I
"Aber warum nicht einfach die Wahrheit?" – dieser Slogan war im Herbst 2011 in Leipzig auf den Werbeplakaten des 54. Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm zu lesen. Die Plakate spielten auf die vielfältigen politischen Themen an, die im Rahmen des Festivals in Filmen und Podiumsveranstaltungen aufgegriffen wurden. Die oftmals kontroversen Diskussionen unterstrichen, dass es auch im Dokumentarfilm nur selten einfache Wahrheiten gibt. Dies gilt jedoch nicht nur für politische Dokumentarfilme, sondern auch im Hinblick auf die ambivalente Geschichte des Leipziger Festivals selbst.
Die Leipziger Filmwoche war das größte und wichtigste Filmfestival der DDR. Nachdem das Festival 1955 und 1956 erstmals als innerdeutsche Filmwoche veranstaltet worden war, wurde es – nach einer mehrjährigen Unterbrechung – ab 1960 mit internationaler Beteiligung fortgeführt. Jedes Jahr, meist Mitte November, trafen sich in Leipzig Filmemacher und Journalisten aus aller Welt, um eigene Filme zu zeigen, fremde Filme zu sehen und miteinander zu diskutieren, ähnlich wie auf vielen anderen internationalen Filmfestivals auch. Die Resonanz war sehr groß; insbesondere in der ersten Hälfte der 1960er-Jahren avancierte die Leipziger Filmwoche zu einem der wichtigsten internationalen Schauplätze für Dokumentar- und Kurzfilme. Was die Leipziger Filmwoche jedoch von anderen Festivals unterschied, war ihre ideologische Ausrichtung im Sinne der SED-Kulturpolitik. Getreu dem Motto
Die Leipziger Petersstraße im Zeichen der 12. Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1969 (© Bundesarchiv, Bild 183-H1113-0014-001; Foto: Wolfgang Kluge)
Die Leipziger Petersstraße im Zeichen der 12. Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1969 (© Bundesarchiv, Bild 183-H1113-0014-001; Foto: Wolfgang Kluge)
"Filme der Welt – Für den Frieden der Welt" verstand sich das Festival als Podium für politisch engagierte Filmemacher, die sich mit Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und politischer Unfreiheit auseinandersetzten. Die Kritik beschränkte sich allerdings ausschließlich auf das westliche Gesellschaftssystem. Eine kritische Sicht auf die Probleme in den sozialistischen Ländern fand im Rahmen der Dokumentar- und Kurzfilmwoche lange Zeit nicht statt. Kontroverse Themen wie die Verfolgung politischer Gegner unter Stalin, die Niederschlagung des "Prager Frühlings" oder die Solidarność-Bewegung in Polen waren ebenso tabuisiert wie Konflikte in der DDR. Erst 1987, mit Beginn der Perestroika, konnten zahlreiche sowjetische Filme gezeigt werden, die Probleme wie Umweltverschmutzung, Alkoholismus oder die politische Unzufriedenheit in der Sowjetunion offen ansprachen. Bereits ein Jahr später wurden jedoch alle gesellschaftskritischen Filme aus der UdSSR erneut verboten.
II
Überblickt man die Literatur, die inzwischen zur Geschichte des Leipziger Festivals vorliegt,
Plakat zum 13. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestival, 1970 (© Leipziger Dok-Filmwochen GmbH)
Plakat zum 13. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestival, 1970 (© Leipziger Dok-Filmwochen GmbH)
wie zum Beispiel die "Kerzendemonstration" am Eröffnungsabend des Festivals im Jahr 1983,
Im Rahmen eines Forschungsprojektes, in dem die deutsch-deutschen Filmbeziehungen im Kontext der Filmfestivals von Leipzig und Oberhausen untersucht wurden,
III
Gehler zählte zu den wichtigsten Filmpublizisten der DDR und war darüber hinaus als Mitarbeiter des Leipziger Filmkunstkinos "Casino" tätig. Seine Arbeit als Filmkritiker begann er Anfang der 1960er-Jahre, zunächst für die Zeitschrift "Deutsche Filmkunst", später unter anderem für den "Filmspiegel" und die kulturpolitische Wochenzeitung "Sonntag".
Er war jedoch weiterhin als Filmpublizist tätig, unter anderem für die Zeitschrift "film".
Aufgrund dieser Konflikte, in denen sich Gehlers filmpolitisches Engagement und sein unangepasstes Verhalten widerspiegelt, erscheint es naheliegend, dass er durch das MfS observiert wurde. Bei den Recherchen beim BStU wurden jedoch Akten zugänglich gemacht, die belegen, dass die Staatssicherheit ein anderes Ziel verfolgte. Demnach trat im Januar 1968 ein Mitarbeiter der Abteilung II der Leipziger Bezirksverwaltung des MfS (die Linie II war zuständig für die Spionageabwehr, wozu auch die Überwachung ausländischer Journalisten gehörte) an Gehler heran – mit dem Interesse, ihn als IM zu werben.
Verpflichtungserklärung von IM "Walter", BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 1, Bl. 30 (© BStU)
Verpflichtungserklärung von IM "Walter", BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 1, Bl. 30 (© BStU)
Schweigeverpflichtung von IM "Walter", BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 1, Bl. 29 (© BStU)
Schweigeverpflichtung von IM "Walter", BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 1, Bl. 29 (© BStU)
Eine Verpflichtungserklärung, die von Gehler eigenhändig verfasst und persönlich unterschrieben wurde, belegt, dass er wissentlich mit dem Mitarbeiter des MfS kommunizierte und dass die Anwerbung erfolgreich war. Gehler erklärte sich demnach bereit, "das Ministerium für Staatssicherheit in der Erfüllung seiner gestellten Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen" und wählte selbst den Decknamen "Walter".
Die IM-Tätigkeit Gehlers dauerte den MfS-Unterlagen zufolge bis Ende des Jahres 1976 an. Während dieser neun Jahre fanden zahlreiche Treffs zwischen IM "Walter" und verschiedenen hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS statt, meist in sogenannten "konspirativen Wohnungen" in Leipzig, die von der Staatssicherheit gezielt als Treffpunkte genutzt wurden. Die Berichte erfolgten in der Regel mündlich – alle Informationen wurden auf Tonband mitgeschnitten und anschließend transkribiert. Überblickt man die überlieferten Berichte, dann fällt auf, dass Gehler anfangs anscheinend sehr intensiv mit dem MfS kooperierte. Er lieferte im November und Dezember 1968 beispielsweise mehrfach Informationen über Personen, die er im Rahmen des Leipziger Festivals kennengelernt hatte, darunter Journalisten aus Frankreich, Österreich und der Bundesrepublik.
Bericht von IM "Walter" über einen Journalisten aus Frankfurt am Main, BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 2, Bl. 15 (© BStU)
Bericht von IM "Walter" über einen Journalisten aus Frankfurt am Main, BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 2, Bl. 15 (© BStU)
Über einen Journalisten aus Frankfurt am Main, der unter anderem für die "Frankfurter Rundschau" tätig gewesen sein soll, heißt es etwa in einem der Berichte: Er spare nicht mit "Kraftausdrücken gegen den Bonner Staat. Sein Auftreten 1968 in Leipzig lässt jedoch den Schluss zu, dass sich [geschwärzt] oft in einer kleinbürgerlich-anarchistischen Revoluzzerhaltung gefällt, der noch tiefere Einsichten in die Dialektik des Klassenkampfes fehlen". Er habe außerdem "zu den Wortführern einer Frontenbildung gegen die Festivalpolitik und zu den Initiatoren einer Resolution zur 'Erneuerung des Leipziger Festivals'" gezählt. Dieser Haltung liege "keine gesteuerte Tendenz zu Grunde, sondern Unkenntnis, verbunden mit politisch-ideologischer Arroganz", so die Einschätzung von IM "Walter".
Angesichts dieser Tätigkeit für das MfS erscheint es widersprüchlich, dass Gehler zeitgleich weiter als Filmpublizist tätig war und dabei abermals in Konflikt mit staatlichen Stellen geriet. Im Frühjahr 1968 erschien beispielsweise ein Text von ihm zu Konrad Wolfs Film "Ich war neunzehn" in der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik. Abgesehen von der grundsätzlich umstrittenen Tatsache, dass ein in der DDR lebender Autor selbstständig Texte in der Bundesrepublik veröffentlichte, sorgte auch der Inhalt der Kritik für Unmut: Gehler hatte den Film sehr ausgewogen besprochen und war unter anderem auf das Vorgehen der Roten Armee in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges eingegangen, das im Film sehr differenziert dargestellt werde: "Das Klischee von den strahlenden Befreiern und den glücklichen Befreiten dürfte durch Wolfs Film endgültig denunziert worden sein", so Gehler in der Kritik.
All diese Konflikte waren innerhalb des MfS bekannt. Die Hauptabteilung XX, die speziell für die Überwachung der Künstlerszene zuständig war,
Bericht von IM "Walter" über einen DDR-Bürger, der u.a. Kontakte zu amerikanischen Journalisten unterhielt, BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 2, Bl. 224 (© BStU)
Bericht von IM "Walter" über einen DDR-Bürger, der u.a. Kontakte zu amerikanischen Journalisten unterhielt, BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1932/76, Teil 2, Bl. 224 (© BStU)
Gehler stellte den Kontakt her und berichtete im Anschluss über die Wohnverhältnisse des Leipzigers, dessen Familiensituation sowie politischen Ansichten, die er im Verlauf des Besuchs im Erfahrung bringen konnte.
Trotz der offenkundigen Spitzeltätigkeit für das MfS erscheint die IM-Tätigkeit von Fred Gehler insgesamt in einem sehr widersprüchlichen Licht. Einerseits lässt sich die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit nicht relativieren, zumal es immer wieder denunzierende Berichte gab, in denen sich Gehler ausführlich zu privaten Details der observierten Personen äußerte.
Ein anderes Indiz für das widersprüchliche Verhältnis zum MfS ist, dass die Staatssicherheit Gehler zwar regelmäßig neue Aufträge erteilte, die Qualität seiner Berichte aber nicht immer den Erwartungen des MfS entsprach.
IV
Der hier geschilderte Fall zeigt, dass es für Menschen, die sich zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet hatten, durchaus Möglichkeiten gab, die eigene Spitzeltätigkeit einzuschränken oder sogar gänzlich abzubrechen. Die Methode, zu Treffen nicht mehr zu erscheinen oder keine relevanten Berichte mehr zu liefern, war unter den IM des MfS durchaus verbreitet.
Ein spekulatives Konstrukt
Replik zum Text "Keine einfachen Wahrheiten"
Fred Gehler, Leipzig
Die stimmigste Aussage steht in der letzten Fußnote des Textes. Zitat: "Er (Gehler) hat dabei jedoch bestritten, jemals mit dem MfS kooperiert zu haben." Dem ist im Prinzip nichts hinzuzufügen. Es gab meinerseits nie eine solche Zusammenarbeit.
Die zitierten Akten sind (soweit sie mir bekannt) entweder fingiert, auch gefälscht (z.B. die angebliche Verpflichtungserklärung) oder aus anderen fragwürdigen "Quellen" zusammengeschustert.
Meine gelebte Biografie war und ist anders, als dieses spekulative Konstrukt mutmaßt! Es ist eindeutig dokumentiert, wann und wie oft ideologische Polemiken und Attacken gegen mich mich an den Abgrund meiner beruflichen Existenz brachten. Es gab darauf stets von mir eine klare Reaktion. Das waren aber weder Haltungen der Buße oder der Erpressbarkeit noch irgendwelche Deals mit denen, die mich an den Pranger stellten. All diese Vorgänge lösten vielmehr eine Art "heiligen Zorns" aus, der solche Haltungen einfach ausschloss. Diese Phasen durchzustehen, verdanke ich Unterstützern zum Beispiel aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR und dem Henschel-Verlag. Das ist die einfache Wahrheit!
Ein krasses Beispiel für das spekulative Konstrukt ist etwa der Versuch, die Leipziger Dokwoche, die obskure IM-Münchhausiade und mich in Verbindung zu bringen. Im November 1968 wurde ich vom Festivaldirektor Wolfgang Harkenthal eigenhändig des Festivals verwiesen – als unerwünscht, nicht zugelassen, eben als "schädliches Subjekt". Bis 1977 hatte ich keinerlei Beziehungen zum Festivalgeschehen, weder zu bestimmten Ereignissen, Vorgängen noch Gästen. Ich blieb konsequent fern, als Reaktion auf den Rausschmiss, vor allem aber aus Selbstachtung. Im November 1977 akkreditierte mich der "Sonntag" für einen Festivalbericht. Auch dies ist eine einfache Wahrheit!
Ich bedauere, dass der Autor diesen obskuren Quellen einen hohen Erkenntnisgrad beimaß und meine Gegenargumentation unberücksichtigt ließ. Rechtliche Schritte behalte ich mir vor.