Quelle: Reclam Archiv Leipzig, Ordner 232 [25]. Handschriftliche Änderungen Hans Mayers sind kursiv gesetzt.
[handschr.] Übertragung nach Tonband
Meine Damen und Herren!
Festrede! Festansprache sogar steht hier auf dem Programm, und das klingt ziemlich bedrohlich. Ich las bei unseren Freunden vom Kulturspiegel, ich würde eine literar-historische Einschätzung des Werkes von Anna Seghers geben. Das ist sicher gut gemeint, aber ich darf Sie sofort beruhigen: ich werde nichts dergleichen tun.
Denn ich glaube, Anna Seghers kennen wir, und das Werk der Anna Seghers kennen wir auch, und sind hier zusammengekommen, um sie zu hören, und wir möchten nicht, daß ich nun Ihnen oder gar Anna Seghers mit erhobenem Zeigefinger auseinandersetze, wo sie gefehlt und wo sie recht getan hat. Nichts dergleichen. –
Hans Mayer bei seiner Laudatio auf Leonhard Frank anlässlich der RUB-Nr. 8.000, Dezember 1954 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart/Hilde Wünsche)
Hans Mayer bei seiner Laudatio auf Leonhard Frank anlässlich der RUB-Nr. 8.000, Dezember 1954 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart/Hilde Wünsche)
Leonhard Frank bei der Feier von RUB-Nr. 8.000, Dezember 1954 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Leonhard Frank bei der Feier von RUB-Nr. 8.000, Dezember 1954 (© Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart)
Als wir am 15. Dezember 1954 das Erscheinen der Nr. 8.000 [von "Reclams Universal-Bibliothek] feierten – es war wohl im Rathaus –, da weilte noch Leonhard Frank unter uns. Auch damals hatte ich die ehrenvolle Aufgabe, eine kleine Laudatio für Leonhard Frank zu halten, und wir nannten das damals, glaube ich, eine "kleine Festrede". Kleine Festrede ist eigentlich eine schöne Formulierung, und ich bin gar nicht der Meinung, daß eine Festrede unbedingt lang sein muß. Sie sollte auch gar nicht hier eine geschichtliche Einschätzung geben, sondern Sie erlauben mir, in ein paar Worten, die lediglich den Geist dieser Stunde, den Geist dieses Beisammenseins beschwören, eine kleine Geschichte zu erzählen, und diese Geschichte ist die Geschichte einer Begegnung, die ich einmal mit Anna Seghers hatte; aus dieser aber lassen sich wahrscheinlich doch einige Schlußfolgerungen ziehen.
Es war 1954. Wir waren in München, auf einer Veranstaltung des PEN-Clubs. Es war dort ein Empfang gegeben worden, am nächsten Tag sollten wir von München-Riem wieder im Flugzeug nach Berlin zurückkehren. Anna Seghers war dabei, Erich Wendt, [Alexander] Abusch war noch mit und Johannes R. Becher. Es gab – Anna wird sich sicher erinnern – an der Schranke, wo unsere Papiere angeschaut wurden, einige Unruhe, als man die Papiere von Anna Seghers und Becher betrachtete. Becher wurde daraufhin in ein Nebenzimmer geholt – wir mußten solange warten –, aber dann durfte er aus dem Nebenzimmer wieder herauskommen und in das Flugzeug steigen. Wir konnten starten. Anna Seghers saß am Fenster, ich saß neben ihr. Wir hatten uns angeschnallt, wir starteten. Ich las irgendwelche Zeitungen. Als wir oben waren, schaute ich einen Augenblick hinüber zu Anna, meiner Nachbarin. Es muß hier nun leider gesagt werden: Anna las ein Groschenheftchen! Nicht ein Mickey Spillane
Schöpft des Dichters reine Hand,
Wasser wird sich ballen.
Das ist ein Gedanke, der Goethe sehr teuer war. Das kehrt später im großen Altersgedicht Goethes über den Paria wieder, wie die reine Frau des Brahmanen zum Ufer geht, und das Wasser ballt sich, sie kann es schöpfen, und nur als der Genius der Tiefe, der Dämon, einmal aufgestiegen ist und in ihrem Herzen Platz gefunden hat, verweigert das Wasser den Dienst; das Wasser ballt sich nicht mehr. Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen. Wenn der Dichter tätig wird, dann wird plötzlich aus einer unsäglichen Groschengeschichte die Möglichkeit eines Menschenschicksals, die Möglichkeit einer Dichtung. Davon will ich in diesem Augenblick sprechen. Denn es ist wichtig, daß wir uns dieser Stunde bewußt sind: unter uns ist eine Dichterin! Und das ist eine seltene Angelegenheit. Eine große, wichtige Angelegenheit: ein echter Dichter, und dazu noch ein Dichter unserer Zeit, ein Dichter nicht "an sich", sondern – wenn Sie den dialektischen Ausdruck einmal hören möchten – ein Dichter "für uns".
Anna Seghers hat in dem Roman "Transit" einmal den Satz geschrieben: "Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird." Sie will damit sagen: Das Menschenschicksal, das gestaltet, das erzählt wird, ist dadurch erst abgeschlossen, daß es seine tiefe Bedeutung erhält. Abgeschlossen nun auf einer höheren, größeren Ebene. Es hat eine Sinndeutung bekommen in der Ebene der Kunst. Da viele von Ihnen nicht die sehr schöne Stunde mit Anna Seghers heute morgen in unserer Karl-Marx-Universität erleben durften, will ich einiges von dem rekapitulieren, was wir heute erlebten. Anna Seghers las aus "Transit" und aus der "Entscheidung". Zwei Geschichten, die mit Schriftstellern zu tun haben. "Transit". Ein Mann, ein Emigrant, der die Geschichte "Transit" in der Ichform erzählt, liest das Manuskript eines Dichters, in dem er auch selbst in biographischen Einzelheiten, die der Dichter übernahm, vorkommt. Und plötzlich spürt er, der Erzähler in "Transit", daß sein Leben dadurch gleichsam gereinigt wurde, daß es seine Geschichte war, und trotzdem noch etwas anderes. Und Anna Seghers las eine andere, tief damit zusammenhängende kontrapunktische Geschichte aus der "Entscheidung". Herbert Melzer, der im spanischen Bürgerkrieg kämpfte und dann die Verbindung mit den Freunden verlor, der nun ein Erfolgsschriftsteller und Journalist in Amerika geworden ist, schrieb damals ein Gedicht, ein Kampfgedicht aus dem Bürgerkrieg. Und er kommt nach Mexiko als Reporter, und das Gedicht wurde ins Spanische übersetzt, das Gedicht lebt, das Gedicht wird gesungen. Es ist anonym geworden, hat sich losgelöst von seinem Dichter, ist etwas Besonderes geworden.
Hier steht nun das große Thema des Dichters in unserer Zeit. Zwei Möglichkeiten hat er: die Möglichkeit Herbert Melzers – und diese tragische Geschichte ist im Roman "Die Entscheidung" behandelt. Daß der Mensch geringer ist im Moralischen, im Weltanschaulichen, im Charakter, sagen wir einmal, als das, was er vielleicht gelegentlich einmal geschaffen hat. Hier ist die Geschichte Herbert Melzers geringer geworden als das, was er auf dem Höhepunkt seines Lebens an Gewicht und in der Aktion, zu der auch das Gedicht gehörte, einmal dargestellt hatte. – Und es gibt andere Dichter – die Dichterin Anna Seghers ist hier, wie ich glaube, das Gegenbeispiel –, die im Leben und in ihrer Person nicht geringer sind als ihr Werk; Dichter, bei denen es die Einheit von Subjekt und Objekt gibt, die Einheit von Gestaltung und Sein. Und das ist das Großartige, Tiefergreifende in allem, was wir bei einer Begegnung mit Anna Seghers erleben, in all dem, was wir empfinden, wenn wir diese unverwechselbare Prosa, diese unverwechselbaren Geschichten, die Geschichten der Anna Seghers erleben. Hier ist die Einheit des Menschen und seines Werkes! Sie ist das Einzigartige, das Großartige! Das Dichtertum ist vorhanden, die Möglichkeit, daß Wasser sich ballt, ist gegeben. Aber Anna Seghers hat darüber hinaus mit dieser Möglichkeit nicht den Mißbrauch Herbert Melzers getrieben. Herbert Melzer ist kein Dichter, aber ein Schriftsteller, ein Mann der geistigen Entscheidung, der Entscheidungsmöglichkeit.
Anna Seghers hat die Einheit ihres Lebens und ihres Werkes bewahrt, und nicht nur das: sie hat auch eine andere große menschliche und dialektische Einheit in ihrem Werk immer wieder bewahrt, und eine der schönsten Schöpfungen in diesem Sinne ist jene Erzählung, die – wie ich glaube mit Recht – die Jubiläumsnummer 9.000 der Universal-Bibliothek trägt, nämlich "Der Ausflug der toten Mädchen". Die Einheit dessen, was wir – ich hoffe, daß wir diesmal das Wort nicht mißbrauchen – Heimat nennen wollen, und die Einheit dessen, was wir menschliche Gemeinschaft nennen möchten. Die Einheit des Menschen, der Deutscher ist, deutscher Künstler, undenkbar in seinem Sein ohne seine Heimat, ohne Mainz, ohne das Rhein-Hessische, ohne Deutschland, ohne die deutsche Sprache, die Tradition der deutschen Literatur. Der aber auch die menschliche Gemeinschaft mit seinem ganzen Werk immer wieder als die notwendige Ergänzung empfunden hat. In diesem Sinne ist es eine Dichtung ganz neuer höherer Form: einer Form, die bewirkte, daß Anna Seghers in einem Maße, wie es nur ganz wenigen Künstlern unserer Zeit gewährt ist, geliebt wird von Menschen der verschiedensten Rassen, Sprachen, Nationen, Hautfarben und Kontinente. Weil sie in ihrer Dichtung, wenn sie Menschenschicksale beschreibt, eine Haltung ausdrückt, die in einem früheren Werk als Sammeltitel gewählt wurde, eigentlich jedoch über allen Werken der Anna Seghers stehen könnte: Die Gefährten, Gefährten im Kampf gegen Barbarei, um die Befreiung der unterdrückten Völker, gegen Kolonialismus, bei der Befreiung von der Barbarei der Faschisten, von der Barbarei des Imperialismus. In einer Dichtung, die Dichtung einer sozialistischen Dichterin ist und die dies alles enthält: die Einheit von Subjekt und Objekt.
Eine Dichterin, die alles zu transformieren vermag, aber zu transformieren vermag nicht bloss durch ihr Sosein, sondern durch ihre Entscheidung! Auch ein Titel, der über vielen Werken von Anna Seghers und, wie mir scheint, über ihrem Leben und ihrem Sein stehen könnte. Ein exemplarisches Leben – eine exemplarische Kunst. Zu sagen, wieviel Anlaß wir haben, dafür zu danken, das war die Aufgabe, die ich mir in dieser kleinen Festrede gestellt habe.