In der DDR wurden Bücher nicht ausschließlich verhindert, zensiert und makuliert, sondern in einigen Fällen überhaupt erst möglich gemacht.
Für den Hamburger Volkstanzforscher Herbert Oetke war die Veröffentlichung in einem DDR-Verlag die einzige Chance, sein Lebenswerk jemals gedruckt zu sehen. Nach 17 Jahren Wartezeit konnte der Autor endlich ein Exemplar seines Buches "Der deutsche Volkstanz" in den Händen halten. Verlegt wurde es vom Ost-Berliner Henschelverlag Kunst und Gesellschaft im Jahr 1982. Dem fertigen Buch ging eine lange Phase des Prüfens, Bearbeitens und Korrigierens voraus, die sich in einem Dreieck zwischen West-Autor, Ost-Verlag und Ost-Gutachter entspann. Die Rekonstruktion dieser langwierigen deutsch-deutschen Editionsgeschichte bietet vielfältige Analysepunkte des Literatur- und Wissenstransfers zwischen Ost und West. Sie legt die speziellen Arbeitsweisen des DDR-Verlagswesens offen, welches auch im Umgang mit West-Autoren keine besonderen Rücksichten kannte. Sie zeigt aber vor allem, dass es manche Buchideen im Osten Deutschlands leichter hatten als im Westen.
Die umfangreiche Überlieferung erlaubt es, die Veröffentlichungsgeschichte aus dem Blickwinkel aller drei Parteien zu betrachten. Die Nachlässe des Autors Herbert Oetke und des Gutachters Kurt Petermann liegen im Tanzarchiv Leipzig, welches seit 2011 in der Leipziger Universitätsbibliothek untergebracht ist. Im Archiv des Henschelverlages finden sich die entsprechenden Akten aus dem Lektorat. Für die Rekonstruktion des komplexen Prozesses – mit seinen vielen, teils parallel verlaufenden Vorgängen – bietet sich ein "Kunstgriff" an: Die Darstellung der Editionsgeschichte als klassisches Drama in fünf Akten mit einem Epilog.
Dramatis Personae
Herbert Oetke (1904–1999) (© Volkstanz, 4/1984, S. 64)
Herbert Oetke (1904–1999) (© Volkstanz, 4/1984, S. 64)
Protagonist des Fünfakters ist der Autor Herbert Oetke. Er wurde 1904 geboren und wuchs in Hamburg auf. Über die Wandervogelbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts gelangte Oetke zum Volkstanz. Nach seiner Kunsthandwerks-Ausbildung
Dennoch verließ Oetke 1958 mit Frau und Kind die DDR und kehrte zurück in seine alte Heimat Hamburg. Bei der Entscheidung zur Übersiedlung in die Bundesrepublik spielten neben einer Reihe privater Gründe auch politische Faktoren eine Rolle. Da Oetke kein Parteimitglied war, hatte er beruflich mit Benachteiligungen zu kämpfen.
Im nachfolgenden Drama tritt Oetke als westdeutscher Verfasser des Manuskripts "Der deutsche Volkstanz" auf, der sein Lebenswerk im DDR-Verlag Henschel veröffentlicht sehen will.
Kurt Petermann (1930–1984) (© Ingeborg Stiehler, Leipzig)
Kurt Petermann (1930–1984) (© Ingeborg Stiehler, Leipzig)
Sein Gegenspieler im sozialistischen Volksstaat ist Kurt Petermann, der die Rolle des Gutachters und wissenschaftlichen Bearbeiters einnimmt. Petermann wurde 1930 in Holzweißig bei Bitterfeld geboren. Er studierte in Leipzig unter anderem Musikwissenschaft und Psychologie. Nach dem Abschluss seines Studiums war Petermann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkskunstforschung beim Zentralhaus für Volkskunst in Leipzig tätig.
Vertragspartner des Autors Oetke und des Gutachters Petermann ist der Henschelverlag Kunst und Gesellschaft mit Sitz in Ost-Berlin. Der Verlag wurde 1945 von Bruno und Harald Henschel als Bühnenvertrieb, Zeitschriften- und Buchverlag gegründet. Das Publikationshaus gab in erster Linie Bücher und Zeitschriften auf dem Gebiet der darstellenden Künste heraus und hatte als Theatervertrieb für das Sprechtheater eine Monopolstellung in der DDR inne. Seit 1952 war der Verlag in SED-Besitz und fortan auch auf allen andern Gebieten der Künste verlegerisch tätig: Neben Theater- und Filmliteratur veröffentlichte Henschel Titel zu Musiktheater, Tanz, Unterhaltungskunst, Volkskunst und Bildender Kunst.
Horst Wandrey (M.) auf einer Buchvorstellung mit der Moskauer Autorin Natalie Saz in Berlin, 1966. (© Bundesarchiv, Bild 183-E0224-0019-001; Foto: Klaus Franke/ADN-ZB)
Horst Wandrey (M.) auf einer Buchvorstellung mit der Moskauer Autorin Natalie Saz in Berlin, 1966. (© Bundesarchiv, Bild 183-E0224-0019-001; Foto: Klaus Franke/ADN-ZB)
Im nachfolgenden Fünfakter tritt Horst Wandrey als Vertreter des Henschelverlages in Erscheinung. Wandrey führte den überwiegenden Teil der Verlagskorrespondenz mit Oetke und Petermann. Geboren wurde er 1929 in Nordhausen. Nach seinem Studium der Journalistik und Verlagswirtschaft arbeitete er kurze Zeit im Amt für Literatur und Verlagswesen. 1958 übernahm Wandrey die Stelle des Cheflektors im Henschelverlag und galt damals mit 29 Jahren als jüngster Cheflektor der DDR. Er übte diese Funktion bis 1990 aus. Danach blieb er zeitweise als Geschäftsführer und Programmleiter bei Henschel tätig. Heute lebt Horst Wandrey in Berlin-Köpenick.
1. Akt: Oetkes Manuskript und Suche nach einem Verlag
Das Drama der deutsch-deutschen Veröffentlichungsgeschichte beginnt im Jahr 1966. Herbert Oetke hatte die Ergebnisse lebenslanger Forschungen aus seinen zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen zu einem Buchmanuskript zusammengefügt.
Tatsächlich schien sich kein Verlag für Oetkes Werk zu interessieren. Die Anfragen bei den westdeutschen Verlagen B. Schotts Söhne, Walter Kögler oder Hofmeister blieben sämtlich unbeantwortet.
2. Akt: Henschel signalisiert Interesse – die Lösung aller Probleme?
Nach der Enttäuschung mit den bundesrepublikanischen Verlagen reaktivierte der inzwischen 68-jährige Herbert Oetke seine alten Kontakte in die DDR. Damit rückt im zweiten Akt die Realisierung des Buchprojekts für Oetke in greifbare Nähe. Es war Kurt Petermann, Leiter des Tanzarchivs in Leipzig, der aus Kenntnis des Buchmanuskripts Oetke riet, doch einmal den Ost-Berliner Henschelverlag in dieser Sache anzuschreiben.
Der Henschelverlag hatte zunächst ein Gutachten bei dem Tanzwissenschaftler und langjährigem Verlagsautor Bernd Köllinger in Auftrag gegeben. Köllinger stellte darin sogleich fest, dass Oetkes Werk für weitere "wissenschaftliche Arbeiten als auch für die künstlerische Praxis von unschätzbarem Wert" sei. Methodisch nehme Oetke zwar eine "bürgerlich-fortschrittliche Haltung" ein, "zu einer echten dialektischen Durchdringung des Stoffes" und einer – aus Sicht des Gutachters – konsequenten ideologischen Schlussfolgerung dringe er jedoch nicht vor. Glücklicherweise sei aber die Erforschung des folkloristischen Tanzerbes "eine Art von Wissenschaft, die durch die Logik der vorgetragenen Fakten zu einer marxistischen Konzeption" hindränge.
Um über die Herausgabe des Buches und die notwendigen Korrekturen direkt mit dem Autor verhandeln zu können, reiste Cheflektor Horst Wandrey im Sommer 1974 nach Hamburg.
3. Akt: Eine schwere Geburt – doch das Buch erscheint
Die Zeit vom Vertragsabschluss im Frühjahr 1977 bis zur Veröffentlichung des Buches zum Jahreswechsel 1982/83 ist die mittels Schriftverkehr am ausführlichsten überlieferte Phase dieser Editionsgeschichte. Für die Bearbeitung des Manuskripts, die Überprüfung sämtlicher Quellen und bibliografischer Angaben wie auch für die Noten- und Bildauswahl musste ein Fachmann gewonnen werden, da der Verlag die Arbeiten nicht selbst durchführen konnte. Man traf schließlich mit dem Tanzwissenschaftler Kurt Petermann, dem bisher größten Fürsprecher Herbert Oetkes, eine vertragliche Übereinkunft über die Ausführung sämtlicher anstehender Arbeiten.
Mit der Übernahme dieser Aufgaben änderte sich das Verhältnis zwischen Oetke und Petermann – aus dem einstigen Förderer wurde nun der Kritiker. Schon nach der Durchsicht des ersten Kapitels schrieb Petermann an den Verlag: "Das Oetke-Manuskript ist sortiert und ich habe mit der Redaktion des Textes begonnen. Jetzt weiß ich erst, auf welch problematisches Unternehmen ich mich da eingelassen habe. Ich mußte Herbert Oetke nach Durchsicht des Kapitels Reifentanz einen Brief schreiben, der die wichtigsten Probleme der Überarbeitung enthält. Stilistische und orthographische Fragen habe ich hier gar nicht erwähnt, sondern ich habe ihn nur in Kenntnis gesetzt, daß sein Manuskript einer grundsätzlichen Überarbeitung bedarf."
Die Liste seiner Beanstandungen war lang. Fast alle Mängel betrafen die unwissenschaftliche Arbeitsweise des Autors, wie beispielsweise fehlende Belege durch Fußnoten und unvollständige Quellenangaben, das unkommentierte, seitenweise Zitieren anderer Forscher sowie die Fehlinterpretation einiger Originaltexte.
Die redaktionelle Bearbeitung war durch die Überprüfung sämtlicher Originalquellen, die Bildbeschaffung und Melodieauswahl sehr aufwendig und zog sich insgesamt über zwei Jahre hin. Im Frühjahr 1981 reiste Herbert Oetke schließlich nach Leipzig um sein Manuskript, welches er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, für den Druck zu autorisieren. Dort musste er feststellen, dass "starke Kürzungen, aber auch Änderungen im Text vorgenommen wurden".
Herbert Oetke, Der deutsche Volkstanz, Band 2 (© Henschelverlag)
Herbert Oetke, Der deutsche Volkstanz, Band 2 (© Henschelverlag)
Nach weiteren Verzögerungen wurde das Buch schließlich im Frühjahr 1983 ausgeliefert. Ein Ereignis auf das Herbert Oetke 17 Jahre lang gewartet hatte und das den Höhepunkt des vorliegenden Dramas markiert. Mit Erschrecken musste er nach Durchsicht des fertigen Buches feststellen, dass sein Gutachter plötzlich als Urheber des zweiten Bandes auf dem Titelblatt erschien, obwohl der Notenanhang wesentlicher Bestandteil von Oetkes Manuskript und seiner lebenslangen Sammelleistung war.
4. Akt: Oetke kämpft um Richtigstellung in einer Neuauflage
Der Erkenntnis Oetkes, seines geistigen Eigentums öffentlich beraubt worden zu sein, folgt im vierten Akt die dringende Forderung nach Richtigstellung in Form einer Neuauflage des zweiten Bandes. In einer Flut von Briefen wandte sich der Autor in den Monaten nach dem Erscheinen an den Henschelverlag. Während es ihm anfänglich noch darum ging, seine Urheberschaft auf dem Titelblatt korrigieren zu lassen, waren es bald allerlei Fehler im Notenanhang, in der Bildauswahl und im Register, die der Autor beanstandete und seinem Bearbeiter zur Last legte. So beschwerte sich Oetke beispielsweise: "Text und Melodie stimmen nicht überein, weil Dr. Petermann einen Text bringt, der nicht aus meinem Original stammt. Ist das nun Besserwisserei oder wieso fühlt er sich berufen als 'Gutachter' Zensur zu üben?"
Da Oetke trotz aller Bitten um eine Stellungnahme vom Verlag nichts Konkretes hörte, drohte er mit Vertragskündigung, auf die er nur durch den Druck einer korrigierten Nachauflage zu verzichten bereit wäre.
5. Akt: Vertragsauflösung und Ende der deutsch-deutschen Zusammenarbeit
Die Lösung des Konflikts und das Ende des dramatischen Geschehens werden eingeleitet durch den plötzlichen Tod Kurt Petermanns im Jahre 1984. Oetke verzichtete daraufhin im Interesse der Sache und aus Anerkennung der Verdienste Petermanns auf die angedrohte Vertragskündigung.
Das Ende der Zusammenarbeit mit dem Henschelverlag wurde mit einem Schreiben Wandreys an Oetke besiegelt,
Epilog
Ein genauer Blick auf die Dreieckskonstellation dieser dramatischen Veröffentlichungsgeschichte zwischen Hamburg, Leipzig und Ost-Berlin offenbart die Reibungspunkte im Verhältnis der beteiligten Personen. Die Beziehung zwischen dem Verlagsvertreter Horst Wandrey und Herbert Oetke war von Beginn an von einem auffallend freundschaftlichen Ton geprägt. Oetke war sehr dankbar, dass sich Wandrey mit großem persönlichen Einsatz für sein Buch engagierte. Bis zuletzt wollte er weder dem Cheflektor noch dem Henschelverlag eine Schuld für die entstandenen Fehler in seinem Buch zuweisen.
Oetke und Petermann begegneten sich zunächst auf fachlicher Ebene. Der Autor erkannte in dem DDR-Wissenschaftler einen kompetenten Gesprächspartner und brachte während der gesamten Korrekturphase immer wieder zum Ausdruck, wie froh er darüber sei, dass man Petermann für die Bearbeitung herangezogen habe. Die kurz vor der Veröffentlichung aufkommenden Differenzen zwischen den Beiden lagen vor allem darin begründet, dass Oetke seine ganze wissenschaftliche Arbeit aus persönlicher praktischer Erfahrung ableitete, während Petermann als studierter Geisteswissenschaftler einen wissenschaftlichen Anspruch vertrat, dem Oetke nicht entsprechen konnte. In den Akten stellt sich die jahrelange Korrespondenz zwischen den beiden Volkstanzexperten Oetke und Petermann sowohl in ihrer Quantität als auch in dem darin ausgedrückten Vertrauensverhältnis als sehr eng dar. Gerade in den ersten Jahren, als der Verlag den Autor nur spärlich über den Fortgang der Arbeiten informierte, war es immer wieder Petermann, der seinen "alten Freund" mit den neuesten Informationen versorgte. Deshalb erstaunt es ein wenig, dass in diesem Dreiecksgespann Oetke für Wandrey und den Henschelverlag zum Ende der Geschichte unbedingt Partei ergreift.
Spätestens mit dem Auftauchen des Namens Kurt Petermann auf dem Titelblatt des zweiten Bandes kam es zum Bruch zwischen Oetke und Petermann. Dieser Vorgang entbehrt nicht einer gewissen Tragik, denn bis zuletzt lässt die Aktenlage keine Schlüsse darüber zu, ob der Namenszug mit oder ohne Einverständnis Petermanns gedruckt, ob er absichtlich oder aus Versehen vielleicht vom Lektor, vom Hersteller oder von Petermann selbst eingefügt wurde. Fest steht aber, dass Petermanns Gutachtertätigkeit weit über das normale Maß hinaus ging, sodass man bei der kommentierten Auswahlbibliografie tatsächlich von seiner Urheberschaft sprechen muss. Symptomatisch für den tragischen Gehalt des vorliegenden Dramas ist der Namenszug auch deshalb, weil er zeigt, wie machtlos Oetke den Vorgängen hinter der Mauer ausgeliefert war. Viele Entscheidungen und Eingriffe liefen für ihn im Verborgenen ab und traten erst mit der Veröffentlichung zu Tage.
Der gesamte Prozess war von Missverständnissen, von fehlerhafter oder fehlender Information geprägt, die zu einem unbefriedigenden Ergebnis für alle Beteiligten führten: Oetke sah sich in seiner Urheberschaft nicht genügend gewürdigt und zudem sein Werk manipuliert. Petermann musste erkennen, dass sich die jahrelange intensive Arbeit nicht gelohnt hatte. Einerseits genügte die Endfassung aus Rücksichtnahme auf Oetke nicht seinen eigenen wissenschaftlichen Ansprüchen, andererseits erntete er Undank vom Autor. Trotz alledem war vor allem Petermann bis zuletzt um das Manuskript bemüht. Für den Verlag standen die hohen finanziellen Aufwendungen, der schlechte Absatz und die anschließenden Diskussionen mit Oetke für den unbefriedigenden Ausgang der Geschichte.
Von den persönlichen und kommunikativen Schwierigkeiten des Publikationsprozesses einmal abgesehen, bleibt eine weitere zentrale Frage zu klären: Warum wagte sich kein Verlag aus der Bundesrepublik, sondern nur einer aus der DDR an die Realisierung dieses Buchprojekts? Die Gründe dafür sind zwar vielfältig, lassen sich aber im Wesentlichen auf die zwei Prinzipien des Büchermachens zurückführen. Jede Entscheidung für oder gegen ein Buch ist abhängig von der Einschätzung seines ökonomischen und seines geistig immateriellen Wertes.
Oetkes Bemühungen, sein Buch zunächst in einem westdeutschen Verlag unterzubringen, scheiterten unter anderem, weil die anstehenden Kosten und der zu erwartende niedrige Absatz die Verlage aus wirtschaftlichen Gründen zu einer Absage zwangen. Für eine Ausstattung wie Oetke sie sich für sein Lebenswerk vorstellte, mit zahlreichen Illustrationen im Text und einem gesonderten Melodienband, wären neben den erhöhten Satz- und Druckkosten noch Mittel für die Beschaffung geeigneter Vorlagen und eine redaktionelle Bearbeitung hinzugekommen. Selbst der aussichtsreiche Versuch, das Projekt mit Hilfe eines Zuschusses der DFG beim Bosse Verlag zu realisieren, führte nicht zum Erfolg. Der Verlag fand keine Lösung, "wie das Buch selbst mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu einem erschwinglichen Preis herzustellen wäre."
Für den Henschelverlag stellten sich die finanziellen Eckdaten dieses Großprojektes nicht grundlegend besser dar – im Gegenteil, der ostdeutsche Verlag musste für die Bezahlung des Autors knapp bemessene Valutamittel freibekommen. Die Kalkulation des Henschelverlags konnte sich aber auf die Bereitstellung von Subventionen aus dem Kulturfonds in Höhe von 25.000 Mark stützen. Zudem rechnete man fest damit, einen Teil der Auflage an einen Partnerverlag in der Bundesrepublik verkaufen zu können. Was auch gelang: Den circa 7.000 DM Devisenausgaben für Autoren- und Bildhonorare standen am Ende 30.000 DM Einnahmen gegenüber, die man für den Mitdruck einer Teilauflage für den Heinrichshofen's Verlag verbuchen konnte.
Die Motive des Henschelverlages, sich für die Inverlagnahme des Oetke-Manuskriptes zu entscheiden, sind jedoch weniger in der Erwartung eines großen finanziellen Erfolges zu suchen als in der Einschätzung des besonderen kulturpolitischen Wertes. Als zentraler Verlag der Künste hatte Henschel den Auftrag möglichst alle Bereiche des kulturellen Lebens der DDR durch entsprechende Publikationen zu begleiten und zu fördern. Der Volkstanz im Besonderen und die folkloristische Volkskultur im Allgemeinen nahmen in der sozialistischen Kulturpolitik der DDR eine wichtige Rolle ein: "Vom werktätigen Menschen aller Zeiten geschaffen und getanzt, immer neu umgebildet und weiterentwickelt, zeugt der Volkstanz für die nie versiegende Schöpferkraft und die nie unterdrückbare Lebensfreude des Volkes."
Stellt man die Verkaufszahlen der beiden Ausgaben in den verschiedenen Vertriebsgebieten einmal gegenüber, wird deutlich, wie unterschiedlich der Markt für Volkstanzliteratur in Ost und West war: Im Zeitraum von anderthalb bis zwei Jahren nach dem Erscheinen des Buches konnte Henschel in der DDR etwa 1.360 Exemplare absetzen.
Dass die Forschungen Herbert Oetkes in der DDR weit mehr Beachtung fanden als in der Bundesrepublik, zeigt auch der Ankauf seiner Volkstanzsammlung für das Tanzarchiv. Schon in der Begründung des Kulturfondsantrages verwies der Henschelverlag auf eine bestehende Übereinkunft bezüglich einer Archivübernahme durch die Akademie der Künste der DDR nach Fertigstellung des Buches.
Zuletzt wäre Herbert Oetke beinahe noch eine späte Ehre in der Bundesrepublik zuteil geworden. Der Vorschlag zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wurde jedoch abgelehnt. Damit wollte sich ein Kenner des Oetkeschen Schaffens nicht abfinden und wandte sich deshalb direkt an Erich Honecker: "Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender! Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland wende ich mich an Sie mit einer zweifellos recht ungewöhnlichen Bitte: (…) Da es in der DDR offensichtlich besser um die Förderung des deutschen Volkstanzes bestellt ist, hoffe ich, daß Sie das Wirken von Herrn Oetke mit einem 'Kulturpreis' auszeichnen können."
Nach Prüfung der gegebenen Möglichkeiten im Ministerium für Kultur musste man auch dort feststellen: "leider [können] wir in diesem Falle nichts tun."