I.
Als vor einigen Jahren der Berliner "Tagesspiegel" Robert Havemann Antisemitismus vorwarf, versah er seine Schlagzeile noch mit einem etwas relativierenden "offenbar": "Havemann war offenbar Antisemit" titelte die Zeitung am 17. November 2007
Nunmehr stellt Götz Aly in seiner Rede zur Verleihung des Börne-Preises am 3. Juni 2012 den damaligen Studenten Robert Havemann gar als "typisch für die seinerzeit vorherrschende Stimmung" des Jahres 1933 hin. Havemann sei demnach ein typischer Antisemit unter Antisemiten gewesen: Diese konnten "ihre Unterlegenheitsgefühle an den Staat abgeben und zusehen, wie diejenigen, die sie für anmaßend hielten, die sie als gewitzte Konkurrenten empfanden, von Amts wegen in ihren Rechten zurückgesetzt und so der nichtjüdischen Mehrheit neue Chancen eröffnet wurden".
Aly sagt dies über einen Menschen, der vor sechs Jahren vom Staat Israel als "Gerechter unter den Völkern" geehrt wurde, weil er Juden unter Einsatz seines Lebens geholfen hatte. Nun mag diese Feststellung allein der Behauptung nicht zwingend widersprechen. Sie unterstreicht jedoch die Notwendigkeit sorgfältiger Beweise für so schwerwiegende Bezichtigungen.
Mag sein, dass Aly uns geläuterten Deutschen Trost spenden will: Nicht bloß unsere braunbehemdeten oder schwarzuniformierten Väter und Großväter, selbst die edelsten Charaktere der Nation – er nennt den preußischen Reformer Karl Freiherr vom Stein, Achim von Arnim, Caroline von Humboldt, Jakob Grimm, Joseph Görres, den Autor der Nationalhymne Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Franz Mehring (erstaunlicherweise fehlt der sonst in dieser Reihung aufgefädelte Karl Marx) – seien nicht frei vom Judenhass gewesen. Man mag am Sinn dieses Arguments zweifeln, doch selbst wenn man von der Schlüssigkeit der Argumente seines jüngsten Buches
Dies alles kann und sollte Stoff von Debatten über Politik, Kultur, Geschichte und Gegenwart sein. Doch der eingangs benannten Legende, dass Robert Havemann "offenbar" oder "typisch" Antisemit gewesen sei, muss hier deutlich widersprochen werden:
Robert Havemann (© Robert-Havemann-Gesellschaft)
Robert Havemann (© Robert-Havemann-Gesellschaft)
Havemann war kein Antisemit. Er war es zu keiner Zeit. Selbst die wohlwollende Unterstellung, Havemann sei in einem Anfall "von politischer Orientierungslosigkeit" (so unter Verweis auf dieselbe Quelle Reinhard Rürup) 1933 dem nazistischen Zeitgeist erlegen,
Aly scheint – wie offenbar auch Rürup – der Annahme zu folgen, dass Havemann 1933 Antisemit gewesen und erst durch die Verfolgung seiner jüdischen Nachbarn, Lehrer, Freunde in den Widerstand gegen das NS-Regime geraten sei, dass Havemann mithin – wie nicht wenige bedeutende Widerständler – "einen weiten Weg von anfänglicher NS-Begeisterung bis zu ihrem Widerstand zurückgelegt" habe, wie Jens Jessen diesen Typ von Lebensverläufen in seiner Laudatio auf den Börne-Preisträger Götz Aly beschreibt.
II.
Havemann war niemals Antisemit. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, in der die Anwesenheit jüdischer Gesprächspartner und Freunde in dem offenen Haus, das
Die Familie Robert Havemanns, Ende der 1920er-Jahre: Roberts Bruder Hans Erwin, seine Mutter Elisabeth, sein Vater Hans, Robert und eine unbekannte Person (v.l.) (© Robert-Havemann-Archiv)
Die Familie Robert Havemanns, Ende der 1920er-Jahre: Roberts Bruder Hans Erwin, seine Mutter Elisabeth, sein Vater Hans, Robert und eine unbekannte Person (v.l.) (© Robert-Havemann-Archiv)
seine Eltern führten, eine überhaupt nicht thematisierte, geschweige denn problematisierte Selbstverständlichkeit war.
Havemanns Bewunderung für seine direkten und indirekten akademischen Lehrer, darunter Heinrich Wieland, Kasimir Fajans, Fritz Haber, Otto Hahn, James Franck, Walther Nernst, Herbert Freundlich, Michael Polanyi, Hartmut Kallmann, Wolfgang Köhler, Georg Ettisch, Otto Warburg und Wolfgang Heubner, beruhte nicht darauf, dass diese Juden waren oder nicht, sondern auf der Tatsache, dass er das Vergnügen genießen durfte, bei den bedeutendsten, faszinierendsten Vertretern seines Faches studieren zu können. Als temperamentvoller Atheist hatte Havemann kein Verständnis für religiöse Auffassungen, unter Naturwissenschaftlern schon gar nicht. Aber ob diese Auffassungen protestantisch oder jüdisch, katholisch oder muslimisch waren, blieb ihm vollkommen irrelevant.
III.
Götz Aly zitiert in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche den Brief Robert Havemanns an dessen Vater Hans vom 31. März 1933. Indes zerstückelt er ihn nicht nur, er ignoriert im Wortsinne den Kontext, in dem dieser Brief geschrieben wurde. Er kann ihn nicht kennen, weil er sich – ganz gegen seine übliche Arbeitsweise – der Mühe nicht unterzogen hat, ins Archiv zu gehen und die im Nachlass Havemanns befindlichen Briefe dieser Zeit einzusehen. Vielmehr zitiert er ihn aus zweiter Hand und verlässt er sich dabei auf das absichtsvoll verzeichnete Bild des Enkels Florian, der von den Dutzenden Briefen aus der Studienzeit seines Vaters an seinen Großvater diesen einen Brief heraushob und isoliert abdruckte.
Florian Havemann, Aufnahme von 2002 (© ddp/AP, Jan Bauer)
Florian Havemann, Aufnahme von 2002 (© ddp/AP, Jan Bauer)
Der Skandal, den Florian Havemann produzieren wollte, ist derweil auf ihn selbst zurückgefallen: Mit seinem Buch voll solipsistischer Egomanie wollte er den Vater vom Sockel stürzen, weil er "kein Denkmal zum Vater haben möchte".
Die Kritik hat das Buch als Werk der epischen Literatur überwiegend ignoriert, allenfalls als Großtat der neuen Kunst des Vatermordes gewürdigt.
Die Infamie seiner Verzerrungen versteckt sich zumeist im Schein abwägenden Räsonierens. Was im Falle der Zuchthausbriefe noch recht leicht zu durchschauen ist – und das den Nachlass Robert Havemanns betreuende und nach ihm benannte Archiv der DDR-Opposition wird in Kooperation mit dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen diese wie auch die Studentenbriefe demnächst vollständig publizieren
IV.
Schauen wir genau hin: Hier schreibt ein Sohn an einen Vater. Hinter dieser banalen Feststellung verbirgt sich eine Beziehung voller Spannungen zwischen dem Provinzzeitungsredakteur Hans Havemann und seinem ihm intellektuell bereits zu diesem Zeitpunkt weit überlegenen Sohn Robert, zwischen dem pekuniär bis zur Erpressung operierenden Finanzier und dem mittellosen und zugleich bedürftigen, also abhängigen
Robert Havemann, Ende der 1920er-Jahre (© Robert-Havemann-Archiv)
Robert Havemann, Ende der 1920er-Jahre (© Robert-Havemann-Archiv)
Studenten, zwischen dem bildungsbürgerlichen Freund der Künste und der Künstler (darunter, wie schon erwähnt, auch der jüdischen) und dem dieser Kultur entstammenden jungen Wissenschaftler, den sein politisches Engagement inmitten der heftigen Konfrontationen der Weltstadt Berlin nicht nur an die Seite einer ihn faszinierenden Kommunistin, sondern auch auf die Seite der Kommunisten gezogen hatte. Der Vater droht, seinem Sohn die unverzichtbare finanzielle Unterstützung zu entziehen, wenn dieser nicht Finger und Herz von der kommunistischen Parteinahme und der militanten Freundin lasse. Die Angebetete hatte den Liebenden derweil schon verlassen, sein Engagement für den Kommunismus indes war geblieben. Genossen der Ex-Freundin baten ihn, einem illegalen Komintern-Emissär Quartier zu geben, das Havemann aus Überzeugung wie aus Verlegenheit über das entgegengebrachte Vertrauen auch stellte. Der illegal untergebrachte und verköstigte bulgarische Kominternmann hieß Vasil Tanev. Als der das illegale Quartier bei Havemann verließ, um nach dem Reichstagsbrand Kontakt mit seinen Genossen Georgi Dimitroff und Dimitar Popov aufzunehmen, wurde er unter dem Vorwurf der Brandstiftung verhaftet und angeklagt.
In dieser Situation droht Vater Hans erneut mit der Streichung der finanziellen Unterstützung, falls Sohn Robert seine kommunistischen Anwandlungen nicht beende und sich politisch wohlverhalte. Wir besitzen nicht die Briefe des Vaters. Auf ihren Inhalt können wir nur aus den Antworten des Sohnes und den Erinnerungen von Zeitzeugen schließen (zu denen der Enkel Florian, Geburtsjahr 1952, schwerlich zählt). Was politisches Wohlverhalten bedeutete, lebte Vater Hans ihm vor. Halb lässt er sich von der "nationalen Erhebung" einwickeln, halb schließt er sich ihr an und tritt opportunistisch in die NSDAP ein. Ein vom Horror vor dem kommunistischen Chaos getriebener Liberaler, dessen politisches Gewissen auf dem Feld der Märzgefallen dahinsank: Es würde schon nicht so schlimm kommen. Die antisemitischen Hitzköpfe der SA würden bald wieder unter Kontrolle genommen werden; das entgleiten zu lassen könne sich die neue Regierung nicht leisten, weil sie sich international blamieren würde. Man könne Hitler nicht für den Pöbel in seiner Bewegung schelten.
Die Haltung des Vaters war in dieser Zeit keineswegs randständig: "Die Verfolgungen sind meiner Meinung nach stark übertrieben worden. Zum großen Teil das Werk junger Burschen, denke ich. Und ich glaube, sie waren in drei oder vier Tagen beendet. […] ich bin überzeugt, […] daß Hitler für die ihm zugeschriebenen Abscheulichkeiten nicht verantwortlich ist."
Hier finden sich gleich zwei giftig gegen die spießbürgerlich geringgeschätzte terroristische Dimension der NS-Herrschaft gerichtete Spitzen: Erstens werde sich die NSDAP um das Echo der zivilisierten, bürgerlichen Welt auf ihre barbarischen Akte keinen Augenblick lang scheren, und zweitens beschränke sich deren Ignoranz bürgerlicher Respektabilität nicht auf die Entrechtung ihrer politischen Gegner in KPD und SPD, sondern richte sich überdies bereits jetzt besonders brutal gegen den – nach welchen Kriterien auch immer – als jüdisch definierten Teil des deutschen Volkes. Diese beiden Aspekte dürften Hans Havemann durchaus nicht behagt haben, selbst im Augenblick seines eher opportunistischen Parteieintritts. Mit ihrer Hervorhebung konnte Robert, die Motive seines Vaters gleichermaßen antizipierend wie verachtend, diesen verletzen und zugleich zur Fortsetzung finanzieller Unterstützung zwingen. Denn eine Zurückweisung der NS-getränkten Plattitüden hätte Vater Hans nur um den Preis NS-feindlicher, zumindest aber kritischer Argumente begründen können. Dazu wäre er in diesem Augenblick nicht in der Lage gewesen, ohne sich des eigenen politischen Opportunismus schuldig bekennen zu müssen.
Ist denn der absichtsvoll gesetzte Kontrast zwischen der bildungsbürgerlich humanistischen Atmosphäre des Havemannschen Elternhauses und dem blutigen Ton des nun folgenden Satzes zu übersehen, mit dem Sohn Robert die politische blinde Ignoranz des Terrors der ersten Stunde dem Vater schreiend als Zustimmung zum Verbrechen vorbuchstabiert? – Nicht die gutbürgerliche, von Hans Havemann wohl geteilte Erwartung, Hitler werde die Exzesse seiner wildgewordenen Schlägertrupps wieder zügeln, sondern: "Deutschland erwartet doch heute von Hitler, dass er sein gegebenes Wort auch einlösen wird, auch wenn es Köpfe kosten sollte."
Und nun setzt Robert Havemann zu seiner von Götz Aly als typischen Ausdruck des Antisemitismus zitierten Proportionsrechnung an. Er rechnet den Antisemitismus der Partei von Vater Hans in die Realität seines Studiums um. Dem Vater, der großen Wert auf den Fleiß und die Effektivität der wissenschaftlichen Arbeit des Sohnes legt, erklärt er, in seinem Institut gebe es "weit über 50% Juden […], d. i. die 50-fache Menge, als erlaubt sein sollte".
Es bleibt die These, auf die Aly in seinem Vortrag abhebt, selbst dann nicht überzeugend, wenn der von ihm zitierte Text Havemanns dessen eigene Auffassungen wiedergegeben hätte: Die Verdrängung seiner jüdischen Lehrer hätte ihm keinen Aufstieg erleichtert, sondern nur eine Verschlechterung der Lehre eingebracht. Es war nicht die Spekulation auf die freiwerdenden Lehrstühle, sondern die qualifizierte Fortsetzung seiner Studien, um die Robert Havemann fürchtete, als Fritz Haber, Herbert Freundlich und Michael Polanyi ihr Gehen ankündigten.
Im folgenden Brief an den Vater wird das noch deutlicher: "Haber, Freundlich, Polanyi usw. werden ja nun alle gehen und die Zukunftsaussichten für die Deutsche Kolloidchemie, die bisher fast ausschließlich von Juden betrieben wurde, sind recht düster. Man weiß bei uns jedenfalls nicht, wer als kolloidchem[ischer] Nachfolger Freundlichs in Frage kommt."
Nun war aber der Philosoph und Psychologe Wolfgang Köhler, Mitbegründer der Gestaltpsychologie, einer der wenigen deutschen Professoren, die 1933 öffentlich gegen die rassistische Politik des NS-Regimes protestierten. Seine Artikel in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" trugen ihm mehrfach Boykottaufrufe der NS-Studenten gegen seine Vorlesungen und Forderungen nach Schließung des von ihm geleiteten Psychologischen Instituts ein. Am 22. August 1935 gab er seinen Lehrstuhl in Berlin auf und emigrierte in die USA. Von Köhler war auch Havemanns Freund Alfred Sommer noch im Februar 1934 promoviert worden, bevor er Deutschland für immer verließ.
Götz Aly zitiert indes nicht jenen Satz aus dem Sohnesbrief vom 31. März 1933, der scheinbar im gleichen antisemitischen Naziduktus unmittelbar an die nicht fortgeführte Bemerkung über den Anteil von Juden im Institut anschließt: "Aber noch eins wollte ich Euch bitten, was mit der Politik zusammenhängt. Ich möchte in dieser Zeit nicht weiter unangemeldet in Berlin wohnen. Ich wohne doch hier in der Wohnung eines Juden, eines ehemalig russischen sogar und man kann womöglich in eine ekelhafte Lage kommen, denn wie sollte ich einen glaubwürdigen Grund für mein unangemeldetes Wohnen angeben können. Schickt mir also bitte umgehend meine Abmeldung, damit ich mich hier anmelden kann."
Die "ekelhafte Lage", von der er hier spricht, hebt nun keinesfalls auf die Nähe seines – Havemann verkneift sich zu erwähnen: kommunistischen – Vermieters Jakob Gingold ab, sondern auf eine sehr reale, dem Vater freilich vorenthaltene und mit der Politik zusammenhängende Gefahr: Havemann befürchtete, wegen der Unterbringung Vasil Tanevs von der Reichstagsbranduntersuchungskommission vernommen zu werden. Das sollte wenige Wochen später auch geschehen. Die Legalisierung seiner Wohnverhältnisse war daher in mehrerer Hinsicht dringend geboten. Der politischen Polizei gegenüber war die eigene Ahnungslosigkeit unter korrekten Meldeverhältnissen leichter vorzuspielen wie auch der Vermieter Gingold aus der illegalen Quartiermacherei herauszuhalten. Wie sollte er seinem Vater die plötzliche Eile für eine Ummeldung erklären, ohne Misstrauen zu wecken? Der Brief, in mehrerlei Hinsicht geschrieben in höchster Not, war, wie Harold Hurwitz vollkommen treffend festhielt, "Teil seiner Tarnung. Er täuschte eine nationale Gesinnung vor."
V.
Tatsächlich war Robert Havemann radikaler Gegner des Nationalsozialismus. Und er war das von Anfang an. Er nahm am Widerstand bereits in den ersten Stunden der Errichtung des Regimes teil: als unabhängiger, eigenständig denkender Kommunist, als Mitglied der linkssozialistischen Untergrundgruppe "Neu Beginnen", in der seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten von Walter Loewenheim, Richard Löwenthal, Karl B. Frank, Georg Eliasberg, Francis Carsten, Kurt Schmidt, Gerhard Bry – um nur die Namhaftesten zu nennen, mit denen er in Kontakt stand – hoch geschätzt wurden.
Wie diese, Havemanns Biografie, seine Weltsicht und sein politisches Engagement nachhaltig prägende Zugehörigkeit aus dem Blick geraten kann und nur jene, seine legale Position sichernden, scheinbar dem NS-Regime gegenüber loyalen Äußerungen ins Gewicht fallen, ist schwer nachvollziehbar. Reinhard Rürup bewertete im Gedenkbuch für die verfolgten Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das vermeintlich antisemitische Quellenmaterial Robert Havemanns sehr zurückhaltend, doch die Unkenntnis der nicht zu seinem wissenschaftshistorischen Forschungsthema gehörenden politischen Betätigung Havemanns führte ihn zu der absurden Bemerkung, es deute "nichts darauf hin", "daß Havemann zu diesem Zeitpunkt in prinzipieller politischer Opposition zu den neuen Machthabern stand".
Alys Auffassung, dass Havemanns Brief an den Vater vom 31. März 1933 als "typisch für die seinerzeit vorherrschende Stimmung erscheint", wäre allenfalls insofern zu begründen, als Havemann, gerade weil er nicht die eigenen, sondern fremde Auffassungen wiedergab, diese gleichermaßen auf ihren wesentlichen Ausdruck brachte. Die ihm fremden Gedanken konnte er genauer beobachten und in ihrer Stumpfsinnigkeit reproduzieren, als wenn er eigene Empfindungen frei von subjektiven Färbungen und Besonderheiten hätte niederschreiben sollen. Tatsächlich musste er bloß die Schlagzeilen des "Völkischen Beobachters" ein wenig auf die Situation seines Instituts applizieren. Wichtiger war ihm das Verdecken der eigenen Position, verbunden mit der Provokation des Vaters in dessen kurzsichtigem Opportunismus.
Havemann setzte die Aktivitäten im Widerstand, zu der die Hilfe für jüdische Freunde und verfolgte Juden, die er zuvor nicht gekannte hatte, selbstredend zählte, auch fort, als die Gruppe "Neu Beginnen" von der Gestapo weitgehend zerschlagen worden war. "Typisch für die seinerzeit herrschende Stimmung" des Antisemitismus scheint mir im Kontext der Biografie Robert Havemanns daher eher der Satz Roland Freislers in der Begründung des Todesurteils gegen ihn, Georg Groscurth, Paul Rentsch und Herbert Richter zu sein: "Wie schamlos die Gesinnung der vier Angeklagten ist, ergibt sich auch daraus, daß sie geradezu systematisch illegal lebende Juden unterstützten, ja sogar mästeten; aber nicht nur das, sie verschafften ihnen sogar falsche Ausweise, die sie vor der Polizei tarnen sollten, als wären sie nicht Juden, sondern Deutsche."
Wer nur den von Aly zitierten Brief Havemanns liest, mag zu der Auffassung kommen, dass dessen Deutung zuträfe. Allein dieser laienhaften Deutung setzt die historische Wissenschaft die Quellenkritik entgegen. Sie ist der Dienst, den professionelle Historikerinnen und Historiker für die historisch Interessierten leisten. Es mag dem belletristen Enkel gestattet sein, das Material, das er zerstückelt verwendet, gründlich zu missdeuten, um seiner umfänglichen Erzählung über den Vater eine besonders zweifelhafte Note zu geben. Eine Arbeit, die sich ausschließlich darauf stützt, kann man Historikern des Formats von Götz Aly oder Reinhard Rürup indes nicht unwidersprochen durchgehen lassen.