"Es ist tief bedauerlich, daß die Zonengrenzen nicht nur
die Körper und Sachen im Raume trennen, sondern auch geeignet sind,
die Gemüter zu scheiden und die alten und herzlichen Beziehungen
zwischen Autor und Verleger zu zerschneiden […]."
Ernst Reclam, April 1947
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann in Leipzig, der einstigen Welthauptstadt des Buches, der Aufbau über Trümmern. Die Luftangriffe der Jahre 1943 und 1944 hatten insbesondere das Grafische Viertel schwer getroffen: Viele Druckerei- und Verlagshäuser waren zum Teil vollständig zerstört und unzählige Tonnen Papiervorräte vernichtet worden. Riesige Bücherbestände, die nicht rechtzeitig ausgelagert worden waren, waren zu Asche verbrannt. Nach Kriegsende schließlich führte die kurzzeitige amerikanische Besatzung dazu, dass die Buchstadt einige ihrer wichtigsten Strukturen und Verlage an die westlichen Besatzungszonen verlor: Insel, Thieme, Brockhaus, Breitkopf & Härtel sowie die Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung nahmen die Einladung der Amerikaner an und entsandten leitende Angestellte in Richtung Wiesbaden.
Auch Ernst Reclam, damals Leiter des weltberühmten Verlags, hatte ein solches Angebot bekommen, schlug es aber aus, um stattdessen am Wiederaufbau des Leipziger Buchhandels mitzuwirken. Er unterstrich dieses Vorhaben, indem er im Mai 1946 erster Vorsteher des wieder zugelassenen Börsenvereins der deutschen Buchhändler wurde und dieses Amt bis Anfang 1948 bekleidete.
Trotz seines Engagements sah sich jedoch auch Ernst Reclam in den Nachkriegswirren vor zahlreiche Schwierigkeiten gestellt. Nach langen und zermürbenden Auseinandersetzungen erhielt er zwar im März 1946 die Lizenz zur Wiederaufnahme der Produktion, doch die Papiervorräte blieben knapp und nur ein geringer Teil davon wurde für privat geführte Altverlage wie Reclam freigegeben. Hinzu kam, dass Reclam im Zuge der Demontagen zur Wiedergutmachung im Winter 1946 den größten Teil seiner technischen Anlagen verlor.
Um dieses Problem zu umgehen, kam Ernst Reclam seinen Autoren oftmals so weit entgegen, dass er sich zu einer westlichen Lizenzausgabe bereit erklärte, falls die Druckgenehmigung in Leipzig nicht zu erlangen war. Diese Strategie hatte den Vorteil, dass Reclam mithilfe seiner 1947 gegründeten Stuttgarter Zweigstelle die Autoren weiterhin an sein Haus binden konnte und die Werknutzungsrechte nicht an einen anderen Verlag verlor. Für die Betroffenen allerdings war es nicht immer angenehm, mit ihren Bitten nach Stuttgart verwiesen zu werden, da der dortige Geschäftsführer Gotthold Müller sie mit Verweis auf Papiermangel und begrenzte Herstellungsmöglichkeiten oft abermals vertrösten musste. Der Garten-Schriftsteller Karl Foerster bezeichnete diese Praxis unverblümt als "Stuttgarter Verschleppungsgewohnheit".
Um die Gründe zu verstehen, die viele Westautoren bewegten, ihre Verträge mit Reclam zu lösen, kommt man nicht umhin, sich die Gesamtsituation des Schriftstellers im Ostdeutschland der Nachkriegszeit vor Augen zu führen: Zensur und Papierzuteilung lähmten die Verlage, sodass sie dem Drängen ihrer Autoren auf Neuherausgabe ihrer Bücher nur in den seltensten Fällen nachgeben konnten. Immer wieder mussten Werke mit Verweis auf den Kulturellen Beirat abgelehnt werden. An den Schweizer Autor Leo Kobilinski-Ellig schrieb Ernst Reclam beispielsweise: "Ich glaube auch kaum, daß irgendein Werk, das Sie, soweit ich Ihre Einstellung kenne, schreiben werden, hier zum Druck zugelassen wird."
Ernst Reclam legte also auch weiterhin äußerste Vorsicht an den Tag, wenn es um die Auswahl der Werke ging, die dem Kulturellen Beirat vorzulegen waren. Das Wenige, das er an Werken lebender Autoren einreichte, wurde durch die zahlreichen Ablehnungen des Beirates weiter dezimiert. Dabei waren die teilweise völlig absurden Begründungen hierfür, die oft persönliche Geschmacksurteile enthielten, wenig geeignet, die in den Jahren nach 1945 schwer ringenden Autoren zu besänftigen. Felix Genzmer, Herausgeber und Übersetzer aus dem Alt- und Angelsächsischen, fasste gegenüber Ernst Reclam die frustrierende Situation des Nachkriegsautors folgendermaßen zusammen: "Sie werden sich denken können, wie niederdrückend es ist, wenn man an so und so vielen Stellen Manuskripte liegen hat, die längst, einige schon seit Jahren, angenommen sind, zum Teil sogar schon gesetzt und gematert sind, aber nicht gedruckt werden. Man kann dabei wirklich die Lust verlieren, überhaupt noch etwas zu schreiben."
Tatsächlich waren die häufig kritisierten langen Bearbeitungszeiten im Kulturellen Beirat und die zeitraubenden Verhandlungen um Papier verantwortlich dafür, dass zahlreiche, besonders ältere Autoren des Wartens leid wurden. "Sie können von mir als 76-jährigen alten Herrn nun nicht verlangen, daß ich noch jahrelang auf das Wiedererscheinen meiner Bücher warten soll",
Waren alle vorgenannten Schwierigkeiten umschifft und das Buch endlich erschienen, stellte sich die Frage, wie im Westen lebende Autoren für ihre Arbeit entlohnt werden konnten. Ohne auf die sich mehrmals ändernden Bestimmungen über sogenannte Westzonenkonten genauer einzugehen, kann festgehalten werden, dass es den Verlagen äußerst schwer gemacht wurde, ihren Westautoren das ihnen zustehende Honorar zukommen zu lassen. Eine Auszahlung in Westmark kam dabei zunächst überhaupt nicht in Frage. So zeigte sich der Naturheilkundler und Reclam-Stammautor Alfred Brauchle im Dezember 1950 empört über die Schwierigkeiten bei der Honorarüberweisung: "Ich bedaure aufrichtig, dass ich mit nichts anderem als mit Bestimmungen abgespeist werde und dass es offenbar in der DDR nicht mehr so viel mitfühlende Menschlichkeit gibt, einem in Not befindlichen Mitglied der Familie, dem die Überweisung zu Weihnachten zugesagt worden ist, einen Betrag von DM 100 […] rasch zu überweisen."
Bis 1953 musste sich Reclam mit rund 50 Autoren aus den westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik bezüglich der Rückgabe von Verlagsrechten, der Willkür der Zensur, der Zwangslage des Verlages und der schwierigen Honorarbedingungen auseinandersetzen. Zahlreiche Autoren und Werke wechselten zu Reclam Stuttgart oder zu anderen westdeutschen Verlagen, darunter neben Gunnarsson auch Eugen Diesel, Herbert Tjadens, Theo Herrle, Moritz Jahn und der "Erfolgsautor der 'Inneren Emigration'"
1. "Geben Sie meine Bücher frei": Der Fall Hans Künkel
Kaum hatte sich Ernst Reclam im Frühjahr 1947 von der niederdrückenden Demontage erholt, sah er sich neuen Ärgernissen gegenüber: Sein in Wolfenbüttel lebender Autor Hans Künkel forderte die Verlagsrechte seiner sechs bisher bei Reclam erschienenen Werke zurück:
Die Erstausgabe des Niklas von Cues von Hans Künkel, Leipzig 1936. (© Reclam Verlag)
Die Erstausgabe des Niklas von Cues von Hans Künkel, Leipzig 1936. (© Reclam Verlag)
"Schicksal und Liebe des Niklas von Cues", "Anna Leun", "Laszlo", "Ein Arzt sucht seinen Weg", "Die arge Ursula" und das Drama "Kaiphas". Auslöser hierfür war ein Missverständnis zwischen Verlag und Autor, das an dieser Stelle nicht von Belang ist, das Künkel aber den Beweis für "die Schwierigkeit einer Verständigung und ersprießlichen Zusammenarbeit über die Zonengrenze hinweg" lieferte.
Ernst Reclam zeigte sich von diesem Verhalten schwer enttäuscht, doch erwartungsgemäß wies er eine Abtretung der Verlagsrechte entschieden zurück.
Reclam trafen die persönlichen Anschuldigungen Künkels sehr, wie aus seinen Briefen an Nußbächer hervorgeht: "Es ist ja auch direkt abstoßend, wie er Sie und Herrn [Gotthold] Müller mit Liebe und Hochschätzung behandelt, während sein 'Vertrauen in die Geschäftsführung des Verlages zusammengebrochen ist', womit er mich meint, weil es ihm aus irgendwelchen Gründen besser passt, zu einem anderen Verleger überzuschwenken. […] Mir ist es äußerst dégoutant, wenn ein Mann, der früher freundschaftlich tat, plötzlich so umschwenkt, ohne wirklich stichhaltigen Grund."
Nußbächer versuchte, beschwichtigend einzugreifen. Allerdings konnte auch er das Ausmaß von Künkels Gekränktheit nicht nachvollziehen: Es sei ihm "unbegreiflich, warum und wieso in Ihnen eine solche Erbitterung […] gegen den Verlag entstanden ist, der jedenfalls viele Jahre hindurch sein Bestes getan hat […], um Ihr dichterisches Werk zu fördern", schrieb er an Künkel und erinnerte ihn daran, dass auch der Verlag mannigfaltige Schwierigkeiten zu erdulden gehabt hatte – "da muss doch auch der Autor dieses Verlags Gerechtigkeit walten lassen!"
Für einige Zeit trat daraufhin Ruhe ein, bis Künkel Ende Dezember 1947 den Verlag dringend aufforderte, seine Bücher auch dem westlichen Buchhandel zugänglich zu machen. Da sein Hauptarbeitsgebiet in den Westzonen liege, sei dort das Bedürfnis nach seinen Werken weitaus größer als in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Mit dem Appell: "Ich werde durch Sie des Ertrages und der Auswirkung der Hauptarbeiten meines Lebens beraubt",
Doch auch nach diesem Entgegenkommen gab Künkel seinen Kampf um die Verlagsrechte seiner Bücher nicht auf und verlegte sich nun aufs Flehen. Er sei in finanzieller Not, sehe sich des Erfolges seiner Lebensarbeit beraubt und müsse seine Zeit zum Geldverdienen statt zum Schreiben verwenden: "Ein Verlagshaus steht vor der Tür, das sofort bereit ist, meinen 'Niklas' für die Westzone zu drucken, wodurch ich meine Freiheit mit einem Schlage wieder hätte. Ich habe bis jetzt 'Nein' gesagt. […] Aber ich möchte nun doch von Ihnen als dem Chef des alten Hauses persönlich hören, dass Sie wirklich bereit sind, meinem künstlerischen Schaffen die Lebensader abzuschneiden […], dass Sie lieber mein schriftstellerisches Lebenswerk der Vergangenheit und Zukunft knicken wollen, als auf einen finanziellen Vorteil zu verzichten, der übrigens für Sie und Ihr Haus nicht greifbar ist. […] Geben Sie meine Bücher frei. Ich bitte Sie darum bei allem, was uns verbunden hat, aber auch bei dem guten Geist Ihres alten Verlagshauses, das durch so lange Zeiten einer der ersten Förderer der deutschen Dichtung war."
Ernst Reclam ließ sich hiervon kaum beeindrucken: Die von Künkel erhobenen Vorwürfe seien gegenstandslos, er wolle ihm nichts dergleichen antun und die Verlagsrechte werde er nicht freigeben, da noch immer genügend Vorräte seiner Werke vorhanden seien und nun endlich auch eine Auslieferung nach Westdeutschland erfolge.
Tatsächlich traf bereits vier Tage später ein weiterer Brief Künkels ein. Hierin setzte er Ernst Reclam davon in Kenntnis, dass sein "Niklas von Cues", "Ein Arzt sucht seinen Weg" und "Laszlo" demnächst im Braunschweiger Vieweg Verlag erscheinen würden. Da Vieweg inzwischen bereits zwei Werke aus seiner Feder herausgebracht habe, wolle er nun seine Bücher in einem Verlag vereinen. Künkel sprach gleichzeitig die Hoffnung aus, "daß Sie meine jetzige endgültige Entscheidung nicht als eine persönliche Unfreundlichkeit, sondern als die Konsequenz einer Entwicklung auffassen, die wir rückwärts zu revidieren nicht mehr imstande sind."
Wie zu erwarten, hielt Ernst Reclam weiterhin an den Verlagsrechten fest: "Verlagsverträge sind zweiseitige Verträge, die nicht ohne Grund von der einen Seite gelöst werden können",
Künkel fühlte sich zwar weiterhin im Recht, wollte aber "der literarischen Welt nicht das Schauspiel eines Prozesses zwischen zwei so alten Verlagshäusern […] geben."
Hans Künkels Propheten erscheint 1949 bei Reclam Stuttgart. 1959 wechselt das Werk zur Evangelischen Verlagsanstalt. (© Reclam Verlag)
Hans Künkels Propheten erscheint 1949 bei Reclam Stuttgart. 1959 wechselt das Werk zur Evangelischen Verlagsanstalt. (© Reclam Verlag)
neue Werke Künkels herausgebracht: "Propheten" (1949) und "Labyrinth der Welt" (1951). Nach Künkels Tod im Jahre 1956 sollte bis auf die beiden letztgenannten keines dieser Werke je wieder erscheinen: weder bei Reclam noch bei Vieweg oder einem anderen Verlag.
Am Beispiel Hans Künkels ist deutlich zu sehen, dass in den von Mangel geprägten Jahren nach dem Krieg nicht nur die Verleger um ihre Autoren kämpfen mussten, sondern umgekehrt auch die Autoren um Neuauflagen ihrer Bücher und letztlich ums Überleben. Mag es bei Künkel auch nicht um seine Existenz gegangen sein, so investierte er doch außerordentlich viel Energie in die Wiedererlangung seiner Verlagsrechte, um diese andernorts gewinnbringender einsetzen zu können. Hinzu kommt, dass in diesem Fall die Diskussion auf einer sehr persönlichen Ebene stattfand und stark durch die Gefühle und Eigenheiten der Beteiligten beeinflusst und geschürt wurde. Angesichts der großen Belastung, die diese Auseinandersetzung für Ernst Reclam bedeutete, erscheint es umso erstaunlicher, mit welcher Unnachgiebigkeit der 72-Jährige an seinen Verlagsrechten festhielt. Den Weg des geringsten Widerstandes war Reclam hierbei jedenfalls nicht gegangen.
2. Von Reclam zu Reclam: Ludwig Klages und die "Ursprünge der Seelenforschung"
Drei Ausgaben, drei Ausstattungen: RUB Nr. 7514 bei Reclam Leipzig (1942), Reclam Stuttgart (1952) und in der neuen Gestaltung ab 1970. (© Reclam Verlag)
Drei Ausgaben, drei Ausstattungen: RUB Nr. 7514 bei Reclam Leipzig (1942), Reclam Stuttgart (1952) und in der neuen Gestaltung ab 1970. (© Reclam Verlag)
Eine recht aufreibende Auseinandersetzung hatte Ernst Reclam im Jahr 1947 auch mit dem Schweizer Philosophen und Graphologen Ludwig Klages bezüglich einer Neuauflage seines Werkes "Ursprünge der Seelenforschung" zu führen (Reclams Universalbibliothek Nr. 7.514).
Obwohl Reclam zugleich ankündigte, sich um eine Druckgenehmigung für eine Neuauflage der "Ursprünge" zu bemühen, zeigte sich Klages nicht besänftigt: Er beschwerte sich über das mangelnde Engagement des Verlages, der seit Kriegsende nichts unternommen habe, um sein seinerzeit so lebhaft begrüßtes Bändchen wieder auf den Markt zu bringen, und erklärte, dass er sich mit der von Reclam geäußerten ungewissen Aussicht auf Neudruck nicht zufriedengeben könne: "Das mindeste, um was ich ersuchen muß, ist, daß Sie mich bevollmächtigen, die Lizenz […] einem dafür in Frage kommenden Verlage zu erteilen. Andernfalls würde ich ohne weitere Rücksichtnahme auf Verträge über mein Skriptum verfügen."
Nun war es an Ernst Reclam, deutliche Worte zu finden: Offenbar wisse Klages nichts von den schwierigen Verhältnissen in Leipzig und der absoluten Abhängigkeit vom Kulturellen Beirat, was ihn jedoch keineswegs ermächtige, sich über vertragliche Abmachungen ohne Weiteres hinwegzusetzen. Eine Lizenz käme nur für den Reclam Verlag Stuttgart in Frage und Klages solle sich dorthin wenden.
Ernst Reclam bemühte sich, die Diskussion zu entschärfen: "In dem Briefwechsel mit dem Reclam-Verlag kann nur jemand eine Komik finden, der in der freien Schweiz lebt, fern von allen Schwierigkeiten, unter denen wir Deutschen leiden müssen. Wenn Sie sich gleich an die Stelle gewandt hätten, mit der Sie den Vertrag haben, nämlich an mich, so würde schon ein Teil der Komik weggefallen sein, den 4. Reclam-Verlag gibt es ja sowieso nicht."
Am Fall Ludwig Klages lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie schwierig es selbst für einen Verlag mit einem so bedeutenden Namen wie Reclam sein konnte, unter Nachkriegsbedingungen den Wünschen seiner Autoren gerecht zu werden, und wie groß die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten des Verlegers und den Interessen des Autors war. Einen Kompromiss zwischen beiden zu finden, gelang selten und forderte vom Verleger ein hohes Maß sowohl an Einfühlungsvermögen, Gleichmut und diplomatischem Geschick als auch an Durchsetzungsvermögen und Stärke.
3. "Anklänge an die nationalsozialistische Sphäre": Die Werke Rudolf Huchs
Die Erzählung Hans der Träumer von Rudolf Huch erschien 1925. Der Schutzumschlag war der Auftakt der jahrelangen engen Zusammenarbeit Reclams mit dem Leipziger Grafiker Karl Stratil. (© Reclam verlag)
Die Erzählung Hans der Träumer von Rudolf Huch erschien 1925. Der Schutzumschlag war der Auftakt der jahrelangen engen Zusammenarbeit Reclams mit dem Leipziger Grafiker Karl Stratil. (© Reclam verlag)
Viel Fingerspitzengefühl musste Ernst Reclam auch im Falle von Rudolf Huch beweisen.
Auf Liselotte Huchs Anfrage reagierte Ernst Reclam äußerst verhalten: Es sei ungewiss, ob die Werke ihres Vaters in der SBZ überhaupt wieder aufgelegt werden dürften.
Ernst Reclam schlug statt der Rückgabe der Verlagsrechte eine Lizenzausgabe bei Reclam Stuttgart oder einem anderen Verlag vor und versprach gleichzeitig, dass er bezüglich der Aussicht auf Genehmigung der Werke die "Fühler ausstrecken" werde.
Doch Reclam wurde enttäuscht: Einige Tage später teilte Unger ihm mit, "dass eine Einreichung dieser Werke nach meinen Informationen keinerlei Aussicht auf eine zustimmende Haltung des KB in sich birgt."
Im Mai 1947 wurden also "Brinkmeyers Abenteuer" und "Herr Neveu" beim Kulturellen Beirat eingereicht. Wie sich wenig später herausstellte, zeigte auch der Leiter des Referats Verlagswesen im KB, Lothar von Balluseck, wenig Begeisterung dafür: "Wir kennen die Erwägungen, die Sie zur Vorlage dieser beiden Werke veranlaßt haben, nicht. Vielleicht taten Sie es deshalb, weil die Möglichkeit der Abwanderung in die westlichen Zonen bestehe. Dennoch möchten wir Sie bitten, diese beiden Objekte zurückzuziehen. Rudolf Huch hat dem Nationalsozialismus doch wohl einigermaßen nahegestanden; möglich, dass er sich später von ihm zurückgezogen, möglich auch, dass er sich niemals vollständig mit ihm identifiziert hat – die Tatsache ist aber nicht zu leugnen, dass er innerhalb der literarischen nationalsozialistischen Propaganda als eine bedeutende Potenz gewertet worden ist und eine entsprechende Rolle gespielt hat. Es ist doch wohl notwendig, zunächst einmal alle Anklänge an die nationalsozialistische Sphäre […] zu vermeiden."
Zwar bestätigte Ernst Reclam daraufhin, die beiden Werke nur vorgelegt zu haben, um die Verlagsrechte nicht zu verlieren, betonte aber: "Daß Huch von den Nationalsozialisten besonders herausgestellt wurde, weiß ich, nicht aber, daß er selbst nazistisch eingestellt gewesen ist."
Liselotte Huch nahm also Verbindung zu Stuttgart auf, musste jedoch im Herbst 1947 von Gotthold Müller erfahren, dass auch er vorläufig keine Möglichkeit sehe, die Werke ihres Vaters neu aufzulegen.
Die Antwort hierauf kam jedoch nicht aus Stuttgart, sondern wieder aus Leipzig. Hildegard Böttcher zeigte sich verständnisvoll und wiederholte bedauernd, dass Huch in der SBZ nicht tragbar sei und dass auch Reclam Stuttgart "zur Zeit nicht daran denken" könne, Neuauflagen herauszubringen: "Wenn Sie also der Meinung sind, daß Sie nicht länger warten können, sondern sich ernsthaft bei anderen Verlagen um die Neuherausgabe bemühen müssen, so bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen den Weg dazu freizugeben. Ich tue es außerordentlich ungern und hätte gern die Werke Ihres Vaters auch weiterhin betreut. Es liegt jedoch bei Ihnen, wie Sie sich entscheiden wollen."
Dieses Vorhaben scheint nicht geglückt zu sein, denn keines der bei Reclam erschienenen Werke Huchs wurde nach 1945 je wieder aufgelegt.
4. Ein untreuer Autor? Herbert Tjadens
Im Frühjahr 1947 wurde Herbert Tjadens' Sammlung japanischer Erzählungen "Yoko und die Philosophen" zum Streitpunkt zwischen Autor und Verlag. Seit ihrem Ersterscheinen im Jahre 1939 hatte diese Anthologie bei Reclam bereits vier Auflagen erlebt.
Ende November 1946 bat Tjadens (1897–1981) erstmals um die Abtretung des Verlagsrechts für seine Novellensammlung. Da sich der Verlag zu diesem Zeitpunkt aufgrund der bereits angelaufenen Demontage des technischen Betriebes in einer Zwangslage befand, gab Ernst Reclam sein Einverständnis zu einer Lizenzerteilung an den Wolfgang Krüger Verlag in Hamburg. Dieser machte schnell deutlich, dass ihm "eine bloße Lizenz nicht besonders sympathisch"
Dem Krüger Verlag erklärte Reclam ebenfalls, dass unter den nun völlig veränderten Verhältnissen keine Notwendigkeit für eine Lizenzerteilung mehr bestehe,
Schutzumschlag der Leipziger Erstausgabe von Herbert Tjades Yoko (1939). Die Gestaltung wurde in den folgenden Stuttgarter Auflagen übernommen; lediglich die Einbandgestaltung wurde leicht verändert. (© Reclam Verlag)
Schutzumschlag der Leipziger Erstausgabe von Herbert Tjades Yoko (1939). Die Gestaltung wurde in den folgenden Stuttgarter Auflagen übernommen; lediglich die Einbandgestaltung wurde leicht verändert. (© Reclam Verlag)
Mit seinem Urteil über Tjadens sollte Reclam Recht behalten: Im Mai 1947 beteuerte der Autor zwar, dass er sich sehr über die Möglichkeit einer Neuauflage von "Yoko" bei Reclam freue und nie an ein bloßes Überschwenken zu Krüger gedacht habe. Gleichzeitig stellte er jedoch klar, dass er die Gewissheit haben müsse, "daß Sie mich im Maß ihres Vermögens so herausstellen, wie andere Verleger – vor allem Krüger – es tun."
Tatsächlich gelang es Ernst Reclam, beim Kulturellen Beirat eine Druckgenehmigung für "Yoko und die Philosophen" zu erlangen. Da die Genehmigung ohne Papierzuteilung erfolgte, konnte das Büchlein indes erst Anfang 1948 gedruckt werden. Doch es sollte die letzte Leipziger Ausgabe sein: Ein Jahr später erschien "Yoko" bei Reclam Stuttgart, zuletzt 1962 im Sigbert Mohn Verlag Gütersloh.
Auch wenn die dargestellten Ereignisse weit weniger dramatisch anmuten als beispielsweise im Fall Hans Künkel, sind die Korrespondenzen mit Herbert Tjadens in den Jahren 1946–1948 sehr aufschlussreich, wenn es um die Themen Verlagstreue und Autorenbindung geht. Sie zeigen zudem anschaulich, wie wenig in den Nachkriegsjahren selbst der weltberühmte Name Reclam gelten konnte.
Fazit
Die Archivalien des Leipziger Reclam Verlages nach 1945 stellen eine wahre Fundgrube für Verlagshistoriker, Kunst-, Kultur und Literaturwissenschaftler dar. An den dargestellten Beispielen lässt sich bereits erkennen, wie hier Ökonomie-, Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte ineinandergreifen, während die stellenweise Emotionalität der Schriftwechsel und die Schärfe der Auseinandersetzungen gleichzeitig Schlüsse auf Charakter und Persönlichkeit der Beteiligten zulassen. Anhand dieser Einzelschicksale wird die Verlagsgeschichte lebendig.
So begegnet Ernst Reclam seinen Autoren brieflich stets beherrscht, mit dem seiner Lebenserfahrung entsprechenden Gleichmut und der seiner Person anhaftenden Autorität. Schreibt er hingegen an Freunde oder langjährige Kollegen wie Konrad Nußbächer, treten Sorge und persönliche Betroffenheit stärker zutage. Zudem wird ersichtlich, dass der über 70-Jährige als Oberhaupt des Familienbetriebs schwer mit den Schicksalsschlägen zu kämpfen hatte, die den Verlag nach 1945 trafen. Nach den verheerenden Bombardements während des Luftkrieges, der Kapitulation am 8. Mai 1945 und dem folgenden mühsamen Wiederaufbau des Betriebes musste Reclam schnell erkennen, dass es für einen Privatverlag wie seinen kaum mehr Platz in der neuen Wirklichkeit der SBZ gab. Mit dem Erhalt der Verlagslizenz und damit der Erlaubnis zur Neuproduktion im März 1946 konnte Reclam zunächst neue Hoffnung schöpfen. Dennoch musste er sich spätestens nach der Demontage seines grafischen Betriebes im Winter 1946/47 eingestehen, dass die Zukunft seines Verlages in Leipzig nicht sicher und seine Entscheidung, das Angebot der amerikanischen Besatzungsmacht auszuschlagen und am Standort Leipzig festzuhalten, falsch gewesen war. Die Anordnung der Demontage zeugte nicht nur von dem rigorosen Vorgehen gegen das private Eigentum, sondern vor allem von beispielloser Nichtachtung gegenüber einem der bekanntesten deutschen Verlage und dem Amt des Börsenvereinsvorstehers. So reifte in Ernst Reclam der Gedanke, sein Unternehmen auch in den drei Westzonen zu verankern – die massiven Schwierigkeiten bei der Erlangung von Druckgenehmigungen und Papier in der Ostzone sowie die zunehmenden Unzufriedenheit besonders der West-Autoren mögen zu dieser Entscheidung beigetragen haben.
Die Tatsache, dass der Verlag Philipp Reclam jun. ab April 1947 als Parallelverlag in Ost und West existierte, hat seine Entwicklung geprägt wie kein anderes Ereignis in der Verlagsgeschichte. Ernst Reclam geriet unter enormen Druck, wurde Wirtschaftsverbrechen beschuldigt und im Jahr 1948 zweimal verhaftet, bis er im Mai 1950 Leipzig für immer verließ. Für die Zusammenarbeit mit den im Westen ansässigen Autoren, die Reclam bis 1947 so viele Sorgen bereitet hatte, boten sich mit Hilfe der Stuttgarter Zweigstelle und des gegenseitigen Lizenzvertrages völlig neue Möglichkeiten: Wer in der Ostzone nicht gedruckt werden konnte, wurde an Gotthold Müller verwiesen, sodass die Verlagsrechte zumindest im Unternehmen blieben. Nach der Entzweiung des Stuttgarter und Leipziger Hauses in den frühen 1950er-Jahren