Die Enttarnung des Polizisten Karl-Heinz Kurras als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und treues SED-Mitglied im "Deutschland Archiv"
In einschlägigen Veröffentlichungen gilt der Fund der IM-Akten zu Karl-Heinz Kurras im Frühjahr 2009 als Zufallsfund. Die Frage ist, wie der Begriff Zufall ausgelegt wird, denn die Unterlagen wurden im Ergebnis systematischer Recherchen der Autorin in der Datenbank zur Erschließung von Sachakten (SAE) des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) ermittelt. Die Recherchen standen im Zusammenhang mit einem Projekt zur Rolle des MfS bei der Verschleierung tödlicher Fluchtversuche an der innerdeutschen Grenze. Dabei dehnte sich das Forschungsthema auch auf das sogenannte Operationsgebiet West-Berlin aus. Aus dieser Sicht handelte es sich keineswegs um einen Zufallsfund nach dem Wünschelrutenprinzip. Doch so offenkundig die zeitgeschichtliche und geschichtspolitische Tragweite nach der ersten Durchsicht der Akten war, so ungewöhnlich war dennoch der Weg zu den Kurras-Akten.
I
Eigenhändige Verpflichtungserklärung Karl-Heinz Kurras' ("Otto Bohl") vom 26. April 1955, BStU, MfS, GH 2/70, Bd. 1, Bl. 19 (© BStU)
Eigenhändige Verpflichtungserklärung Karl-Heinz Kurras' ("Otto Bohl") vom 26. April 1955, BStU, MfS, GH 2/70, Bd. 1, Bl. 19 (© BStU)
Eine der wichtigsten Besonderheiten im Fall Kurras ergibt sich unmittelbar aus den wirkungsvollen Konspirationsmethoden des MfS, die für den gesondert verwahrten Bestand der Geheimen Ablage (GH) galten, in dem auch die Unterlagen zu Kurras archiviert waren. Im Nachgang des Kurras-Fundes wurde die Geheime Ablage durch eine Arbeitsgruppe des Archivs des BStU näher untersucht. Erste jüngst publizierte Erkenntnisse der Arbeitsgruppe zeigen demnach, dass die Entfernung der zentralen F 16-Personenkarteikarten eine "übliche" Konspirationsmethode des MfS war, um Anfragen zu bestimmten bedeutsamen Personen, Aktionen und Ereignissen selbst innerhalb des Ministeriums zu verhindern und den Zugriff auf Akten der Geheimen Ablage zusätzlich zu reglementieren.
Seit der Auflösung des MfS war bekannt, dass das Auffinden brisanter Akten durch die gezielte Vernichtung der zentralen Personenkarteikarten wirksam verhindert werden konnte. In wie vielen Fällen diese Methode, die erst recht für den Bestand der Geheimen Ablage nahelag, in der Endphase der DDR angewandt wurde, bleibt offen. Angesichts der auffallenden strafrechtlichen Relevanz der GH schließt sich die Frage an, für wie viele bedeutsame MfS-Mitarbeiter und Parteikader die vom MfS bezweckte Strafvereitelung mittels gezielter Vernichtung von Personenkarteikarten bis weit nach dem Ende der DDR erfolgreich sein konnte. Denn bis zur endgültigen Erschließung der Akten war und ist für alle Recherchen des BStU der Aktenzugang über diese personen- und vorgangsbezogenen zentralen Karteien F 16 und F 22 grundlegend.
Es ist allgemein bekannt, dass der überlieferte Zugang zu den Akten, den das MfS streng personenbezogen organisiert hatte, auch für Recherchen des BStU von zentraler Bedeutung ist. Die Standardrecherchen basieren deshalb nach wie vor im Wesentlichen auf den personenbezogenen Findmitteln des MfS. Im Zuge der kontinuierlich fortschreitenden Erschließungen werden zunehmend andere, vom BStU nach allgemeingültigen archivischen Grundsätzen angelegte Findmittel bedeutsam. Sie schließen wichtige Lücken, etwa bei der Feststellung, ob eine Person hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des MfS war, oder bei der Zuordnung ungeordnet übernommener Aktenbestände zu Personen und Sachverhalten. Vor allem ermöglichen sie die für Archive üblichen systematischen, unter anderem sachthematischen Zugänge zu den Archivalien.
II
Gerade hierfür ist der Fall Kurras ein hervorragendes Beispiel. Denn die IM-Akten zu Kurras waren unabhängig von den Standardrecherchen ausschließlich über die BStU-interne Datenbank SAE (Sachaktenerschließung) mittels einer erweiterten Recherche über mehrere Schlagwörter auffindbar.
So eigentümlich es klingen mag, aber wegen des Vorliegens der 17 Akten und wegen der genauen Kenntnis der vom MfS entfernten F 16-Karteikarte hatte der sonst übliche Aktenzugang über die zentralen Findmittel F 16/F 22 in diesem Fall zunächst keine Bedeutung. Die Entfernung der ersten F 16-Karteikarte zu Kurras durch das MfS ist sehr wahrscheinlich mit Geheimhaltungsinteressen zu begründen, die mit den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg zusammenhängen. Sie ergab sich eindeutig aus der Aktenlage. Demnach war von einer anderen, nicht eingeweihten Dienststelle des MfS für den "Mörder Benno Ohnesorgs" eine Einreisesperre beantragt worden. Die dazu eingeleitete Karteiabfrage zu vorliegenden Erfassungen zu Kurras wurde von der Abteilung XII des Ministeriums negativ beschieden. Das bedeutete, dass Kurras innerhalb des MfS als nicht erfasst galt.
Die dennoch veranlasste Karteiabfrage hatte für die Veröffentlichung der IM-Tätigkeit daher lediglich ergänzenden Charakter. Das Ergebnis war nach der Aktenlage überraschend und ungewöhnlich. Das MfS hatte zum Zeitpunkt der Pensionierung von Karl-Heinz Kurras im Jahr 1987 eine neue, zweite F 16-Karteikarte angefertigt, die zweifellos den direkten Zugriff auf die Akten ermöglicht hätte.
An dieser Stelle drängte sich die damals wie heute legitime Frage auf, weshalb nicht schon viel früher die Akten im Zusammenhang mit zahlreichen einschlägigen Anträgen und Strafverfolgungsersuchen etwa im Zusammenhang mit dem Wirken der RAF, zur Untersuchung des Einflusses der Stasi auf die West-Berliner Polizei oder bei der Untersuchung des Schicksals von Fluchtopfern gefunden worden sind. Die damalige Bundesbeauftragte Marianne Birthler erklärte, es sei niemand auf die Idee gekommen, nach Kurras zu fragen, wie viele überraschte Zeitgenossen und namhafte Zeithistoriker denn auch einräumten.
III
Der personenbezogene Aktenzugang über die zentralen Karteien bleibt bis zur vollständigen archivischen Erschließung der großen Überlieferungsmengen des MfS von zentraler Bedeutung.
Unabhängig davon ist die Recherche der Kurras-Akten ein Beispiel dafür, dass die vom BStU erstellten Findmittel neue Zugänge zum Auffinden der Archivalien ermöglichen. Der fortschreitende Erschließungsstand und die Prüfung von Sicherheitsverfilmungen werden möglicherweise in diesem wie in anderen Fällen zu weiteren Erkenntnissen führen.