I.
Mit dem Zustandekommen der sogenannten "Haftaktion", des Freikaufs politischer Gefangener aus der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland, haben sich bereits viele Autoren befasst. Einer der informativsten ist Ludwig A. Rehlinger in seinem Buch "Freikauf".
Die vorliegende Darstellung beruht hinsichtlich der Vorgänge im Rahmen der Bundespolitik vor allem auf den Erinnerungen von
Ludwig A. Rehlinger. Rehlinger war leitender Mitarbeiter im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. Er beriet den jeweiligen Minister und instruierte den bevollmächtigten Anwalt Jürgen Stange. Er wählte aufgrund der Akten des Rechtsschutzbüros die Gefangenen aus, an deren Entlassung die Bundesregierung besonders interessiert war.
Hinsichtlich der kirchlichen Beteiligung beruht die Darstellung auf den Erinnerungen des Verfassers.
Wolfgang Vogel im August 1997 vor der Glienicker Brücke (© ddp/AP, Hans Edinger)
Wolfgang Vogel im August 1997 vor der Glienicker Brücke (© ddp/AP, Hans Edinger)
bestehen sie aus Bericht des Stasi-Offiziers Heinz Volpert, die viele Unstimmigkeiten enthalten und daher keine zuverlässige Quelle sind.
II.
Seit ihrer Gründung hatten die Behörden der DDR zahlreiche Bürger aus politischen Gründen festgenommen. Die Kirchen aus Ost und West bemühten sich, ihre inhaftierten Mitglieder zu befreien. Das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen unterhielt ein Rechtsschutzbüro, das für Strafverfahren in der DDR Korrespondenzanwälte beauftragte und honorierte. Hierbei kam es auch zu Versuchen, Gefangene gegen Geld zu befreien, was im Einzelnen auch gelang.
Mit dem Mauerbau brachen die unmittelbaren Kontakte zunächst ab. West-Berliner durften die DDR nicht mehr betreten. Der kirchliche Verhandlungsführer, der EKD-Ratsvorsitzende, Präses Kurt Scharf, wurde von der Regierung der DDR ausgewiesen, unter anderem weil er die vielen Festnahmen im Rahmen des Mauerbaus in einem Telegramm kritisiert hatte. Dessen ungeachtet setzte Scharf seine Bemühungen um die Freilassung politischer Gefangener aus der DDR fort. Er wandte sich an das Bundeswirtschaftsministerium mit der Bitte, im Zusammenhang mit Verhandlungen über den Interzonenhandel zu klären, ob Gefangene gegen wirtschaftliche Leistungen der Bundesrepublik an die DDR freigelassen werden könnten. Der Leiter der Treuhandstelle für den Interzonenhandel legte Scharfs Fragen seinem Verhandlungspartner vor. Dieser war interessiert und versprach, die Frage seiner Regierung weiterzuleiten. Eine konkrete Antwort ging aber nicht ein. Scharf bahnte daraufhin anwaltlichen Kontakt nach Ost-Berlin an.
Einige Zeit später wandte sich die private Hilfsorganisation "Helfende Hände" aus Hamburg, an der auch die Ehefrau des Verlegers Axel Springer beteiligt war, an das Bonner Wirtschaftsministerium. Auch sie wollte politischen Gefangenen in der DDR helfen. Rosemarie Springer fragte an, ob unter Umständen der Regierung der DDR Wirtschaftsgüter für die Freilassung von politischen Gefangenen angeboten werden könnten. Das Ministerium erklärte sich grundsätzlich einverstanden und ermächtigte die "Helfenden Hände", dies der DDR in geeigneter Weise mitzuteilen.
Diese beauftragte den Hamburger Geschäftsmann Otto Dinse, Kontakt mit der DDR aufzunehmen. Er erkundigte sich bei dem Rechtsschutzbüro des gesamtdeutschen Ministeriums nach einem möglichen Ansprechpartner. Das Büro empfahl ihm den Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel. Dieser war auch im Westen bekannt geworden, weil er an dem Austausch zwischen dem Sowjetspion Rudolf Abel und dem US-Piloten Gary F. Powers mitgewirkt hatte. Dinse suchte Vogel in seinem Büro auf und berichtete von dem Gespräch der "Helfenden Hände" im Bundeswirtschaftsministerium. Vogel versprach, diese Informationen an die Regierung in Ost-Berlin weiterzuleiten.
Er berichtete dem
Hilde Benjamin, Minister für Justiz der DDR, und Generalstaatsanwalt Josef Streit auf einer Pressekonferenz, Berlin, 6. Dezember 1962 (© Bundesarchiv, Bild 183-A1206-0011-001; Foto: Heinz Junge)
Hilde Benjamin, Minister für Justiz der DDR, und Generalstaatsanwalt Josef Streit auf einer Pressekonferenz, Berlin, 6. Dezember 1962 (© Bundesarchiv, Bild 183-A1206-0011-001; Foto: Heinz Junge)
Generalstaatsanwalt der DDR, Josef Streit. Dieser war leitende Instanz für seine anwaltliche Tätigkeit. Streit hatte Vogel die Zulassung zur Anwaltschaft erwirkt, als dieser im Justizministerium von Ministerin Hilde Benjamin verdächtig wurde, von der Flucht eines leitenden Mitarbeiters gewusst zu haben. Streit hatte Vogel auch das Mandat für den erwähnten Austausch von Powers und Abel vermittelt. Er war aber auch persönlich an die Freilassung politischer Gefangener interessiert, da er während der Nazizeit sieben Jahre als politischer Häftling im KZ zugebracht hatte.
Streit erklärte Vogel, die DDR sei zu Verhandlungen über die Freilassung politischer Gefangener bereit, und ermächtigte ihn, dies der Gegenseite mitzuteilen. Vogel informierte Rechtsanwalt den West-Berliner Anwalt Jürgen Stange, mit dem er schon vorher über politische Gefangene verhandelt hatte. Stange berichtete dem Rechtsschutzbüro des gesamtdeutschen Ministeriums. Dort erfuhr er, dass der Staatssekretär Franz Thedieck einen Freikauf als unmoralisch ablehnte. Ein unmittelbarer Kontakt nach Ost-Berlin sei daher nicht sinnvoll.
Ein Mitglied des Rechtsschutzbüros, Helmut Sehring, kannte jedoch einen leitenden Mitarbeiter des Verlegers Axel Springer, Rolf May, und bat ihn, dessen Hilfe zu erbitten. Springer war interessiert, wollte sich aber politisch absichern und wandte sich an den
Zur Amtsübergabe trafen sich öffentlichkeitswirksam Rainer Barzel, seit dem 13. Dezember 1962 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, und sein Vorgänger Ernst Lemmer am 29. Dezember 1962 an der Glienicker Brücke, wo am 10. Februar des Jahres der erste Agententausch stattgefunden hatte (© Bundesarchiv, B 285 Bild-Z02-00780; Foto: Joachim G. Jung)
Zur Amtsübergabe trafen sich öffentlichkeitswirksam Rainer Barzel, seit dem 13. Dezember 1962 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, und sein Vorgänger Ernst Lemmer am 29. Dezember 1962 an der Glienicker Brücke, wo am 10. Februar des Jahres der erste Agententausch stattgefunden hatte (© Bundesarchiv, B 285 Bild-Z02-00780; Foto: Joachim G. Jung)
neuen Minister für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel. Dieser erkannte die politische Bedeutung der Sache und erklärte, die politische Verantwortung dafür zu übernehmen.
Barzel berichtete zunächst Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ihn ermächtigte, Verhandlungen über das Projekt zu führen. Nunmehr informierte Barzel auch den Vorsitzenden des gesamtdeutschen Ausschusses, Herbert Wehner (SPD), der seine Unterstützung zusagte. Danach bestellte Barzel Rechtsanwalt Stange, der die Informationen Vogels weitergeleitet hatte, zu einem Gespräch. Stange überzeugte ihn, dass sein Kollege Vogel zuverlässig sei und dass seine Botschaft ernstgenommen werden könne. Darauf ermächtigte Barzel Stange, der DDR das Verhandlungsinteresse der Bundesregierung mitzuteilen.
Stange übermittelte das Angebot Barzels an Vogel. Dieser informierte Generalstaatsanwalt Streit. Dieser wiederum ermächtigte Vogel, der Bundesregierung mitzuteilen, dass die DDR über 1.000 Häftlinge verhandeln wolle. Daraufhin beauftragte Barzel seinen Berliner Mitarbeiter Ludwig A. Rehlinger, aus den Akten des Rechtsschutzbüros 1.000 Gefangene auszusuchen, deren Entlassung besonders dringlich sei. Rehlinger erstellte eine entsprechende Liste und übermittelte sie über Stange an Vogel.
Die DDR reduzierte jedoch ihr Angebot auf 500 Häftlinge. Schließlich wurden zunächst acht Personen ausgewählt, die entlassen werden sollten. Es wurde vereinbart, dies über die beteiligten Anwälte durchzuführen. Vogel übergab die Häftlinge Stange, der sie über die S-Bahn nach West-Berlin brachte. Danach übergab Stange Vogel den vereinbarten Preis in Bargeld.
Im Anschluss daran verhandelten Stange und Vogel über die Freilassung einer großen Anzahl von Häftlingen. Die Verhandlungen zögerten sich jedoch hinaus, weil im gesamtdeutschen Ministerium noch Bedenken bestanden. Die bezogen sich vor allem auf die wirtschaftliche Gegenleistung. Es war unklar, auf welchem Wege sie der DDR zugeleitet werden könnte. Einer Barzahlung stand die zu erbringende Höhe entgegen. Ein Transfer war wegen der verschiedenenartigen Währungen nicht möglich. Gegen den Weg über den Interzonenhandel hatte die DDR Bedenken, weil dort die Geheimhaltung gefährdet wurde.
III.
Zwischenzeitlich lag der DDR auch ein Angebot der Evangelischen Kirche vor. Der Ratsvorsitzende der EKD,
Präses Kurt Scharf, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), mit seinem Vorgänger Bischof Otto Dibelius im Westberliner Johannesstift, 1961 (© Bundesarchiv, Bild 183-82291-0015 / Fotograf: o.A.)
Präses Kurt Scharf, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), mit seinem Vorgänger Bischof Otto Dibelius im Westberliner Johannesstift, 1961 (© Bundesarchiv, Bild 183-82291-0015 / Fotograf: o.A.)
Präses Kurt Scharf, hatte seinen Referenten Reymar von Wedel zu Rechtsanwalt Wolfgang Vogel geschickt und eine Liste von Gefangenen unterbreiten lassen, an denen die Kirche besonders interessiert war. Dies geschah unabhängig und ohne Wissen der Bundesregierung. Es kam zu einer Vereinbarung über 100 Häftlinge. Diese wurden zum Teil an ihre Wohnsitze in der DDR, zum Teil über West-Berlin in das Bundesgebiet entlassen. Die Angehörigen dieser Gruppe durften zur Familienzusammenführung nachreisen.
Als Gegenleistung verpflichtete sich die Kirche, Wirtschaftsgüter zu beschaffen, an denen die DDR interessiert war. Dazu gehörten Konsumgüter für die Bevölkerung, Hilfsgüter für die Landwirtschaft, aber auch Maschinen für die Industrie, soweit nicht politische Bedenken der Bundesregierung bestanden. Hierzu wurde ein Weg genutzt, auf dem die EKD schon vorher ihre Gliedkirchen in der DDR unterstützt hatte. Das Diakonische Werk kaufte die erwünschten Güter ein und lieferte sie mit Genehmigung der Bundesregierung über die Firma Intrac in die DDR.
Damit waren jedoch die finanziellen Mittel der EKD erschöpft. Sie wandte sich gemeinsam mit der katholischen Kirche an die Bundesregierung, um die Aktion fortzuführen. Der Berliner Generalvikar, Walter Adolf, wandte sich an den Leiter des Bundeskanzleramtes, Ludger Westrick. Dieser vermittelte ein Gespräch des neuen Bundeskanzlers Ludwig Erhard mit dem Ratsvorsitzenden der EKD, Kurt Scharf. Der Bundeskanzler stimmte der Übernahme zu und übertrug die Durchführung dem neuen Minister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende. Dieser lud den Ost-Berliner Beauftragten, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, zu einem Gespräch nach West-Berlin.
Nach diesem Gespräch beauftragte Mende seinen Staatssekretär Carl Krautwig, das Projekt durchzuführen, der die Anwälte Stange und von Wedel zu einer Besprechung nach Bonn lud. Hier wurde der erste Kopfpreis von 40.000 DM für einen Häftling vereinbart. Krautwig akzeptierte den Vorschlag der DDR, die zu entlassenden Häftlinge über ein Sammellager des MfS von einem westdeutschen Bus abholen und über die Grenzübergangsstelle Wartha in das Flüchtlingslager Gießen bringen zu lassen. Die Gegenleistungen sollten, wie zuvor, über das Diakonische Werk erbracht werden. So geschah es erstmals am 28. August 1964.
IV.
Zusammenfassend entstand die Idee eines Freikaufs politischer Gegangener aus karitativen Motiven der Kirchen und der Helfenden Hände in Hamburg. Über sie und die Anwälte Vogel und Stange kam es zu Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der DDR. Es wurden zunächst acht Häftlinge gegen Barzahlung freigelassen. Unabhängig hiervon vereinbarte die evangelische Kirche mit der DDR die Entlassung von 100 Häftlingen gegen wirtschaftliche Gegenleistungen. Im Anschluss daran vereinbarte auch die Bundesregierung die Entlassung von 800 Gefangenen gegen wirtschaftliche Gegenleistungen auf dem gleichen Wege.