Im traditionellen Reclam-Verlag sind Betriebsjubiläen gefeiert worden, nicht aber die Herausgabe von Büchern. Dass die Veröffentlichung einer "runden" Nummer mit einem Festakt einherging, geschah zum ersten Mal im Leipziger Nachkriegsverlag, als Verlagsleiter Gerhard Keil und Cheflektor Hans Marquardt im Jahr 1954 das Erscheinen von Leonhard Franks Erzählung "Karl und Anna" als Nummer 8.000 in "Reclams Universal-Bibliothek" (RUB) mit einer Feier verbanden. Es entsprach seinerzeit nicht nur dem Anliegen von Partei, Kulturministerium und Verlag, dem kulturellen Vertretungsanspruch des ostdeutschen Teilstaates größeres Gewicht zu geben, sondern auch dem des Festredners Hans Mayer, seit 1948 Professor für Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Leipzig.
Im Verlagsarchiv wurde eine in Vergessenheit geratene und als Ganzes unveröffentlicht gebliebene Rede Hans Mayers auf Anna Seghers gefunden, abgelegt als Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und als Reinschrift. Sie lag zwischen Autorenbriefen, Verlagskorrespondenz und Papieren der Veranstaltungsorganisation zum Jubiläum von RUB-Band Nummer 9.000 aus der Zeit zwischen Mai 1961 und Februar 1962.
Das Jubiläum der Nummer 9.000 ist geeignet, sowohl die kulturpolitischen Verhältnisse in den frühen Sechzigerjahren in Ostdeutschland aus der Perspektive eines seiner wichtigsten Verlage als auch die Inszenierung von deren literarischer Öffentlichkeit im deutsch-deutschen Spannungsfeld zu beleuchten. Der besondere zeit- und der literaturhistorische Wert der Rede besteht darin, dass hier bei Hans Mayer – als einem der wichtigsten Vertreter der kulturellen Elite der DDR – ein politischer und auch intellektueller Wendepunkt zu erkennen ist. Nachvollziehbar wird zudem, wie sich aus seiner veränderten intellektuellen Haltung Mayers Verhältnis zum Führungszirkel der SED zu wandeln beginnt.
I. Nummer 9.000: Nicht Georg Maurer, sondern Anna Seghers
Konnte der Reclam-Verlag das 125-jährige Jubiläum am 1. Oktober 1953 und die Feier für RUB-Nummer 8.000 am 10. Dezember 1954 pompös in Szene setzen, wurden die Vorbereitungen für das Erscheinen der Nummer 9.000 am 26. Januar 1962 von immer neuen Hindernissen überschattet, die auf den V. Schriftstellerkongress im Mai 1961, den Mauerbau und auf das 14. Plenum des ZK der SED im November 1961 zurückweisen.
Der seit 1. April 1961 als kommissarischer Verlagsleiter und weiterhin als Cheflektor fungierende Hans Marquardt kümmerte sich persönlich um die konzeptionellen und organisatorischen Vorbereitungen der prominenten Veranstaltung, um schnell auf die wechselnden kulturpolitischen Vorgaben reagieren zu können. Die politische Brisanz einer solchen Jubiläumsveranstaltung war enorm gestiegen und damit auch die Bedeutung der Festrede. Mit Spannung war außerdem zu erwarten, wie Marquardt mit den neu gesetzten kulturpolitischen Spielräumen umgehen würde.
Während Hans Marquardt am 17. Mai 1961, eine Woche vor Beginn des Schriftstellerkongresses, von diesem ausgeladen wurde – offizielle Begründung: Der Schriftstellerverband müsse bei den ohnehin sehr begrenzten Platzverhältnissen "in erster Linie für die Unterbringung der ausländischen und westdeutschen Gäste sorgen"
Tatsächlich wurden beim V. Schriftstellerkongress vor allem die großen Erfolge des Bitterfelder Wegs zelebriert. Während der Staatsrats- und Parteivorsitzende Walter Ulbricht westdeutsche Autoren zu umwerben versuchte und der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des SED-Zentralkomitees, Alfred Kurella, davor warnte, von "zwei deutschen Literaturen" zu sprechen, nahm Kulturminister Alexander Abusch den Mauerbau ideologisch vorweg.
Einem Vorschlag von Hubert Witt, 1959–1986 Lektor im Reclam-Verlag, den Jubiläumsband mit Gedichten von Georg Mauer zu belegen, war kein Erfolg beschieden.
Hans Marquardt, knapp ein Jahr Verlagsleiter und Cheflektor in Personalunion, setzte von Beginn an mit Anna Seghers auf eine Persönlichkeit, die in Ost und West Anerkennung genoss, deren jüngstes Werk den ästhetischen und kulturpolitischen Leitlinien entsprach und die als Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) zugleich die Kulturpolitik der DDR verkörperte.
Besprechung zur Vorbereitung der Feier von RUB Nr. 9.000: Herstellungsleiter Günter Blechschmidt, Cheflektor Hans Marquardt, der Künstlerische Leiter Günter Billig, Verlagsassistentin Lieselotte Sewart und Buchhalter Lothar Kretschmar (v.l.) (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Besprechung zur Vorbereitung der Feier von RUB Nr. 9.000: Herstellungsleiter Günter Blechschmidt, Cheflektor Hans Marquardt, der Künstlerische Leiter Günter Billig, Verlagsassistentin Lieselotte Sewart und Buchhalter Lothar Kretschmar (v.l.) (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Am 1. November 1961 – knapp drei Monate vor dem Jubiläumstermin – informierte Marquardt schließlich die Geschäftsleiter- und Produktionsbesprechung "von der telegraphischen Nachricht des Aufbau-Verlages, daß uns die Genehmigung für den Titel Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen gegeben wird".
Bemerkenswert bleibt hier nicht nur die kurze Produktionszeit für Taschenbücher, die ein Überbleibsel der privatwirtschaftlichen Betriebsstruktur des Verlags und der angeschlossenen Druckerei darstellte, sondern auch, dass Mayer erst in den späten Oktobertagen vom Verlag zu Nachwort und Festrede eingeladen wurde. Die Einladung kann als mit dem Kulturministerium abgestimmte Reaktion auf Mayers Beschwerde gelten, dass er nicht im Widmungsband zum 60. Geburtstag der Autorin im Jahr 1960 vertreten war.
Die beiden Exilanten Anna Seghers (Exilländer Frankreich/Mexiko) und Hans Mayer (Frankreich/Schweiz), Juden, linksrheinischer und bürgerlicher Herkunft, traten in jenen Monaten trotz aller Übereinkunft im Glauben an die politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit der DDR eher als Kontrahenten in Erscheinung. Nach der Rückkehr von ihren Reisen ins westliche Ausland sah sich die Präsidentin des Schriftstellerverbands nach dem Mauerbau im politischen System der DDR fester denn je verankert, während Mayer lavierte und "zwischen den Stühlen sitzend" sich widersprüchlich verhielt, wie Jürgen Teller im Januar 1963 gegenüber Ernst Bloch resümierte.
Die Säuberung an der Leipziger Universität war mit der Zwangsemeritierung des Philosophen Ernst Bloch im Frühjahr 1957 vorerst beendet, markierte aber, wie sich nun zeigte, nur den Beginn der Zerstörung einer einzigartigen Lehrsituation, in der seinerzeit ein "Trupp jüdischer Emigranten aus Amerika", "die recht stark vertretenen 'Westemigranten'" und Vertreter vom "inneren Widerstand" als "maßstabsetzende Lehrer dreier Generationen, dreier Erfahrungen in gemeinsamer Anstrengung" zu arbeiten begonnen hatten, wie der Historiker Walter Markov notierte.
Während Bloch im November 1961 eine Gastprofessur an der Universität Tübingen antrat, verbrachte Mayer sein in Hamburg geplantes Arbeitssemester nun in Leipzig, nicht ohne trotzig anzukündigen, dass "alle Einladungen an Westdeutsche (…) aufrecht erhalten" werden.
II. "… einen großen Eindruck auf das westdeutsche Verlagswesen hinterlassen"
In den Jahren 1954/55 sollte das Unternehmen Reclam "reprivatisiert" werden. Das politische Ziel der Jubiläumsfeier Nummer 8.000 im Dezember 1954 diente dem Amt für Literatur und Verlagswesen unter anderem "im Sinne der Wiedervereinigungspolitik unserer Partei und Regierung" zu: "einem wirkungsvollen und überzeugenden Anschauungsunterricht über die Bereitschaft der DDR-Behörden und des Verlagswesens der DDR, trotz aller politischen Trennungen und verlagsrechtlichen Divergenzen, die durch die Spaltung Deutschlands hervorgerufen sind, das Einigende in den Vordergrund zu rücken und eine reibungslose, faire Zusammenarbeit der noch getrennt arbeitenden sogenannten Parallelverlage herbeizuführen."
Aus dem Jubiläumsjahr 1954 sind zwischen dem Verlag und seinem Festredner keine besonderen Differenzen bekannt geworden, seit dem Beginn der Gespräche über das bevorstehende RUB-Jubiläum 9.000 umso mehr. Nach dem Mauerbau hatte sich dem Kulturministerium, dem die Abteilung Literatur und Buchwesen nun angehörte, und dem Leipziger Reclam-Verlag im Herbst 1961 eine gute Gelegenheit eröffnet, Reclam endlich als eigenständigen Verlag zu etablieren. Den ersten Schritt sollte die Aufgabe der traditionellen Nummernzählung für die Universal-Bibliothek darstellen,
Der Konflikt mit dem westdeutschen Literaturbetrieb lag aber nicht im Interesse Hans Mayers. Er war darauf bedacht, als Wissenschaftler und Autor in Ost- und Westdeutschland präsent zu sein und verstand sich auch nicht als "Lämpchen, was man in der DDR ausknipsen könne, in Westdeutschland aber jederzeit anknipsen könne".
Wegen seines Seghers-Nachworts, einer "Originalarbeit", die, wie Mayer gegenüber Marquardt anmerkte, "eigens für Sie geschrieben wurde", kam es zu einer ersten Verstimmung. Denn Mayer stellte dem Verlag für das Nachwort ein für die damalige Zeit ungewöhnlich hohes Honorar in Rechnung.
Bevor Hans Mayer den Verlag darüber informierte, dass Peter Huchel, Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form", in der ersten Nummer des 1961er-Jahrgangs plane, das Seghers-Nachwort abzudrucken,
Mayer reagierte erbost auf den "Dreh", den Marquardt mit "Sinn und Form" machen wollte: "Sie können doch gar nicht wissen, ob ich mit Huchels Vorschlag wirklich einverstanden bin, da mir unter Umständen daran liegen kann, einen umfangreicheren Essay in 'Sinn und Form' erscheinen zu lassen, um mir nicht selbst den Raum dafür durch einen Abdruck der 12 Seiten über Anna Seghers zu blockieren."
III. "Seghers – ehrlich gesagt – im Augenblick – wichtiger als Festschrift Arnold Zweig"
Die Beschäftigung mit Anna Seghers diente Hans Mayer als Resonanzraum für die Frage, ob die DDR noch der Ort war, an dem sich mit der Kunst Brücken zwischen Ost und West, gestern und heute und zwischen den Exilanten aus Ost und West schlagen ließen. Während er am 9. November 1961 an Stephan Hermlin schrieb, dass ihm dieses Nachwort der RUB-Ausgabe 9.000 "wichtig" sei,
Die Umstände, unter denen 1954 die Rede für RUB-Band 8.000 entstanden ist, waren nicht genauer zu ermitteln, weil dazu keine aussagekräftigen Dokumente im Verlagsarchiv aufzufinden sind.
Leonhard Frank signiert die Vorzugsausgabe der RUB Nr. 8.000 "Karl und Anna", umringt von Cheflektor Hans Marquardt, Verlagsleiter Gerhard Keil und Franks Ehefrau Charlotte (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart/Strahlbild Leipzig)
Leonhard Frank signiert die Vorzugsausgabe der RUB Nr. 8.000 "Karl und Anna", umringt von Cheflektor Hans Marquardt, Verlagsleiter Gerhard Keil und Franks Ehefrau Charlotte (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart/Strahlbild Leipzig)
In Mayers "Vorbemerkung" zu Leonhard Franks Erzählung "Karl und Anna" heißt es jedoch, dass die Ehrung in Reclams Universal-Bibliothek ein geglückter "Wurf" sei und damit auch das Diktum Friedrich Wolfs in der Festrede zum 125-jährigen Verlagsjubiläum nach "Meisterschaft und Volkstümlichkeit" erfüllt wäre.
Der Verzicht auf ein kulturpolitisches Statement zum Jahreswechsel 1961/62 kann als ein Wendepunkt in Hans Mayers Verhältnis zur ostdeutschen Gesellschaft gelten. Denn er entschied sich, sozusagen in der Diaspora jener Monate, von einem bewährten Arbeitsverfahren abzuweichen und wie üblich aus einer Arbeit mehrere öffentliche Anlässe zu bedienen. Er verzichtete darauf, aus der Studie "über die erzählerischen Grundprinzipien der Seghers" den "eigentlichen Redetext"
Der Apparat von Staat und Partei reagierte prompt. Hans Marquardt hatte seinen Dank für die Klärung der "verfahrene[n] Situation im Hinblick auf unsere Jubiläumspublikation" beim amtierenden Cheflektor des Aufbau-Verlages, Günter Caspar, nicht nur mit einer Bitte um eine Rezension in der Wochenzeitschrift "Sonntag" verknüpft, sondern den Kontakt auch genutzt, um ihn über die Bereitschaft des Aufbau-Autors Hans Mayer zu informieren, einen Artikel "über die UB" im "Neuen Deutschland" zu veröffentlichen.
IV. "Wann und wo treffen wir uns?"
Die Frage von Anna Seghers' Sekretärin Grete Raphael nach Ort und Zeitpunkt der Feier zum Erscheinen von Nummer 9.000 bzw. das späte Datum, zu dem die Frage überliefert ist,
Hans Marquardt bei der Feierstunde im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Hans Marquardt bei der Feierstunde im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Nachdem Marquardt am 2. Dezember an den Leipziger Oberbürgermeister geschrieben hatte, konnte er am 9. Dezember "[he]ute schon" Seghers und Mayer mitteilen, dass die Jubiläumsfeier im "Hauptsaal des Gohliser Schlößchens" stattfinden werde.
Auch bei der Fertigstellung des Jubiläumsbandes geriet man unter Druck. Das Büchlein zählte aus produktionstechnischen Gründen zu den sogenannten "Überhangtiteln", konnte also im vorgesehenen Planjahr nicht ausgeliefert werden. Außerdem gelang es nicht, die "cellophanierte" und somit repräsentative Ausgabe pünktlich zur Festversammlung vorzuhalten. Nach Fertigstellung werde er aber "sofort" einige Exemplare überbringen, "dabei können wir ja noch einige Gedanken zum Ablauf der Feier austauschen",
Der Verlag hielt getrennte Pressekonferenzen in Leipzig und Berlin eine bzw. zwei Wochen vor der Feierstunde ab und lenkte die Berichterstattung auf die Rolle der Universal-Bibliothek bei der sozialistischen Bildungs- und Erziehungsarbeit.
Publikum der Feier zur RUB-Nr. 9.000 im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962: die Schriftstellerin Lore Mallachow (r.) und der Schriftsteller und Übersetzer Hugo Huppert, rechts hinter ihm der frühere Verlagsleiter Gerhard Keil (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Publikum der Feier zur RUB-Nr. 9.000 im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962: die Schriftstellerin Lore Mallachow (r.) und der Schriftsteller und Übersetzer Hugo Huppert, rechts hinter ihm der frühere Verlagsleiter Gerhard Keil (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Hier lässt sich ein Modell von inszenierten Publikumsveranstaltungen in Ostdeutschland erkennen, das unmittelbar nach dem Mauerbau und dem Inkrafttreten der neuen Doktrin erste Konturen erhielt und ausbaufähig war. Wenige Jahre später ließen sich inszenierte Proteste von FDJ-Gruppen und sozialistischen Brigaden implantieren, beispielsweise nach dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 bei den Filmvorführungen von "Die Spur der Steine" in Ost-Berlin, Rostock und Leipzig.
Angesichts des Aufwands erscheint es paradox, dass die meisten "Persönlichkeiten" der zentralen Kulturelite aus den Ost-Berliner Ministerien und dem Parteiapparat am 26. Januar 1962 gar nicht nach Leipzig reisten, sondern einzig Hans Mayers Widersacher Alfred Kurella.
Während Mayers Übersetzung der "Karwoche" von Aragon in den renommierten Verlagen Biederstein in West- und Volk und Welt in Ostdeutschland im Herbst 1961 parallel erschien, könnte Kurella zeitgleich mit dem Europäischen Buchklub Zürich in Verbindung gestanden haben. Denn nicht in der DDR, sondern im Verlag des einstigen NS-Funktionärs und Lyrikers Gerhard Schumann
V. Showdown – "Kleine Festrede"
Hans Mayer bei seiner "Kleinen Festrede" im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Hans Mayer bei seiner "Kleinen Festrede" im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Hans Mayer stellte am Anfang seines Auftritts am 26. Januar 1962 klar, was von ihm "heute" nicht zu erwarten sei: "Festrede! Festansprache" stehe auf dem Programm und klinge "ziemlich bedrohlich".
Der Festvortrag hätte unter dem Thema "Die 'zukünftige Vergangenheit', die hier auch 'vergangene Zukunft' ist",
Nach einer Goethe-Replik mit allerlei Wort-Pirouetten bescheinigt Mayer der Autorin "Genialität" und die "Einheit des Menschen und seines Werks". Daraufhin wendet er sich neuen Themen und Schlagworten der Zeit zu, beispielsweise dem Diskurs über den Unterschied in den Begriffen "Dichter" und "Schriftsteller", der damals in Westdeutschland geführt wurde, und über Ulbrichts "Unterscheidung von uneigentlicher und eigentlicher Kunst" – ohne eine eindeutige Haltung zu beziehen. Am Ende seiner Ausführungen kommt er auf eine Figur aus dem Seghers-Roman "Die Entscheidung" zu sprechen.
Herbert Melzer sei kein Dichter, "aber ein Schriftsteller, ein Mann der geistigen Entscheidung, der Entscheidungsmöglichkeit." Melzer habe einst im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, aber den Kontakt zu "den Freunden" verloren und sei ein Erfolgsschriftsteller in Amerika geworden. Im Unterschied zu dem Typus des Unterhaltungsschriftstellers stelle Anna Seghers den Typus einer Dichterin dar, die mit den Möglichkeiten des "Dichtertums" nicht "Missbrauch" getrieben habe wie ihre Figur.
Weil kein Ereignis im 20. Jahrhundert die traditionelle politische Rollenverteilung und die Hoffnungen der Linken derart in Frage gestellt hat wie der Spanische Bürgerkrieg, in dessen Folge es im gesamten sowjetischen Machtbereich zwischen 1948 und 1957 zu zahlreichen Parteisäuberungen gekommen ist, und weil – wie Mayer 1953 gesehen hatte – "wir" alles noch nicht "überwunden" haben und etwas "faul ist im Staate DDR",
In der Erwähnung des Spanischen Bürgerkriegs und in der aufgezeigten Perspektive vom "erfolgreiche[n] Schriftsteller in den USA" scheint in der emotionalen wie ambitionierten Rede ein Widerspruch auf, den Mayer nicht auflöst, sondern mit einer immer geschickteren Steigerung von Etabliertem in Bildlichkeit und rhetorischer Verfahrensweise zu bezwingen sucht.
Reaktionen auf die "Kleine Festrede" sind kaum bekannt geworden. Die Regionalpresse berichtete vorauseilend oder bezog sich nachträglich auf das Pressematerial des Verlages. Überregional hat Günter Caspar im "Sonntag" einige "braune Barden und Reichskulturkammer-Gefeierte" im Stuttgarter Reclam-Programm entdeckt, "die da alle, alle fröhliche Urständ" feierten. Aber: "Nicht im Fünf-Stock-Neubau der Stuttgarter Separatisten, sondern immer noch in Leipzig ist der Reclam-Verlag beheimatet."
Der Dank des Verlages, von Hans Marquardt gleichlautend an Anna Seghers und an Hans Mayer gerichtet, klingt erleichtert und unterkühlt: "Schon heute glaube ich sagen zu können, daß die Begegnung im Gohliser Schlößchen in der langen Geschichte unseres Verlages ihren besonderen Platz" haben werde.
Ob Mayer der Bitte des Lektorats nachgekommen ist, aus seiner "so erfrischend unmittelbaren Festansprache" etwas herauszulösen, was "auch außerhalb des Gesamtzusammenhangs sehr wirkungsvoll für sich stehen kann", lässt sich nicht nachweisen.
Resümee
Die kulturpolitischen Diskontinuitäten seit den Jubiläumsfeiern 1953 und 1954 im Jahr 1962 in eine Kontinuität umzumünzen, wäre einer öffentlichen Kritik gleichkommen, der sich Hans Mayer geschickt entzog. Nachdem der Redner in der Laudatio zwischen Provokation und Unterwerfung, Widerspruch und sachdienlicher Phrase hin und her gewechselt war, resümierte er, Anna Seghers habe "die Einheit ihres Lebens und ihres Werkes bewahrt." Herbert Melzer, der die sowjetischen Freunde im Stich gelassen hat, sei als amerikanischer Erfolgsschriftsteller zu einem Abweichler und DDR-Flüchtling geworden, dessen Gedicht indes gültig geblieben und Teil der Kulturgeschichte geworden sei.
Anna Seghers bei ihrer Lesung im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Anna Seghers bei ihrer Lesung im Gohliser Schlösschen, 26. Januar 1962 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Nachdem Anna Seghers im Mai 1963 an der Spitze der Delegation der DDR zur Kafka-Konferenz nach Liblice gereist ist und Hans Mayer erneut die Teilnahme an einer – anderen – wissenschaftlichen Konferenz in Osteuropa verwehrt worden war,
Der Leipziger Reclam-Verlag widmete dem Werk von Anna Seghers fortan besondere Aufmerksamkeit. Schon im Sommer 1963 wurde Christa Wolf gebeten, eine Seghers-Biografie zu schreiben.
Auch Hans Mayer wurde nicht vergessen. Am Jahresanfang 1967 fragte der nunmehrige Lektor Jürgen Teller seinen früheren Lehrer Ernst Bloch, "wie" der Reclam-Verlag Hans Mayer "eine Reminiszenz zu seinem 60. widmen" könne.