Es ist kalt, es ist dunkel, es ist viel zu früh. Wie zwei Vertreter in "Sachen Geschichte" schälen wir uns aus dem Auto, schnappen die Klappbox, in der alle Utensilien für ein halbtägiges Geschichtsseminar verstaut sind und machen uns auf die Suche nach dem Klassenzimmer. Jenem Zimmer, in denen müde, skeptische, erwartungsfrohe und neugierige Augenpaare auf uns warten und in dem wir zusammen die nächsten Stunden uns einem vergangenen Land näheren wollen: "Hallo?! Hier kommt die DDR."
Seit 2009 bietet die Stiftung Ettersberg – Europäische Diktaturforschung/Aufarbeitung der SED-Diktatur/Gedenkstätte Andreasstraße (Weimar) in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen und in Zusammenarbeit mit der Lehreinheit Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Universität Leipzig das Halbtagesseminar "Somewhere – Das Land hinter dem Zaun" in Thüringer Schulen an. Ausgangspunkt für diese Initiative war der häufig genannte Wunsch von Lehrerinnen und Lehrern, das Thema DDR im Unterricht zu vertiefen, indem sie einen außerschulischen Lernort besuchen und dort mit Expertinnen und Experten einen Aspekt der DDR-Geschichte intensiv behandeln. Da vielen Klassen die Zeit zur Planung und Durchführung solcher Veranstaltungen fehlt, konnte diesem Wunsch nur selten entsprochen werden. Insofern versucht "Somewhere" dieser Schwierigkeit entgegenzuwirken und kommt an die Schule. Zwar ersetzt das Seminar nicht den Besuch eines historischen Ortes als außerschulischen Lernort, stattdessen übt es aber seinen Reiz durch die Anwesenheit von externen Experten im Klassenzimmer aus.
Das Seminar ist kostenfrei, einzig einen zusammenhängenden Tag mit freier Zeiteinteilung müssen die Schulen bereitstellen. Um einen vielfältigen und fächerübergreifenden Zugang zur DDR-Geschichte anzubieten, kann "Somewhere" zu zwei Schwerpunkten gebucht werden: Zum einen bietet es eine Auseinandersetzung mit Jugendkulturen, genauer: mit den jugendlichen Subkulturen Punk und HipHop an, zum anderen nähert es sich dem Thema DDR auch über Wirtschaftsfragen. Die DDR ist nicht nur ein Thema für den Geschichtsunterricht, vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu diesem nicht mehr existierenden Land ergeben sich, wenn die Schülerinnen und Schüler über die Alltagserfahrungen der Menschen die Spur aufnehmen. Für die Schulen wiederum ist es von Vorteil, das Seminar in Geschichte, Literatur, Sozialkunde, Wirtschaft und Recht bzw. Musik und Kunsterziehung verbuchen zu können. Dies erhöht die Chance, – auch den "Geschichtsreisenden" – einen ganzen Schultag zur Verfügung zu stellen. Hier soll es um einen Bericht zu einem Seminar mit dem Schwerpunkt der Jugendkulturen gehen.
8.00–9.00 Uhr: Block I
Wir setzen die Klappkiste ab und bauen die Technik auf. Die Schülerinnen und Schüler glucksen. Zwei neue, zwei andere Gesichter wollen sich heute mit ihnen beschäftigen. Wir fangen an, mit der ganz naiven Frage: Was fällt euch denn zur DDR ein? – Zögern, Scharren, Blicke nach unten. Einer meldet sich: NVA!? – Herrlich, das Land mit dem AKF oder Aküfi (Abkürzungsfimmel) hat seine Spuren hinterlassen: LPG, FDJ, MfS, VEB, ABV, BRD – Stück für Stück füllt sich die Tafel und Schulwissen, wie auch Familiengedächtnis tragen Früchte. Von Arbeit und Grenze erzählen die Schüler, von früher, von Brigade und Kollektiv, von Disko und Freizeit, Schule und Jugendweihe. Auch von Stasi und Repression, von Kirche und Demonstration bekommen wir zu hören, oft ungeordnet, vieles nebeneinander, manches miteinander vermischt. Deutlich scheinen hinter den Aussagen, hinter der Sprache der Schülerinnen und Schüler die familiären Zuordnungen durch. Spannend wird es, wenn einzelne gar in die Sprache ihrer Großeltern verfallen, wenn sie von damals erzählen. Doch die Erinnerung ist da. Oft auch mit kritischen Blick von neuen Quellen, dem Schulwissen oder Filmen vermischt, immer gepaart mit der Neugier, mehr aus/von der DDR zu erfahren.
Wir bündeln das Wissen, stellen an der Tafel Zusammenhänge her, die Klasse wirft Fragen auf: Wieso heißt es "Freie Deutsche Jugend", wenn es doch gar nicht so frei gewesen sein soll? Warum durften unsere Eltern nicht die Musik hören, die sie hören wollten? Und warum hat die Staatssicherheit das alles so interessiert? In diesen ersten Diskussionen entwickeln die Schülerinnen und Schüler das Spektrum ihrer Fragen für das Seminar. Im Dialog mit uns als Experten zu Jugendkulturen in der DDR formulieren sie ihr Erkenntnisinteresse und stellen sich somit ihre Aufgaben selbst. Wir leiten sie dabei lediglich an, stellen das Quellenmaterial und stehen für Nachfragen zum größeren Zusammenhang zur Verfügung.
Den Block I schließt dann ein multimedialer Vortrag von Peter Wurschi ab, der den Schülerinnen und Schülern ein Überblickswissen über die Geschichte der DDR und den darin eingewobenen (Jugend-)Generationen bietet. Für das Verständnis dieses oftmals monolithisch wahrgenommenen Stücks Geschichte ist es unabdingbar, die Zeiten der 40-jährigen Existenz auseinanderzunehmen wie auch auf die unterschiedlichen Sozialisationen in der DDR einzugehen. Die DDR war in den 50ern und 60ern eine andere, als in den 1970er- und 80er-Jahren. Die Menschen wuchsen verschieden auf, hatten andere Konflikte zu bestehen und auch die Jugendsubkulturen differenzierten sich ab den Achtzigern schneller und deutlicher aus.
Über 1.000 Schüler nahmen bisher an dem Halbtagesseminar teil. Dabei hat sich unsere Konzeption, den Teilnehmern einen Zugang zur Geschichte zu vermitteln, der sich hauptsächlich aus Bezügen zu ihrer eigenen Lebenswelt speist, als nachhaltig herausgestellt. Struktur, Ablaufplan und Methodik gehen auf. Natürlich ist es den anbietenden Institutionen bewusst, dass ein Schultag eine intensive Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte nicht ersetzen kann, doch besteht der Wille, Interesse für dieses Land zu entwickeln und neben die vielen Erzählungen aus Familie, Nachbarschaft und Heimatort noch weitere zu setzen. Immer wieder treffen wir auf ausgesprochene Zurückhaltung der Schülerinnen und Schüler sich eine Meinung zur DDR zu bilden: "Ich war nicht dabei" oder "Ich kann dazu nichts sagen", sind beliebte Sätze, die das Thema seitens der Schülerinnen und Schüler rahmen.
So entsteht aus den mitgebrachten Quellen, also Zeitzeugenberichten, Faksimiles von Original-Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Fotos und weiteren Textdokumenten eine neue, oftmals unbekannte Welt. Diese mit den familiären Erinnerungen abzugleichen überfordert die Schülerinnen und Schüler oft.
Doch nicht belehrend oder wertend ist das Seminar, es lässt immer wieder Raum für eigene Überlegungen, für eigene Wertungen und die stete Weiterentwicklung von eigenen Leitfragen. Auf diese Weise bedient es das geschichtsdidaktische Gebot nach Multiperspektivität: Nicht nur setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit einer Vielzahl von unterschiedlichen historischen Akteuren auseinander und analysieren ihr Denken und Handeln; sie kommen dabei zu durchaus kontroversen Ergebnissen und setzen diese abschließend miteinander in Bezug.
Spannend allerdings ist eine Beobachtung. Bei der anfänglichen Assoziationsübung, "Was wisst ihr über die DDR?" kommt nach und nach vieles zu Tage, der Begriff SED fällt zumeist nicht, oder wenn, dann sehr spät oder nur aufgrund von Nachfragen. Es bleibt hier festzustellen: Vieles hat sich eingeprägt in den Köpfen der Nachgeborenen, über vieles wird geredet aus der Zeit der DDR, über die Struktur der Herrschaft und die Bedeutung der "Partei" dabei jedoch offensichtlich nicht. Die SED ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Nachgeborenen verschwunden.
10.00–11.00 Uhr: Block II
Nach Assoziation und einem einführenden Vortrag zum (auch punkigen) Jungsein in der DDR, widmen wir uns einer speziellen Jugend(sub)kultur genauer. Mit dem Beispiel HipHop lässt sich die grenzübergreifende Ausstrahlung von Jugendkulturen gut verdeutlichen.
In einem kurzen Vortrag und begleitet von einer multimedialen Präsentation mit Quellen aus der Geschichte der HipHop-Kultur führt Leonard Schmieding in das Thema HipHop als Jugendkultur in der DDR ein. Ausgehend von ihrer Entstehung in der Bronx (New York) geht er auf die politischen, sozialen und kulturellen Funktionen von Breakdance, Graffiti, DJing und Rap ein: die Verbindung von Party, Unterhaltung, Alltagsbewältigung, Selbstverwirklichung, künstlerischer Betätigung und Protest, und das alles in einer selbstorganisierten Gemeinschaft von Jugendlichen. Diese Dynamik faszinierte auch ostdeutsche Jugendliche, und sie begannen, ihre eigene Version von HipHop östlich des Eisernen Vorhangs zu praktizieren, immer mit dem Ziel, ihren amerikanischen Vorbildern möglichst nah zu kommen. (Eine Inspiration bot ihnen dabei der Film "Beat Street" von 1984, produziert von Harry Belafonte, der in der DDR als eine Symbolfigur des afroamerikanischen Widerstandes in den USA galt.) Kraft ihrer Imagination setzten sie dabei die Grenze außer Kraft – sie begingen sozusagen eine Art virtuelle "Republikflucht": Wenn sie sich in selbstkreierter HipHop-Mode gekleidet zum B-Boying (Breakdance) zusammenfanden, auf der Straße rappten oder auf ihren nächtlichen Streifzügen Graffiti sprühten, nahmen sie an einer transnationalen Jugendbewegung teil und befanden sich gefühlsmäßig in der Bronx. Im Unterschied zu Punks stießen sie dabei nicht auf eine kategorische Ablehnung, sondern konnten durchaus mit einer auf dem sozialistischen Bekenntnis zur internationalen Solidarität basierenden Akzeptanz rechnen, auch wenn diese immer an ein Kontrollbedürfnis und die entsprechenden Überwachungspraktiken gekoppelt war. Darüber hinaus verpackten die jugendlichen HipHopper ihre Botschaften verspielter und weniger konfrontativ als die Punks, sodass sie nicht als Provokation wahrgenommen wurden.
Mit diesem Überblickswissen und einer anschließenden Fragerunde, in der die Schülerinnen und Schüler sammeln, was sie nun bei der Bearbeitung des Materials im Detail herausfinden möchten, gehen wir über in den nächsten Block.
11.15–12.30 Uhr: Block III
Nach den Vorträgen und Überlegungen, wie HipHop und Punk nun in die DDR kamen, ist es aber gut mit Frontalunterricht. Wir haben unser Wissen geteilt, und die Jugendlichen sollen sich nun selber zu Experten weiterbilden. Das bisher Gehörte lässt bei ihnen viele Fragen offen: Wie sind die damals an die Klamotten rangekommen? Woher hatten sie die Musik? Wieso gingen Teenager bis zu 30-mal in "Beat Street"? Warum war Punkmusik so gefährlich? Und was haben sie eigentlich gesungen?
Wieder bündeln wir die Fragen, fassen zusammen und formulieren aus der Neugier der Schüler Arbeitsaufträge für die Quellenarbeit.
Gruppenarbeitsphase (© Stiftung Ettersberg)
Gruppenarbeitsphase (© Stiftung Ettersberg)
Wir haben genügend Quellen und Material mitgebracht, und je nach Gruppengröße und Klassenstufe werden sie variiert. Allerdings bleiben die zwei Themenschwerpunkte der Quellen gleich:
1. Selbstinszenierung der Jugend(sub)kulturen
Ausgehend von Songtexten, Fotos und Selbstbeschreibungen der HipHopper und Punks in den 1980er-Jahren erarbeiten sich die Jugendlichen ein Verständnis für die Situation der subkulturellen Protagonisten in der DDR. Alleine anhand der Songs "Care" (TJ Big Blaster Electric Boogie) und "Prügelknaben" (Schleimkeim) lassen sich Unterschiede, Gefühlslagen und Ideen der Musiker nachvollziehen. Ihre Haltung zur Macht der SED und ihr Umgang damit, wird ebenso deutlich.
Auszug aus TJ Big Blaster Electric "Boogies Care" (englisches "Original") | Auszug aus TJ Big Blaster Electric "Boogies Care" (deutsche "Übersetzung") | Schleimkeim "Prügelknaben" |
everytime attack we sack music history with electric b & my key is mystery electric posse still run dis town we're down with hip hop f*** u zig zag thick tag compromize money musicians always playin for your craftsman visions your music is useless we wouldn't choose it for deadly silence cos your rhythms are violent for our souls […] we're laughing watching the pointer of our sucker seeker fast vibration result of this pigmeat nation termination of culture seems impossible becos of dis sucker invasion […] don't stare with your mouth open sucker just care | ständige attacke wir plündern die musikgeschichte mit electric b und key ist mystery electric posse regiert diese stadt wir machen hiphop verpisst euch ihr zick zack laufenden bescheuerten kompromiss knete musikanten ihr glaubt das handwerk macht alles eure musik ist nutzlos wir würden sie lieber gegen tödliche stille eintauschen denn eure rhythmen sind gewalt für unsere seelen […] wir lachen und beobachten den zeiger unseres suchgerätes starke vibration resultat dieser schweinefleisch fressenden nation das urlaubsende der kulturhäuptlinge scheint unmöglich wegen dieser invasion von blödmännern […] starr mich nicht so an, pass bloß auf du | Wir wollen nicht mehr, wie ihr wollt Wir wollen unsere Freiheit, Wir sind das Volk, wir sind die Macht Wir fordern Gerechtigkeit Wir sind das Volk, wir sind die Macht Es ist zu spät, wenn es erst mal kracht Das ist die Realität Und du merkst, wie die Zeit vergeht Du merkst, wie du langsam hier verfaulst Und wie eine kranke Katze jaulst Gedanken werden sterilisiert Worte durch Zensur kastriert Bilder verfälscht, um den Schein zu wahren Sich stärker zeigen nach langen Jahren Den Willen nehmen und verformen In Normen durch genormte Normen Aufbegehren durch Gewalt verwehren Sich nur um des Nachbars Fehler scheren Das ist die Realität Und du merkst, wie die Zeit vergeht Du merkst, wie du langsam hier verfaulst Wie eine kranke Katze jaulst. |
Es ist immer wieder überraschend, wie akribisch und genau sich die Schülerinnen und Schüler mit diesen Texten und dem Thema auseinandersetzen und Bezüge zu ihrer Lebenswelt herstellen. Doch nicht nur die Texte, sondern auch Fotos, Tagebucheinträge und Filmsegmente öffnen ein Fenster in die damalige Zeit. Entlang der sich selbstgestellten Arbeitsaufgaben werden Vorträge, kleine Präsentationen oder Rollen erarbeitet, die dann in der letzten Gruppenarbeitsphase vorgetragen werden.
2. Wahrnehmung der Jugend(sub)kulturen durch die Herrschenden
Unter diesem Schwerpunkt haben wir Akten des MfS aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), aus Staatsarchiven sowie Radioarchiven zusammengetragen. Zumeist das erste Mal mit der Sprache des MfS konfrontiert (Befehl 11/66 "zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR" oder Protokolle der Bezirksverwaltung des MfS in Dresden) entsteht bei den Schülerinnen und Schülern oft Sprachlosigkeit, Unverständnis, Nachfragen: Was heißt "negativ-dekadent"? Wieso schreiben die so komisch [in den Akten des MfS]?
Die Konfrontation mit der Staatssicht, den Originalen der Herrschenden öffnet für viele Jugendliche ein neues Feld beim Betrachten der Geschichte. So intensiv, so nah haben sich die meisten noch nicht mit den Gegebenheiten auseinandergesetzt. Sicher, es sind Materialien der Elite, der "Avantgarde der Arbeiterklasse", und viele Menschen aus der ehemaligen DDR nehmen für sich in Anspruch, von diesem Denken, von der Arbeit und den Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit gegenüber Andersdenkenden nichts gewusst zu haben. Doch die von den Schülern untersuchten Akten und Anweisungen waren originäres Machtmittel der SED und ermöglichen einen zusätzlichen und wichtigen Blick auf die DDR-Geschichte.
Das Halbtagesseminar ist konzipiert für die Klassenstufe 9 bis 12 und kann sowohl von Realschulen als auch von Gymnasien gebucht werden. Wir haben die Materialien unterschiedlich stark aufbereitet, sodass von intensivem Studium der Originalakten bis hin zu fragegeleiteten Lesen von sprachlich aufbereiteten Quellen vieles möglich ist. Natürlich sind Unterschiede im Interesse und der Durchdringungskraft der Texte bei den Schülerinnen und Schülern der unterschiedlichen Klassenstufen zu bemerken. Ein Interesse, eine wache Neugier und der Spaß, sich – zumindest kurzzeitig – auf historische Pfade zu begeben, ist jedoch in jeder Schulart und in jeder Klassenstufe gleichermaßen anzutreffen.
13.00–14.00 Uhr: Block IV
Es herrscht Arbeitsatmosphäre. In Kleingruppen bearbeiten die Jugendlichen die selbstgestellten Fragen und Aufgaben. Zumeist aufgeteilt in sechs Gruppen entwickeln sie sich zu Experten für ein bestimmtes Thema. Wie genau führte die Staatssicherheit Protokolle über HipHopper? Warum zogen Punks Lederjacken an und bemalten sich HipHopper ihre Turnschuhe? Warum sollte der negative politische Einfluss des Imperialismus so konsequent zurückgedrängt werden?
Um all dieses Wissen zusammenzuführen und in einer Abschlussdiskussion zu bewerten, ist eine Präsentation nötig. In den Gruppen wurden Vorträge und Plakate vorbereitet oder – wenn es die Gruppenstärke zulässt – eine Rolle erarbeitet. Auf einer Podiumsdiskussion im Jahre 2012 treffen sich dann Vertreter der damaligen Zeit: Rapper und Graffiti-Künstler aus der Stadt, Dorfpunks und Punkmusiker, MfS-Offiziere und Vertreter der SED-Kreisleitung und diskutieren über ihr damaliges Leben, über die politischen Besonderheiten der 1980er-Jahre und über das gegenseitige Unverständnis.
Es ist für uns Seminarleiter (wie auch für die beiwohnenden Lehrer) immer wieder verblüffend, wie gut die Schüler ihre Rolle verinnerlichen und durch ihr erarbeitetes Wissen die Problemlagen der 1980er-Jahren ansatzweise verarbeitet haben. Wenn 16-Jährige (die wohlgemerkt die DDR nur noch aus der Erzählung kennen) zu unversöhnlich auftretenden und dialektisch argumentierenden SED-Kulturfunktionären werden und eher schüchterne Schüler als Punks auf einmal lauthals die Internationale singen und für Menschenrechte eintreten, dann entbehrt das nicht eines gewissen Humors, zeigt aber auch, dass die Schüler die Texte verstanden und sich mit ihren in Beziehung gesetzt haben.
Präsentation der Ergebnisse (© Stiftung Ettersberg)
Präsentation der Ergebnisse (© Stiftung Ettersberg)
Dieses neuerworbene Wissen noch einmal zu verfestigen und in den Zusammenhang ihrer eigenen, anfangs gestellten Fragen zu bringen ist dann die Schlussaufgabe von uns Seminarleitern. Ähnlich einem Mosaik haben die Schülerinnen und Schüler ihr "Expertenwissen" den anderen vorgetragen, und der gesamte Klassenverbund hat sich mit neuen Bildern, neuen Geschichten und neuen Wahrnehmungen aus der DDR auseinander gesetzt. Nicht immer ist das Ergebnis für die Schüler befriedigend, denn sie bekommen keine Antworten auf die Frage, wie es denn nun wirklich in der DDR war. Sie bleiben manchmal verwirrt und erschüttert zurück, können mit dem gerade Gelesenen oder von Klassenfreunden Vorgetragenen schwer etwas anfangen, passt es doch so gar nicht in das bisher gepflegte Bild der DDR. Dieses Nebeneinandersetzen von Geschichte, von unterschiedlichen Erfahrungen, zudem gepaart mit der Arbeit an Originalquellen hat sich auch bei Nachfrage als sehr sinnvoll herausgestellt. Im besten Fall fragen die Schülerinnen und Schüler zuhause einmal mehr nach, nehmen interessierter die Meldungen zur Zeitgeschichte wahr oder wollen von ihren Lehrerinnern und Lehrern nun doch wissen, wie es in der DDR wirklich war. Um die DDR zu bewerten, müssen die Schüler nicht dabei gewesen sein, sie müssen nur die richtigen (Nach)Fragen stellen.
Wir haben Hunger. Nach mehr als sechs Stunden packen wir unsere Klappbox wieder ein und verabschieden die Schüler in den Nachmittag. Erschöpft, aufgekratzt, nachdenklich und froh, endlich Schulschluss zu haben, verlassen sie den Klassenraum in eine Welt, in ihre Welt – fern von der DDR.
Wir suchen einen Imbiss und machen uns auf den Weg zurück, auf zur nächsten Schule, am nächsten Morgen.
P.S.: Der Inhalt der Klappbox: Beamer, zwei Laptops, Lautsprecher, zwei Ordner mit Kopiervorlagen.