strukturen der Geheimpolizei sei von der SED gesteuert worden – hoffentlich endgültig – zu widerlegen.
Wichtig ist in ihrer Darstellung weiterhin der Nachweis, dass auch nach dem Fall der Berliner Mauer Hunderttausende über den Leipziger Ring marschierten und so die Revolution vorantrieben. Die Beschreibung dieser Demonstrationen mit ihren jeweiligen Forderungen bzw. Losungen erfolgt akribisch, ist vielleicht jedoch etwas zu breit angelegt. Dagegen hätte die Analyse der Dialogpolitik der SED als gegenrevolutionäre Strategie vertieft werden können. Zu Recht wird hingegen der Leipziger Gegenaufruf zur Kampagne "Für unser Land" in Erinnerung gerufen und die DDR-weite Bedeutung der Leipziger Demonstrationen für die Fortführung der Revolution unter der Losung "Deutschland einig Vaterland" nach dem Fall der Berliner Mauer thematisiert. Dazu kommt die Darstellung der Etablierung der "Runden Tische" und des Weges zur Demokratisierung der noch bestehenden DDR. Hier wird deutlich, dass auch nach den ersten freien Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 das Ringen zwischen alten Kadern und neuen demokratischen Kräften weiterging.
Beantwortet wird in dem Katalog die Frage, warum gerade Leipzig die heimliche Hauptstadt der Opposition gegen die kommunistische Diktatur werden konnte. Das hängt zum einen wesentlich damit zusammen, dass der Stolz der Messestädter durch die Verwahrlosung, ja letztlich den Ruin ihrer Stadt durch städtebaulichen Verfall und Umweltverschmutzung erheblich verletzt war. Eine Rolle spielte zum anderen eine lange oppositionelle Tradition bis zurück zum Kampf gegen das nationalsozialistische Terrorsystem und zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gegen die zweite deutsche Diktatur. Beim Blick auf die Leipziger Bürgerbewegung der 1980er-Jahre dürfen natürlich andere Städte, wie etwa Jena oder Ost-Berlin, nicht aus den Augen verloren werden. Allerdings war widerständiges Verhalten in Leipzig stärker auf konkrete Aktionen ausgerichtet als etwa bei den Berliner Bürgerrechtlern. Dazu kam das für die Stadt typische gemeinsames Agieren von Bürgerrechtlern und Ausreisewilligen sowie die Rolle der Nikolaikirche als fester Ort politischen Protestes. Trotzdem sollte künftig eine Gegenüberstellung Leipzigs versus Berlin und andere Städte in der Frage des "revolutionären Urheberrechts" vermieden werden.
"Die Tragödie ist vorbei"
Armin Mitter: "Die Tragödie ist vorbei" (© LStU Berlin)
Armin Mitter: "Die Tragödie ist vorbei" (© LStU Berlin)
Angesichts der hier vorgestellten Bücher kann der Eindruck entstehen, dass bezogen auf die Friedliche Revolution keine Leerstellen mehr existieren. Armin Mitter beweist mit seiner – wesentlich auf bisher nicht ausgewerteten Akten des Auswärtigen Amtes beruhenden – Studie über die Rolle der einstigen Alliierten im gespaltenen Berlin in den Jahren 1989/90 das Gegenteil. Mitter kann ähnlich wie Görtemaker zeigen, dass die Entwicklung der Revolution nicht von Akteuren in den Hauptstädten der Großmächte oder in Bonn bestimmt wurde, sondern durch die Proteste auf den Straßen ostdeutscher Städte. Dabei legt er besonderen Wert auf die Vier-Mächte-Rechte und Verantwortlichkeiten für die geteilte deutsche Hauptstadt. Dabei versuchte die Führung in Moskau den besonderen Status Berlins für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Da dies letztlich an der engen Verbundenheit der Bundesrepublik mit ihren westlichen Partnern scheiterte, ging es am Ende um finanzielle und wirtschaftliche Kompensationen der Sowjetunion für den Einigungsprozess. Indem diese erreicht werden konnten, war es möglich, auch Berlin zeitgleich in die Vereinigung einzubeziehen und die Rechte der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit dem 3. Oktober 1990 abzulösen.
Verhandelte Demokratisierung
Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Unter den Institutionen der Revolution fand der Zentrale Runde Tisch in Ost-Berlin schon früh Aufmerksamkeit; für die Tische in den Bezirken, Städten, Gemeinden, Einrichtungen und Betrieben gilt das bis heute nicht, obwohl sich gerade hier die Breite des revolutionären Aufbegehrens zeigte. Francesca Weil füllt jetzt diese Lücke für die 15 Runden Tische in den DDR-Bezirken, deren Entstehen, Arbeit und Weitergabe an demokratisch gewählte, also legitimierte Gremien sie kenntnisreich schildert. Dabei geht die Autorin von den sich widersprechenden Thesen aus, deren erste aussagt, dass die Runden Tische "Schulen der Demokratie" gewesen seien, während die Gegenthese sie als "Bremsklötze der Revolution" charakterisiert.
Auch für Weil sind die Runden Tische letztlich nicht demokratisch legitimiert, doch gründete ihre Legitimation gerade im Handeln politisch aktiver Bürger. Die Autorin führt die Runden Tische in der DDR zu Recht auf die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" zurück, wobei bei den Gründungen in der Fläche Funktionäre der ehemaligen Blockparteien eine herausragende Rolle spielten. Weil gelingt es, die Runden Tische als einzigartige Einrichtungen in der deutschen politischen Geschichte zu charakterisieren. Bei allen Unterschieden in den Bezirken wirkten sie alle bei der Überführung einer totalitären Diktatur in eine freie Gesellschaft mit. Besondere Verdienste erwarben sich die Tische auf Bezirksebene bei der Länderbildung (besonders in Sachsen), bei der Auflösung der Geheimpolizei, beim Kampf gegen die Umweltkatastrophe und bei der Lösung von Alltagsproblemen. Dabei machte es keinen Unterschied, ob ihre Akteure früh auf die deutsche Vereinigung oder auf die Demokratisierung der DDR setzten. Im Ergebnis war die Arbeit der Gesamtheit der Runden Tische, begleitet und somit getragen von Massendemonstrationen der Bevölkerung, eine Erfolgsgeschichte. Politik war Bürgersache geworden, und vor der Vereinigung mit der Bundesrepublik gab es – wenn auch nur von kurzer Dauer – bereits eine demokratische DDR.
Schließlich wendet sich Weil den Runden Tischen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, in Bulgarien und Rumänien zu und kommt zu dem Schluss, dass diese – wie auch in der DDR – bei allen Unterschieden unverzichtbare Institutionen des Systemwechsels waren. Dagegen sieht sie die Runden Tische in der DDR nicht in der Tradition der "Rätedemokratie" von 1918/19
In der Wahrheit leben
Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben (© Ev. Verlagsanstalt)
Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben (© Ev. Verlagsanstalt)
Die Frage nach den Gründen und dem Verlauf einer Revolution ist immer auch die nach ihren Wegbereitern und Helden. Bezogen auf 1989/90 sind einige Namen bekannt, andere sind unbekannt, und nicht immer stimmt der Bekanntheitsgrad mit der wirklichen Bedeutung der jeweiligen Person überein. Zu den zu Unrecht wenig im Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit und historischer Analyse stehenden gehört der 2012 früh verstorbene Ludwig Mehlhorn. Die wichtigsten Leistungen Mehlhorns beschreibt sein langjähriger Weggefährte Stephan Bickhardt in seiner informativen und einfühlsamen biografischen Skizze. Dabei macht der Autor deutlich, dass Mehlhorn zu den wichtigsten Wegbereitern der polnisch-deutschen Aussöhnung gehörte und einer der wenigen ostdeutschen Dissidenten war, die neben profunden Kenntnissen unseres Nachbarlandes die Sensibilität besaßen, immer wieder neue Kontakte zur polnischen Opposition zu knüpfen. Da insgesamt die Zusammenarbeit zwischen den Bürgerrechtlern in der DDR und denen in ihren östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten eher gering war, kann dies nicht hoch genug bewertet werden.
Dies gilt auch für andere Leistungen Mehlhorns. Dazu gehört zunächst sein Festhalten an der deutschen Einheit – so in einem Brief an die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg am 27. August 1986, worin er auf die katastrophale psychische Wirkung der "Mauerkrankheit" im Innern der DDR verweist.
Im Kern des von Bickhardt vorgelegten Bandes stehen Mehlhorns Essays aus dem Untergrund, seine Papiere im Umfeld der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt", seine Texte über Polen und seine Übersetzungen polnischer Autoren, die seine intellektuelle Reife und Bedeutung eindeutig belegen. Die Textsammlung wird abgerundet durch Erinnerungen von Gerd Poppe, Annemarie Franken, Annemarie Cordes, Rüdiger Sachau, Marek Prawda und Katarzyna Madon-Mitzner. Von besonderem Rang ist dabei der Beitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk, der die politische Verfolgung Ludwig Mehlhorns aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes rekonstruieren kann, obwohl der eigentliche "Operative Vorgang" des Dissidenten vernichtet ist. Das öffnet einen neuen Blick auf die Möglichkeiten der Rekonstruktion historischer Sachverhalte durch Archivalien des MfS, auch wenn Kernstände zur Auswertung nicht mehr vorliegen.
Spontaneität war das Gebot der Stunde
Nicole Glocke: Spontaneität war das Gebot der Stunde (© Mitteldeutscher Verlag)
Nicole Glocke: Spontaneität war das Gebot der Stunde (© Mitteldeutscher Verlag)
Zu den in der Friedlichen Revolution handelnden Persönlichkeiten gehörten zweifellos ebenfalls die Abgeordneten der ersten freigewählten Volkskammer, auch wenn sie bei Weitem nicht alle zur DDR-Opposition zählten. Nicole Glocke hat jetzt Biografien des Sozialdemokraten Rolf Schwanitz, des Christdemokraten Burkhard Schneeweiß und der PDS-Politikerin Dagmar Enkelmann vorgelegt. Deutlich wird dabei zuerst, dass Menschen in der gleichen Diktatur leben konnten und doch ganz unterschiedliche Lebenswege beschritten.
Schwanitz stammt aus einer sozialdemokratischen Familie, richtete sich in der DDR in einer "Nische" ein und stieß im Zuge der Revolution zur wiedergegründeten Sozialdemokratie. Der Medizinprofessor Schneeweiß eckte zwar mit seinen christlichen Überzeugungen immer wieder an und musste berufliche Nachteile erdulden, gehörte aber schließlich als Mitglied der Volkskammer seit deren 7. Wahlperiode selbst zur Gruppe der hörigen Systemstützen. Von dort ging es in die erste freigewählte Volkskammer der 10. Wahlperiode, anschließend aber nicht in den Bundestag, da Schneeweiß von einer "besseren DDR" und nicht von der deutschen Vereinigung geträumt hatte. Konsequent ist es letztlich, dass Schneeweiß sich noch heute als konsequenter Ostdeutscher bezeichnet und die zu große "Macht des Geldes" beklagt. Enkelmann ging wiederum einen anderen Weg, den die Autorin geradezu schwärmerisch beschreibt. Die zuvor begeisterte Pionierin tritt in ihrer Jugend Enkelmann der SED bei und macht innerhalb des Parteiapparates eine wissenschaftliche Karriere bis hin zur Promotion. Sie leidet weder unter der Diktatur noch betreffen ihre Reisewünsche den Westen: Enkelmann träumt von Bulgarien. Erst spät beginnt sie, bestimmte Zustände in der kommunistischen Diktatur kritisch zu sehen, und so zählt sie nun wirklich nicht zu den Revolutionären des Jahres 1989.
Schließlich werden sowohl Schwanitz als auch Schneeweiß und Enkelmann in die erste freie Volkskammer gewählt. Hier beschäftigten sie sich mit unterschiedlichen Sachkomplexen, bewerten ihre parlamentarische Arbeit jedoch insgesamt positiv, da letztlich von Offenheit und parteiübergreifendem Diskurs geprägt. Einig sind sich alle drei auch darin, dass sie den schnellen und dominanten Einfluss des Westens auf ihre Arbeit in der 10. Volkskammer auch heute noch negativ beurteilen. Spezifische Unterschiede in ihren Ansichten gibt es vor allem bei der Aufdeckung der geheimpolizeilichen Bespitzelung durch die Staatssicherheit, die nur Schwanitz konsequent betreibt.
Leider unterlaufen Glocke bei ihren gut geschriebenen Biografien kleinere Fehler: So entstand die "Gruppe der 20" in Dresden und nicht in Plauen, und auch die Schätzung, dass sich am 4. November 1989 eine Millionen Menschen zur Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten, ist längst nach unten korrigiert. Besonders ärgerlich ist, dass die Autorin konsequent den Begriff "Wende" benutzt, der sonst in wissenschaftlichen Arbeiten weitgehend überwunden und durch die zutreffende Bezeichnung "Revolution" ersetzt worden ist.
Fazit
Auf der Grundlage des dramatischen Aufbruchs in der DDR und in den anderen Staaten Ostmitteleuropas in den Jahren 1989 und 1990 könnte sich nicht nur in der Bundesrepublik auf der Grundlage einer breiten Rezeption der Friedlichen Revolution(en) ein neuer Mythos von Zivilcourage und Selbstbewusstsein gründen. Dies wäre sowohl für Deutschland als auch für ein sich einigendes Europa von hoher Bedeutung, da die Freiheit zwar in Ostdeutschland und den ostmitteleuropäischen Staaten errungen werden konnte, zugleich aber ein wesentlicher Schritt zur Einheit des gesamten Kontinents getan wurde. Später ist die Erinnerung an die Friedlichen Revolutionen und an deren Vorgeschichte in ganz Europa weitgehend ausgeblendet worden. Mit dem Aufbrüchen in Ostmitteleuropa ist indes ein neuer Revolutionstyp geboren worden, der sich mit der Losung "Keine Gewalt" selbst zügelte und mit dem Ruf "Wir sind das Volk" sein Ziel artikulierte und es auch erreichte. Und so heißen die künftigen Perspektiven für die Forschung: Internationalität, Vergleich und Wirkung der Revolutionen auf das europäische Denken, während das Fazit für die europäischen (Bürger-)Gesellschaften in den Zeilen von Czeslaw Miłosz zu finden sein könnte, wie sie Ludwig Mehlhorn übersetzt hat:
bald ist es tag
noch einer
tu was du kannst.