Sammelrezension zu:
Hermann Kappelhoff, Bernhard Gross, Daniel Illger (Hg.): Demokratisierung der Wahrnehmung? Das westeuropäische Nachkriegskino (Traversen; 11), Berlin: Vorwerk 8 2010, 248 S., € 19,–, ISBN: 9783940384294.
Thomas Schick, Tobias Ebbrecht (Hg.): Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms (Film, Fernsehen, Medienkultur), Wiesbaden: VS 2011, 385 S., € 29,95, ISBN: 9783531174891.
Claus Löser: Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR (Schriftenreihe der DEFA-Stiftung), Berlin: defa-spektrum 2011, 477 S., € 12,50, ISBN: 9783000348457.
Demokratisierung der Wahrnehmung?
Unter diesem Titel werden Arbeitsprodukte des Sonderforschungsbereiches "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" an der Freien Universität Berlin vorgestellt. Die hier versammelten Beiträge, so die Herausgeber Hermann Kappelhoff, Bernhard Gross und Daniel Illger in ihrer Einführung (11), durchziehen als roter Faden die Fragen von Theoretikern des Kinos wie André Bazin oder Siegfried Kracauer, aber auch vieler Regisseure nach Kriegsende, wie angesichts immenser ideologischer und materieller Trümmer das Verhältnis von Film, Geschichte und Gesellschaft neu bestimmt werden sollte (13). Gab es ähnliche, im westeuropäischen Maßstab vergleichbare Neubesinnungsstrategien und -angebote auf die eigentliche ästhetische und kulturelle Kraft des Kinos, die in der Nachkriegszeit zu einer "Demokratisierung der Wahrnehmung" führten? Dieser ambitionierten Fragestellung gehen die 13 Autoren des Sammelbandes in sehr unterschiedlicher Weise, zumeist aus filmwissenschaftlicher Perspektive, nach.
Der Titel des Sammelbands lässt nun allerdings zunächst etwas Ratlosigkeit aufkommen. Wurde in der Nachkriegszeit (verstanden als ein geschichtlicher Prozess, der bis Ende der 1940er-Jahre verortet wird) nur im westeuropäischen Kino eine "Demokratisierung der Wahrnehmung" der Zuschauer angestrebt? Wie ist dabei das Kino der ersten Nachkriegsjahre in den mittelosteuropäischen Ländern und das "Filmschaffen" der Akteure zu bewerten, das im sich formierenden russischen Hegemonialbereich des "Ostblocks" bald grundsätzlich anderen ästhetisch-didaktischen Strategien folgte? Versank dieses nun völlig in der totalitären Indienstnahme der Massenmedien unter spätstalinistischen Herrschaftsverhältnissen bzw. reicht solch ein Befund für einen Gesamtblick auf das internationale Massenmedium Kino des 20. Jahrhunderts noch aus? Nimmt man den aus der Rückschau abgeleiteten Buchtitel vielleicht als provokativen Denkanstoß, scheint die Frage hilfreich zu sein, ob von außen betrachtet das westeuropäische Kino historisch gesehen überhaupt als homogenes kulturelles Gebilde wahrgenommen wurde bzw. werden konnte.
An der Konzeption des Bandes befremdet jedenfalls, dass sich kein Beitrag dieser beginnenden europäischen Spaltung in der Nachkriegszeit annimmt und nicht etwa nachgefragt wird, inwieweit auch im westeuropäischen Kino dazu Spuren zu finden sind bzw. welche Auswirkungen dies auf die Neuformierung europäischer Filmkultur gespielt haben mag. Anette Brauerhoch nimmt sich etwa des DEFA-Spielfilms "Straßenbekanntschaft" (1948) von Peter Pewas an, und zwar unter dem grenzüberschreitenden Aspekt, welche Geschlechterverhältnisse hier abgebildet werden. Allerdings geht Brauerhoch nicht auf das Spannungsverhältnis ein, dass diese ostdeutsche Produktion als quasi "westeuropäisches" Kulturprodukt verhandelt wird: Der Regisseur des Films war nachweislich von Roberto Rosselinis neorealistischen Nachkriegsfilmen "Rom offene Stadt" (1945) und "Paisa" (1946) beeinflusst, dieser drehte 1948 selbst auch in Berlin für "Germania anno zero".
Eine Ausnahme unter den Beiträgen bildet Thomas Elsaessers bemerkenswerter, bereits 2009 veröffentlichter Beitrag zu Konrad Wolfs und Angel Wagensteins DEFA-Produktion "Sterne" aus dem Jahr 1959. Der Autor weist gerade an der Bildsprache und kontextuellen Bewertung dieser ostdeutsch-bulgarischen Koproduktion nach, wie nahe man dabei an das (west-)europäische Autorenkino, etwa von Alain Resnais oder Alexander Kluge, kommen kann. Aus dem Werk Konrad Wolfs ließe sich gerade lernen, welchen Widersprüchen und Zeitbrüchen sich Filmemacher in den Nachkriegsjahrzehnten aussetzten, wenn sie ihr Schaffen so engagiert und unbedingt mit dem "Nachleben der deutschen Geschichte und der Rettung der 'Seele Deutschlands'" stellten (114). Andererseits zeigt Sabine Schöbel beispielhaft Einflüsse des europäischen Nachkriegskinos auf Lorenza Mazzettis in Großbritannien realisierten Experimentalfilm "Together" (1956) auf, die zu einem anderen Sehen des Alltags führen konnten.
Schließlich bleibt die Anregung, gerade hier innovativen wie potentiell demokratisierenden Tendenzen im gesamteuropäischen Nachkriegskino durch einen blockübergreifenden Blick nachzuspüren, ohne dabei die besonderen Bedingungen filmischen Schaffens in den staatsozialistischen Staaten zu vernachlässigen. Als Grundmanko vieler Beiträge bleibt leider deren sperrige Lesbarkeit, die einem interdisziplinären Austausch im Wege stehen.
Kino in Bewegung
Thomas Schick/Tobias Ebbrecht, Kino in Bewegung (© VS)
Thomas Schick/Tobias Ebbrecht, Kino in Bewegung (© VS)
In seinem Geleit zur vorliegenden Publikation stellt der Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg, Dieter Wiedemann, die neue Publikationsreihe "Film, Fernsehen, Medienkultur" beim Verlag für Sozialwissenschaften vor. Nach fast 50 Jahren hat sie die traditionsreichen "Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft" (BFF, 1961–2009) abgelöst und soll nun weiterhin über "wissenschaftliche und wissenschaftlich-künstlerische Forschungsergebnisse" an der Hochschule zu Tendenzen im deutschen Gegenwartsfilm informieren. Der Start ist gut gewählt, denn damit erweist sich auch die notwendige, weil überfällige Öffnung des Forschungsgegenstands als Paradigmenwechsel, die endgültige Überwindung der "Nachwendezeit" im Nachdenken und Reflektieren des deutschen Gegenwartskinos.
Interessanterweise knüpfen Tobias Ebbrecht und Thomas Schick in ihrer Einleitung zu dessen Perspektiven gerade an Statements von Filmwissenschaftlern und -historikern an, die eine Agonie des heutigen deutschen Autorenkinos behaupten (etwa Georg Seeßlen und Fernand Jung, 12). Es werde ein zwar soziologisch interessantes, aber ökonomisch eher belangloses "Potemkino" gepflegt gegenüber dem ständig wachsenden amerikanischen Verleih- und Distributionssektor. Diesen Ansichten werden Beiträge des Bandes zum neuen deutschen Kino gegenüber gestellt. So wird die heutige Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bei der Verwirklichung und Verwertung von neuen Filmproduktionen als "Subventionskino TV" neu bewertet, eine "ethische Wende" mit ihren transkulturellen Bezügen am Beispiel der jüngsten Produktionen von Fatih Akin skizziert, über die erfreulichen kulturell-produktiven Folgen des EU-Beitritts Polens und das Kinoschaffen als grenzüberschreitender, transnationaler Apparat in der Europäischen Union nachgedacht, bis hin zu Reflektionen über die Auswirkung der nationalen wie europäischen Filmförderung auf das deutsche Gegenwartskino, zu den internationalen Transmissionsleistungen des Goethe-Instituts für den deutschen Gegenwartsfilm sowie dessen Resonanz auf Festivals.
Die Beiträge mit unterschiedlicher analytischer Tiefe zum Gegenwartskino sind von den Herausgebern auf drei Sektoren verteilt worden. Der erste Teil versammelt Lektüren und Überblicke zu "Ästhetik und Diskursen", der zweite stellt geografische wie ästhetische "Grenzen und Übergänge" vor, der dritte bemüht sich um kontextuelle Betrachtungen und perspektivische Ansätze. Ganz in der Tradition der BFF-Vorgängerreihe wird der Band durch einen vierten Teil ergänzt: die Rückbindung des filmwissenschaftlichen Nachdenkens an persönliche Erfahrungen von Filmemachern, hier am Beispiel der "Berliner und Babelsberger Schule", und schließlich das dokumentierte Werkstattgespräch mit Filmregisseur Andreas Dresen.
Strategien der Verweigerung
Claus Löser, Strategien der Verweigerung (© DEFA-Stiftung)
Claus Löser, Strategien der Verweigerung (© DEFA-Stiftung)
Diese Untersuchung über die auf Schmalfilm (Super 8) oder vereinzelt auch auf Video hergestellten unabhängigen Produkte einer versteckten, "klandestinen Filmkultur" in der letzten Dekade der DDR (13) hat Claus Löser als Dissertationsschrift an der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) eingereicht. Hinter dem sperrigen Titel versteckt sich eine nahezu erschöpfende Untersuchung der Handlungsbedingungen, kulturellen Verortung und Zielvorstellungen sowie ihrer staatlichen Überwachung als Teil einer autonomen, "zweiten" Kultur in der DDR seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976. Beigefügt sind neben einer Chronik der Ereignisse des DDR-"Untergrundfilms" ab 1980 auch aufschlussreiche Dokumente aus dem BStU-Bestand, die die staatliche Beobachtung der filmischen Aktivitäten des Autors dokumentieren. Löser war selbst aktiver Mitstreiter dieser unabhängigen Schmalfilmszene, in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt). Die Staatssicherheit hatte ihn schon als Jugendlichen ins Visier genommen, weil er sich mit anderen Gleichaltrigen eigenständig über Kunst, Kultur und Religion auseinandersetzte (378f).
Deutlich herausgearbeitet werden von Löser die Wurzeln dieser Szene einerseits aus dem künstlerischen Umgang bekannter Malergrößen wie etwa A. R. Penck, Jürgen Böttcher, Lutz Dammbeck oder Cornelia Schleime mit dem Schmalfilmformat, zum anderen in der kreativ eigensinnigen und damit unter den DDR-Bedingungen zwangsläufig politischen Aneignung einer kulturellen Ausdrucksform, über die der Staat in seiner ganzen Komplexität waltete. Erkennbar wird die Breite dieser Szene über Berlin hinaus in die Bezirksstädte. Die Breite und auch die Begrenztheit dieses Spektrums der überlieferten und von Löser dokumentierten Arbeiten dieser filmischen Subkultur lag an den schwierigen Umständen, an das Material, etwa über Westkontakte heranzukommen, aber auch an den nur vereinzelten Möglichkeiten in der DDR, sich technisches Know-how an Bildaufnahme-, -mischtechnik und -entwicklung zu verschaffen. Gleichzeitig spielte auch die Ästhetik der frühen MTV-Musikkurzfilme Anfang der 80er-Jahre in der DDR-Szene eine stimulierende Rolle.
Damit waren der kreative Akt des "Underground"-Filmens und die Vorführung dieser Produkte in der DDR, unabhängig von ihrem künstlerischen Wert, "ein Dokument des Aufbegehrens gegen einen totalitär begründeten medialen Notstand für sich." (397) Deshalb sollte auch Claus Lösers unverzichtbare Studie möglichst bald mit einer möglichst vollständigen Sicherung und kommentierten Präsentation dieser entstandenen Kulturprodukte ergänzt werden.