Anna Kaminsky, Dietmar Müller, Stefan Troebst (Hg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer (Moderne Europäische Geschichte; 1), Göttingen: Wallstein 2011, 566 S., € 39,95, ISBN: 9783835309371.
"Kein anderer bilateraler Vertrag beeinflusste das Schicksal von mehr Staaten, Nationen und Minderheitengruppen in Europa, vornehmlich in Ostmitteleuropa, als der Hitler-Stalin-Pakt." (11) Mit dieser Feststellung verweisen die beiden Mitherausgeber dieser vergleichenden Untersuchung, die Historiker Dieter Müller und Stefan Troebst, auf die einschneidenden, katastrophalen Auswirkungen eines Vertrags, der unterschiedliche Bewertungen erfahren hat. In der Diplomatiegeschichte gelte der Pakt als "notwendige … Voraussetzung für den Beginn des Zweiten Weltkriegs", aus ideologiegeschichtlicher Perspektive besiegelte der Pakt zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten die "endgültige Spaltung der Arbeiterbewegung" und die Totalitarismustheorie nehme mit diesem Pakt ihren Anfang. Die Folgen dieses einschneidenden politischen Ereignisses seien besonders für Ostmitteleuropa nach 1939 und 1945 so gravierend gewesen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg "die Staaten von Estland bis Rumänien zu einem sicherheitspolitischen Glacis der Sowjetunion" (11) wurden. Für die meisten Staaten Ostmitteleuropas sei die Ablösung der braunen Diktatur durch die rote mit drastischen Eingriffen in die Bevölkerungsstruktur verbunden gewesen, was nach dem Holocaust der jüdischen Bevölkerung die Flucht und Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, aber auch die Deportation zum Beispiel der polnischen oder von Teilen der rumäniendeutschen Minderheit nach Sibirien und der Ukraine belege. Diese gravierenden Umwälzungsprozesse seien in den 1970er-/80er-Jahren bereits Themen der Untergrundpresse in Ostmitteleuropa gewesen, wobei die baltischen und die polnischen Dissidenten sich auch mit den Folgen des Hitler-Stalin-Pakts auseinandersetzten.
Der vorliegende Sammelband konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: die staatliche Geschichtspolitik und die gesellschaftlichen Erinnerungskulturen, in denen sich die Auswirkungen des verhängnisvollen Paktes widerspiegeln. Die Genese des Hitler-Stalin-Pakts veranschaulichen die Herausgeber in ihrer Einführung in drei Schritten. Die Historiografie des Paktes unterteilen sie dabei in verschiedene Erklärungsmuster, um die Schwachstellen bei der analytischen Durchleuchtung der Argumentationen herauszuarbeiten. Ausgehend von einer ausführlichen Bewertung der Rezeption des Paktes in der deutsch- und englischsprachigen Forschung geben sie – auf der Grundlage der Angaben in den einzelnen analytischen Beiträgen – eine Übersicht über die Anwendung des Begriffs in den einzelnen Ländern. Dabei kristallisieren sich drei Begriffe heraus: "Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt" (Sowjetunion und GUS-Länder), "Molotow-Ribbentrop-Pakt" (vor allem in ost- und ostmitteleuropäischen Dissidenz- und Emigrationskreisen) sowie "Hitler-Stalin-Pakt" in den westlichen Ländern. Die abschließende Einschätzung der Funktion des Paktes greift die Frage nach der Schaffung europäischer Identität durch Erinnerungskonflikte auf. Sie widmet sich den Kontroversen der nationalen Geschichtspolitiken, die oft im Gegensatz zu den sich herausbildenden Erinnerungskulturen stehen.
Diesem Problemkreis wendet sich Dan Diner unter dem Titel "Gegenläufige Gemeinsamkeiten. Der Pakt als Ereignis und Erinnerung" zu. Auf der Folie der gemeinsamen Truppenparade von Wehrmacht und Roter Armee in Brest am 22. September 1939 untersucht er die Auswirkungen des überraschenden Bündnisses im liberalen Westen, wobei er zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits der 23. August 1939 das Gründungsdatum für die Herausbildung der Theorie des Kalten Kriegs gewesen sei. Mit der Rezeptionsgeschichte des Pakts in Ostmitteleuropa (1939–1999) "als historisch einmaligen, in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ohne Parallele gebliebenen 'Kriegs-, Teilungs- und Vernichtungspakt'"
Die Positionen der Signatarstaaten analysiert Rolf Ahmann mit dem Blick auf die Außenpolitik und die Kriegsvorbereitungen Hitlers; Jutta Scherrer beschäftigt sich mit der Frage, warum der Molotow-Ribbentrop-Pakt noch (k)ein Thema in der russischen Öffentlichkeit und in den Schulen ist; Wolfram von Scheliha gibt einen Überblick über die Aktivitäten der Pakt-Fälscher in der Russischen Föderation, die Ausdruck des geschichtspolitischen Machtkampfes der vergangenen 25 Jahre seien, und Keiji Sato unterzieht die Ergebnisse der russischen Molotow-Ribbentrop-Kommission mit dem Blick auf Souveränitätsansprüche post-sowjetischer sezessionistischer Territorien einer vergleichenden Bewertung, wobei die unterschiedlichen Positionen der baltischen Staaten, der Republiken Moldova, Belarus und Ukraine zum Zusatzprotokoll des Pakts markiert werden. Einen ebenso differenzierten Überblick über die polnische Geschichtspolitik hinsichtlich ihrer Positionen gegenüber einem Pakt, unter dem das polnische Volk am meisten gelitten hat, geben Malgorzata und Krzysztof Ruchniewicz. Sie bewerten den Wandel der Inhalte in den polnischen Geschichtsbüchern ebenso, wie sie eine differenzierte Einschätzung der Haltung der Parteien in Polen gegenüber dem Wandel der russischen Geschichtspolitik gegenüber dem Massenmord an polnischen Offizieren durch den NKWD in Katyn leisten. Die historischen Kontroversen in der belorussischen Geschichtspolitik analysiert Elena Temper, indem sie vor allem die oft widersprüchlichen Positionen der offiziellen Vertreter der Lukaschenko-Diktatur im Hinblick auf den 17. September 1939 ausführlich dokumentiert. Die tragische Wirkungsgeschichte des Pakts für die baltischen Republiken reflektieren drei Beiträge, in denen zunächst Karsten Brüggemann aus estnischer Perspektive die schmale Gradwanderung zwischen erlaubter nationaler Tradition und dem verwerflichen "nationalen Bolschewismus" bis zur baltischen Aufbruchsbewegung nach 1987 darstellt. Katja Wezel konzentriert sich sodann aus lettischem Blickwinkel auf die Forderung führender Politiker, den 23. August als "Europäischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und des Kommunismus" zu etablieren. Die litauische Position (Arunas Bubnys) schließlich setzt sich mit der Deutung des Pakts in der litauischen Presse und den litauischen Geschichtslehrbüchern auseinander. Eine Wissenslücke aus deutscher Perspektive stellt sich beim Blick auf die Bewertung der finnischen Erinnerungskultur an die Jahre 1939/40 insofern heraus, als Michael Jonas in seinem Beitrag "Zwischen Trauma und Identitätsressource" Finnland als Opfer der Politik der Großmächte und als "wehrhafte Demokratie" bezeichnet – eine Position, in der die bislang mythisierten finnischen militärischen Erfolge nunmehr auch mit dem Blick auf die Defizite der sowjetischen Militärführung objektiviert werden.
Die südosteuropäische Erinnerungskultur wird in zwei Beiträgen dargestellt. Dietmar Müller bezeichnet das in Rumänien vorherrschende Geschichtsbild über die eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg "so eindeutig wie paradox" (359) – eine Wertung, die darauf zurückführen sei, dass die politische Klasse, Armee und Gesellschaft sich während des Krieges und in der Nachkriegszeit "korrekt und legitim" verhalten hätten, dies aber von den Großmächten bis 1989 nicht gewürdigt worden sei. Auf der Suche nach den Erklärungen dafür, dass in einem solch widersprüchlichen Geschichtsbild keine eigenen politischen Fehler, Täterschaft und Schuld vorkommen, zählt Müller eine Reihe von Fakten als Beweise dafür auf, dass sich Rumänien im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Opfer von Machtkämpfen gesehen habe. Auch nach 1989 sei Rumänien für Verschwörungstheorien anfällig geblieben. Umso wichtiger seien die Bemühungen von zwei rumänischen Wahrheitskommissionen, die eine Europäisierung der rumänischen Erinnerungskultur anstreben, in der bislang noch der Mythos der "kollektiven Unschuld" (aufgezwungene Kommunisierung nach 1945) vorherrsche (vgl. 376). Vasile Dumbrava hingegen stand vor einer leichteren Aufgabe bei der Bewertung des Hitler-Stalin-Pakts im benachbarten Moldova. Nach 1990 habe dort die Enttabuisierung des Pakts dazu geführt, dass dieser als Ursache der Trennung von den 'Brüdern' in Rumänien und "somit als Auslöser der Zersplitterung der rumänischen Nation gedeutet wird." (389)
Die westeuropäischen Reaktionen auf den Pakt analysiert Lothar Kettenacker im Falle Großbritanniens aus der Regierungs-Perspektive, wobei er vor allem die militärische Untätigkeit der westlichen Alliierten nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen bewertet. Die von vielen Unwägbarkeiten bestimmte Haltung der Franzosen gegenüber dem "deutsch-sowjetischen Nichtsangriffspakt" unter der Einwirkung des militärischen Versagens des Generalstabs im Juni 1940 stellt Guillaume Bourgeois unter Akzentuierung der Rolle der stalintreuen KP Frankreichs dar. Auch die dänische Perspektive der 1940er-Jahre (Palle Roslyng-Jensen) aus dem sozialdemokratischen Blickwinkel von Erik Ib Schmidt bietet einen aufschlussreichen Einblick in den allmählichen Wandel bei der Bewertung des Pakts.
Ein Abschnitt des voluminösen Sammelbands enthält zwei ausgewählte Beiträge zu Reaktionen der ukrainischen und rumänischen Gegenwartsliteratur auf den Hitler-Stalin-Pakt. Anke Pfeifers Artikel zur individuellen und kollektiven Geschichtsaufarbeitung verdeutlicht am Beispiel einiger Autoren (darunter Alfred Margul-Sperber, Norman Manea und Paul Goma), in welcher Weise unterschiedliche Diktaturerfahrungen und Zerstörungen jüdischer Existenzweisen als Folge des willkürlichen Vertrags zwischen zwei Gewaltherrschern verarbeitet wurden. Welche Auswirkungen der Pakt auf den ostmitteleuropäischen Lebensraum hatte, bewertet Katrin Steffen in ihrer fundierten, systematischen Studie über die Vernichtung der dort ansässigen jüdischen Bevölkerung. Dabei betont sie den starken Wandel der eben etablierten Republiken bei deren Versuch eine andere Erinnerungslandschaft nach 1945 zu schaffen.
Es ist eine lobenswerte Geste der Herausgeber, dass sie die Opfer der Auswirkungen und Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am Schluss ihres Sammelbandes in den Blick nehmen. Detlef Brandes stellt die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa aus einer doppelten Perspektive dar: die umfassenden Umsiedlungsaktionen der deutschstämmigen Bevölkerung aus dem Baltikum und aus Bessarabien durch die Nazi-Behörden in das Generalgouvernement des gewaltsam angeeigneten polnischen Territoriums zwischen 1939 und 1941 und die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen reichsdeutschen Gebieten. Außerdem dokumentiert er ausführlich die sorgfältige Pflege des deutschen Kulturguts in den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Publikationen, Gedenkstätten, Stiftungen und in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland.
Hervorzuheben ist auch die umfassende Bilddokumentation auf der Grundlage der Ausstellung "1939 – Pakt über Europa", die 2009 in verschiedenen deutschen Großstädten gezeigt wurde. Den drei Verfassern (Ines Keske, Thomas Klemm und Dietmar Müller) gelingt es, mithilfe von anschaulichen Übersichtstafeln, Fotoreproduktionen, Zeitungsausschnitten und Abbildungen von Plakaten einen lebendigen Eindruck von der historischen Tragweite, der Erinnerungsdimension und den Auswirkungen eines Pakts zu vermitteln, in dessen Folge Millionen Menschen ihr Leben und ihre Heimat verloren haben.
Der Sammelband bietet eine insgesamt überzeugende, packende wissenschaftliche Dokumentation und eine wertende Auseinandersetzung mit den verbrecherischen Taten zweier totalitärer Regime, eine Publikation, die aus östlicher und westlicher europäischer Perspektive die Auswirkungen gewaltsamer Verschiebungen von Lebensräumen und die Erinnerung daran in den Blick nimmt. Ein forschungsintensives Standardwerk, das leider eine bedauerliche Lücke aufweist: die tschechische wie auch die slowakische Bewertung eines Pakts, von dem vor allem Böhmen und Mähren betroffen war.