Die Pressemitteilung des Deutschen Olympischen Sportbundes nach dem "ausführlichen Meinungsaustausch" zwischen Bundespräsident Joachim Gauck und DOSB-Präsident Thomas Bach im Schloss Bellevue Anfang Mai des Olympiajahres 2012 verlautbarte die übliche Geschäftsmäßigkeit. Im Mittelpunkt des Gesprächs habe die "gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports mit seinen vielfältigen Aufgaben" gestanden; es folgte sodann eine Aufzählung von Themen, die bei ähnlich bedeutenden Gelegenheiten vom deutschen Sportpräsidenten gebetsmühlenartig vorgetragen werden und gegen deren Bedeutung für die sportive Gesellschaft ohnehin kein halbwegs vernünftiger Mensch etwas haben kann: Integration, Bildung, Gesundheit, Integration, Sportentwicklung, internationale Zusammenarbeit, Kampf gegen Doping, Widerstand gegen Rechtsextremismus. Nichts Neues, nichts Überraschendes, es war der Griff in den üblichen Warenkorb.
DOSB-Präsident Bach, von Beruf Wirtschaftsanwalt und politisch bekennender FDP-Mann, nutzte die Gelegenheit des offiziellen Antrittsbesuches beim ersten Bürger des Staates zu diversen staatstragenden Statements. Unter anderem sagte er: "Das von Herrn Gauck gewählte Thema der Freiheit in Verantwortung für die Allgemeinheit bietet Antworten auf viele Herausforderungen unserer Zeit. Er kann damit in Zeiten fortschreitender Globalisierung Orientierung auch für den Sport geben". Bei dieser sybillinischen Andeutung blieb es, wo man doch gern gewusst hätte, was genau gemeint ist. Etwa die Freiheit, die sich der organisierte Sport genommen hat, ehemalige Minderjährigen-Doper aus DDR-Zeiten zu entschulden und sie wieder als festangestellte Trainer auf die Athleten loszulassen, ohne dass sie sich für ihre früheren Vergehen bei den heute schwer Geschädigten entschuldigen oder zumindest ihr damals angewendetes Arsenal von Wirkstoffen und Stimulanzien konkret offenlegen mussten? Oder ist die Freiheit gemeint, die angesichts eines in der Bundesrepublik Deutschland fehlenden Anti-Doping-Gesetzes die Athleten genießen, die – es sei denn, sie werden im Besitz "nicht geringer Mengen bestimmter zum Doping geeigneter Arzneimittel" erwischt – bei Doping-Missbrauch und Doping-Konsum strafrechtlich nicht zu belangen sind?
"Härtester Konkurrenzkampf der olympischen Geschichte"?
Das DOSB-Kommuniqué berichtet ebenfalls davon, dass man die deutschen Erfolgsaussichten bei den bevorstehenden Olympischen Sommerspielen in London erörtert habe, und zwar "ausführlich". Und dann offenbart das sonst so dröge DOSB-Papier doch noch etwas Verblüffendes. Nein, nicht dass Gauck die deutsche Olympiamannschaft besuchen werde, ist das Besondere, das Einzigartige liegt im – so wörtlich – "zu erwartenden härtesten Konkurrenzkampf der Olympia-Geschichte", bei dem der Bundespräsident Vor-Ort-Unterstützung leisten werde. Dadurch, so Bach, "gewinnt das Motto 'Wir für Deutschland', unter dem unsere Olympiamannschaft auftritt, eine ganz besondere Bedeutung."
"Der zu erwartende härteste Konkurrenzkampf der olympischen Geschichte" – so soll es also in London sein, und wir mittendrin? Die Deutschen als Turm in der olympischen Schlacht? Das klingt nicht gut und kann böse Erinnerungen wecken.
Blick auf das Reichssportfeld mit dem Olympiastadion in Berlin. Aufnahme vom Sommer 1936. (© Bundesarchiv, Bild 183-R82532; Foto: Hoffmann)
Blick auf das Reichssportfeld mit dem Olympiastadion in Berlin. Aufnahme vom Sommer 1936. (© Bundesarchiv, Bild 183-R82532; Foto: Hoffmann)
1936 war es am schlimmsten, und nach dem Zweiten Weltkrieg traten der Ostblock und mit ihm, allen voran, die DDR mit der Behauptung an, Sporterfolge seien Ausdruck der Überlegenheit der sozialistischen Ideologie. Nun wird, gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR, in kaum verschlüsselter Form ein Szenario entworfen, als entscheide sich an der Themse die Zukunftsfähigkeit des wiedervereinigten Deutschland.
Die deutschen Sportführer haben den Weckruf ausgegeben, jetzt müssen nur noch die Sportlerinnen und Sportler folgen. Alles schon mal dagewesen – Olympia der Kampfplatz, an dem sich nicht nur die besten Sportler der Welt begegnen, sondern auch Regierungs-, Wirtschafts- und Sozialsysteme im Wettbewerb stehen. Zwar waren mit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Machtblöcke pulverisiert worden, aber dem "Friedensfest" Olympischer Spiele ist davon nichts anzumerken. Dabei ist es schwer nachvollziehbar, warum ausgerechnet der Sport in jener Nation, deren Blessuren eines politisch total überhöhten Spitzensports heute noch immer nicht ganz vernarbt sind, den Kampf um olympisches Gold schon wieder auf die Spitze treibt. Manfred Ewald lässt grüßen?
"Der Kampf um die Medaillen wird härter, dieser Kampf ist mit nichts vorher vergleichbar", sagt Sportfunktionär Bach. Seine Parolen sind im Lauf seiner Amtsjahre an der Spitze der deutschen Sport-Dachorganisation immer martialischer geworden, auch nationaler. Dazu kommen unbelegte Behauptungen, die eindeutig als Forderung an die Haushalter im politischen Berlin gerichtet sind: China, USA, Russland, Großbritannien, Japan, Südkorea, bei den anderen Nationen "war noch nie so viel Geld im Spiel wie jetzt".
Medaillen und Gerechtigkeit
Wer erinnert sich eigentlich noch an Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine Rede vor der Versammlung des deutschen Sports 1975 in der Frankfurter Paulskirche? Schmidt sagte damals, die Anzahl von Medaillen sage nichts aus über die Freiheit und die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. Was damals so richtig war wie heute, scheint nichtsdestotrotz völlig verdrängt. Die Bundesrepublik Deutschland, Politik und Sport, haben in einem knallharten Schulterschluss einen anderen Weg eingeschlagen.
Bezeichnend dafür der Auftritt des Generaldirektors des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Michael Vesper, im Deutschen Bundestag im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2010 in Vancouver.
Deutschland vor Russland: Medaillenspiegel der Olympischen Winterspiele; Anmerkungen: 1) einschließlich Bundesrepublik und DDR, 2) einschließlich Sowjetunion und Vereintes Team der GUS-Staaten, 3) einschließlich Tschechoslowakei, 4) einschließlich Jugoslawien sowie Serbien und Montenegro. (© Wikimedia)
Deutschland vor Russland: Medaillenspiegel der Olympischen Winterspiele; Anmerkungen: 1) einschließlich Bundesrepublik und DDR, 2) einschließlich Sowjetunion und Vereintes Team der GUS-Staaten, 3) einschließlich Tschechoslowakei, 4) einschließlich Jugoslawien sowie Serbien und Montenegro. (© Wikimedia)
Vor den Abgeordneten des Sportausschusses des Deutschen Bundestages erklärte er, die Sportlerinnen und Sportler der deutschen Olympiamannschaft seien bereit, für das große Ziel zu kämpfen, in der Nationenwertung an Russland vorbeiziehen und damit im ewigen Medaillenspiegel der Winterspiele die Führung zu übernehmen. Was am Ende dann auch gelang. Nun also steht es in der olympischen Winterstatistik Deutschland gegen Russland nach Goldmedaillen 128:123. "Vertreter aller Fraktionen beglückwünschten die Athleten zu den gezeigten Leistungen", verzeichnet das Protokoll des Bundestags-Sportausschusses.
Die Olympia-Bilanz in den Medien hingegen fiel weniger unkritisch aus. Die "Frankfurter Allgemeine" konstatierte: "Mit den 128 Medaillen, die er als Leistungsbilanz Deutschlands anführt, stellt sich der einstige Grünen-Minister Vesper wie selbstverständlich in die Tradition von DDR und Hitler-Deutschland". Das war ein völlig berechtigter Hinweis, denn die DDR hatte 39 Olympiasiege beigesteuert, und bei den Nazi-Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen hatte es zweimal Gold gegeben.
Dermaßen bloßgestellt, zeigte der DOSB die üblichen Reaktionsmuster, wenn er attackiert wird, zumal von einer Seite, die er in früheren Jahren eher hinter sich wusste. In einem Leserbrief an die "FAZ", der im Namen des gesamten DOSB-Präsidiums abgegeben und im eigenen Pressedienst komplett abgedruckt war, hagelte es unsachliche Gegenangriffe und persönliche Unterstellungen: Es sei irritierend, "wenn gerade Sportjournalisten offensichtlich den Sinn des Leistungssports verkennen und seine Förderung auf zynische Art und Weise angreifen", hieß es da. Und schließlich stand da dann noch ein Satz drin, so kolossal wie die chinesische Mauer: "Der olympische Gedanke ist die Seele des Sports" – gerade so, als kämen die Jubelmeldungen, der deutsche Sport habe die Führung in der ewigen Wintersport-Medaillenwertung übernommen, von den inkriminierten Journalisten und nicht aus der Machtzentrale des Sportbundes.
"Sportpolitische Großmannssucht"
Beobachter des organisierten deutschen Sports registrieren, dass spätestens mit der Zäsur im Jahre 2006, als Deutscher Sportbund (DSB) und Nationales Olympisches Komitee (NOK) zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) fusionierten, die deutsche Sportführung einen Weg übersteigerter nationaler Stärke eingeschlagen hat. Eine Zustandsbeschreibung lautet: "schlecht verhüllte sportpolitische Großmannssucht". Der Ungeist des DDR-Sports scheint wiederauferstanden. "Muss man jedes Wettrüsten mitmachen?", fragt die "Süddeutsche Zeitung" und stellt klar: "Dass vor allem autoritäre Staaten ihre Athleten zunehmend mit Geld vollpumpen, um Welt und Volk die eigene Großartigkeit zu beweisen, muss ja nicht für das wertegeleitete Sportsystem Vorbild sein, wie es hierzulande propagiert wird." Ein Hinweis, der offenkundig jene schon nicht mehr erreicht, die bereits an der Kopie eines neuen deutschen "Sportwunders" arbeiten.
Bei der Überhöhung von Spitzensport-Erfolgen zu einer Art nationaler Schicksalsfrage haben sich Staat und organisierter Sport zu einem Interessenverbund zusammengeschlossen. "Die Bundesregierung sieht in der Gestaltung der Sportpolitik eine zentrale Frage", bestätigt der ehemalige Innen-und Sportminister Thomas de Maizière im letzten Sportbericht der Bundesregierung vom September 2010. Weiter heißt es dort: "Bei den Olympischen Sommerspielen in Peking erzielte die deutsche Auswahl den fünften Platz im Medaillenspiegel und konnte sich im Vergleich zu Athen 2004 um eine Position verbessern. Gemeinsames Ziel aller verantwortlichen Akteure ist es, Deutschland im Sommersport bis zu den Olympischen Spielen in London 2012 wieder an die Weltspitze heranzuführen". Einen "schwarzrotgoldenen Medaillentaumel" bescheinigte Thomas Hahn in der "Süddeutschen" dem Minister, der sich dem Sportparlament angebiedert hatte mit der Bemerkung, eigentlich sei "nur im Sport der Leistungsbegriff positiv besetzt": "Ist es denn nicht eher so, dass der Leistungsbegriff gerade im Sport umstritten ist, wenn es um die Frage geht, welchen Preis Leistung haben darf"?
Immerhin hatten 2007 öffentliche Doping-Geständnisse ehemaliger Radprofis die Deutsche Telekom zur Beendigung ihrer Sponsorschaft für den nach ihr benannten Radrennstall gezwungen. Zum Vorschein kam ein jahrelang sorgsam kultivierter Sumpf von Lug und Trug, über den auch Deutschlands einziger Tour de France-Gewinner Jan Ullrich stürzte. Es war ein Betrugssystem, das – unfassbar, aber wahr – mit sachkundiger aktiver Unterstützung von Sportmedizinern der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau nahezu perfekt in Schwung gehalten wurde.
Bei der in Bonn ansässigen Telekom AG, dem größten Telekommunikationskonzern in Europa, ist die Bundesrepublik Deutschland der mit Abstand größte Aktionär. Zur Aufarbeitung des Dopingskandals, in dessen Konsequenz so gut wie gar nichts geschah außer der Entlassung von zwei beim "Team Telekom" in Sold stehenden Freiburger Sportmedizinern durch die Universität, etablierte die Freiburger Exzellenz-Hochschule zwei Kommissionen. Die Rechtsprofessorin Letizia Paoli von der Universität Leuven in Belgien hat Ende 2009 den Vorsitz der "Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin" übernommen. Seither hat die international renommierte Kriminologin in dieser Causa reichlich Erfahrungen mit juristischen Winkelzügen, unterlassener Unterstützung und passivem Widerstand von baden-württembergischen Universitätsbehörden, Landespolitikern, Standesorganisationen und Sportfunktionären sammeln dürfen. Nun hofft sie, endlich irgendwann im Jahre 2012 ihren Abschlussbericht vorlegen zu können.
Ähnliche Erfahrungen haben die Historiker der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Berliner Humboldt-Uni machen müssen, die am Forschungsauftrag mit dem beeindruckenden Titel "Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation" arbeiten. Als die Wissenschaftler im Herbst 2011 reichlich Belege für ein "systemisches Doping in Westdeutschland" vorlegten, hatte wieder einmal die Stunde der "Transparenz-Allergiker im Sport" (Jens Weinreich) geschlagen. Initiator Deutscher Olympischer Sportbund und Geldgeber Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISP), eine nachgeordnete Behörde des Bundesinnenministeriums, entwickelten plötzliche eine Menge phantasievoller Auflagen, die Vielzahl von Dokumenten und Beweisen unterm Deckel zu halten, die westdeutsche Mediziner, Sportführer und Politiker weitreichender Doping-Praktiken überführten. An der Verhinderungspolitik hat sich, allen anderslautenden Ankündigungen zum Trotz, selbst ein halbes Jahr nach Ergebnisvorlage nichts geändert.
Ja, Leistungssport sei wichtig, es brauche diese Werbeplattform für die Basis. "Aber in Deutschland ist das Medaillengewinnen viel zu wichtig geworden, mittlerweile wirkt es so, als reiche es dem Sportland schon, wenn fast konkurrenzlose Rodelfrauen mit ihren Siegen die nationale Eitelkeit befriedigen", beklagt "SZ"-Autor Hahn. Dabei gäbe es ganz andere Herausforderungen. Die Einführung der Ganztagsschule, zum Beispiel, erfordere es, das Verhältnis von Schulen und Sportvereinen zu überdenken, die Chancen zu ergreifen, die sich aus der neuen Konstellation ergeben, die Energien klug ineinanderlaufen zu lassen. Was – zugegeben – schwieriger sei, als die teure deutsche Bob-Herrschaft zu sichern.
"Die wollen immer nur Geld"
Finanziell geht es dem deutschen Spitzensport so gut wie noch nie, der 12. Sportbericht ist da ganz eindeutig. Durch die finanzielle Förderung des Bundes konnten wichtige Punkte aus dem Konzept des DOSB zur "Zukunftsfähigkeit des Spitzensports" verwirklicht werden, indem der Etat für den Spitzensport "trotz der angespannten Lage des Bundeshaushalts und der damit einhergehenden Konsolidierung des Bundeshaushalts" sogar noch gesteigert wurde. Wobei vielfach angezweifelt wird, ob tatsächlich immer dem Grundsatz "Staatliche Sportförderung in Deutschland ist subsidiär" gefolgt wird. "Subsidiarität setzt voraus, dass die Organisationen des Sports die zu fördernden, im Bundesinteresse liegenden Maßnahmen nicht oder nicht vollständig aus eigenen Mitteln finanzieren können".
"Die wollen immer nur noch mehr Geld, aber wenn wir nach Konzepten fragen, dann heißt es Fehlanzeige", klagte unlängst ein Ministerialbeamter aus der Sportabteilung des Bundesinnenministers über die ständigen Forderungen aus der DOSB-Zentrale nach weiteren Finanzspritzen. Dabei war der Bund in den vergangenen Jahren nahezu allen Wünschen des Sports entgegengekommen: Unter anderem wurden mehr Stellen für Trainer geschaffen, ihre Besoldung erhöht, die Erfolgsprämien allein für das Jahr 2010 auf eine Millionen Euro angehoben. Soeben, Mitte Mai 2012, hat DOSB-Generaldirektor Vesper im Bundestags-Sportausschuss erneut für den nächsten Förderzyklus 2013 bis 2016 eine "Anpassung" der Trainergehälter gefordert, dafür seien zusätzlich zwei Millionen Euro nötig. Gelinge dies nicht, prognostiziere er einen Aderlass von deutschen Trainern ins Ausland. Alles in allem erhält der Spitzensport für das laufende Geschäftsjahr aus dem Bundesetat einen Beitrag von zusammen 241 Millionen Euro.
Eine wesentlich bessere Ausstattung mit einer signifikanten Erhöhung der Planstellen erhielten in den letzten Jahren das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig und das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin. Beide Einrichtungen waren, neben dem Dopinganalyse-Labor in Kreischa, als Bestandteil in den Einigungsvertrag der beiden deutschen Staaten aufgenommen worden, um Spezifika des doch so außergewöhnlich erfolgreichen DDR-Sports für den wiedervereinigten deutschen Sport zu sichern. Hingegen war eine noch vom Deutschen Sportbund (DSB) gewünschte Anschubfinanzierung für den in der DDR geradezu primitiv ausgestatteten Breiten- und Massensport, die der gesamten ostdeutschen Bevölkerung zugute gekommen wäre, mit dem Hinweis auf fehlende gesetzliche Zuständigkeit abgelehnt worden. In anderen Fällen, etwa bei der Kulturförderung, hatte die Bundesregierung 1990 kein Problem darin gesehen, wegen der außergewöhnlichen politischen Situation eine Ausnahme zu machen.
"DDRisierung des deutschen Sports"
"Die wichtigste Säule, wenn nicht das tragende Fundament des deutschen Sports ist der Breitensport. Die gesellschaftliche Bedeutung des Breitensports kann nicht überschätzt werden": Was Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede zur Gründung des Deutschen Olympischen Sportbundes im Mai 2006 propagierte, klingt wie eine Botschaft aus dem vergangenen Jahrhundert. Wenn in der Bundesregierung die Wertigkeit des Breitensports wirklich so hoch eingeschätzt wird, dann stellt sich die Frage, warum dies keine Folgen für die praktische Politik hat.
Nach den von der Pisa-Studie aufgedeckten Lerndefiziten deutscher Schülerinnen und Schüler haben sich auch körperliche Mängel immer mehr breitgemacht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der krankhaft fettleibigen Schulkinder verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die körperliche Leistungsfähigkeit im Durchschnitt um zehn bis 15 Prozent eingebrochen. Zwei Schritte rückwärts zu balancieren ist für jedes dritte Kind eine nicht zu bewältigende Aufgabe. – Zu diesen beängstigenden Ergebnissen kommt die Jugendgesundheitsstudie des Robert Koch-Instituts. Ein Armutszeugnis für die selbsternannte Sportnation Deutschland.
"Deutschland, Sportnation", so steht es plakativ oben im Internetauftritt des Bundesinnenministeriums, der Begriff wird in fast schon inflationärer Weise benutzt und erinnert fatal an die "Sportnation DDR", die ihre Sportler als "Diplomaten im Trainingsanzug" instrumentalisierte und die aus purem Erfolgsdenken alles beiseite räumte, was die Konzentration auf medaillenintensive Sportarten hätte ablenken können. Und in der Tat, gut 20 Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit gibt es einen Mix, sind die beiden völlig unterschiedlichen Sportsysteme miteinander eine Verbindung eingegangen. Die Anleihen, die der Westen genommen hat, beziehen sich speziell auf den Sektor des Spitzensports, der unverkennbar Züge einer deutlichen "DDRisierung" trägt.
Dazu gehört auch der unablässige Versuch der Leistungsplaner im "Haus des deutschen Sports" im Frankfurter Stadtwald, die gewachsene föderale Struktur des bundesdeutschen Sports immer mehr einzuengen zugunsten eines zentralistischen Sportsystems. Nach dem politischen Umbruch fand sich sehr schnell eine Koalition aus Sportexperten beider deutscher Staaten, die die Auffassung vertraten, Föderalismus und Demokratie seien ohnehin nur nachteilig für Erfolg versprechenden Hochleistungssport. Daher findet man in einigen Verbänden, etwa im Deutschen Ski-Verband (DSV), dessen Generalsekretär und starker Mann ein früherer Stellvertretender Generalsekretär des Skiläuferverbandes (DSLV) der DDR ist, Verhältnisse, die sich nur wenig von den Kommandostrukturen wie einst im ostdeutschen Sport unterscheiden. Allerdings lassen sich im modernen Sportbusiness aufgewachsene Athleten Gängelei und Fremdbestimmung nicht mehr bieten. Ihren mit 25 Jahren überraschend frühen Ausstieg aus dem Leistungssport hat die Biathletin Magdalena Neuner auch damit begründet, sie wolle sich nicht mehr von Sportfunktionären bei Olympischen Spielen hin- und herschubsen lassen und sie wolle endlich ernstgenommen werden. Natürlich ist das nur eine Hypothese: Ob vielleicht der sympathischen Olympiasiegerin der Spaß am Sport noch erhalten geblieben wäre in einem anderen Verband, in dem der mündige Athlet kein leeres Schlagwort ist?
Der Deutsche Skiverband ist überhaupt das schlagende Beispiel für einen olympischen Fachverband, wo ein Ehemaliger vom Format eines DDR-Politruks nun als hauptamtliche Spitze in seinem Machtbereich für ein großflächiges Comeback alter Seilschaften sorgt und sie reichlich mit Posten und Pöstchen ausstattet. Dabei scheint eine Doping- oder Stasi-Vergangenheit kaum als Hinderungsgrund zu gelten. Vielleicht verbindet es, als "sozialistische Persönlichkeit" agiert und einen "klaren Klassenstandpunkt" vertreten zu haben?
"Unbewusst gesteuerter Verdrängungsmechanismus"
Biathlontrainer Frank Ullrich beim Training mit seinem Schützling Franz Luck, Aufnahme vom Sommer 1989. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1003-019; Foto: Helmut Schaar)
Biathlontrainer Frank Ullrich beim Training mit seinem Schützling Franz Luck, Aufnahme vom Sommer 1989. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1003-019; Foto: Helmut Schaar)
Einer von ihnen ist soeben vom DSV mit einem Vertrag als Chef-Bundestrainer für Ski-Langlauf ausgestattet worden. Der 54-jährige Thüringer Frank Ullrich war ab 1986 Lauftrainer der DDR-Biathleten und stand 2009 im Mittelpunkt massiver Dopingvorwürfe auch aus den Reihen seiner ehemaligen Athleten. Der Deutsche Ski-Verband weigerte sich, den Fall an die Unabhängige Anti-Doping-Kommission des Deutschen Olympischen Sportbundes abzugeben, und installierte für die Untersuchung lieber ein verbandseigenes Gremium, das dann auch zu dem erwarteten Ergebnis kam: Ullrich wurde vom Doping-Vorwurf entlastet. Begründung: Wenn er daran festhalte, er sei davon ausgegangen, dass es sich bei den blauen Pillen für die Sportler lediglich um legale trainingsunterstützende Mittel gehandelt habe, gehe die Kommission von einem "unbewusst gesteuerten Verdrängungsmechanismus aus – dahingehend, dass er sich die Dinge als junger, ehrgeiziger und an Spitzenleistungen orientierter Trainer in dem Sinne zurechtgelegt hat, dass dies nach dem damaligen Erkenntnisstand notwendig gewesen sei."
So oder ähnlich sieht es in vielen deutschen Sport-Fachverbänden aus. Zwei der bedeutendsten, der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) und der Deutsche Schwimm-Verband (DSV), hatten nach der "Wende" in einer Mischung aus Naivität und Erfolgsgier etliche belastete Trainer und Wissenschaftler eingestellt; als deren Vergangenheit publik wurde, hieß es, Rausklagen sei sinnlos, weil die Betroffenen inzwischen durch mehrfache Vertragsverlängerungen den Status der Unkündbarkeit erlangt hätten. In der DLV-Zentrale in Darmstadt ist seit 1990 die viermalige Sprint-Olympiasiegerin der DDR von 1976 und 1980, Bärbel Wöckel, in der Jugendarbeit tätig. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Anti-Doping-Prävention, aber zu ihrem eigenen, dokumentierten Doping-Missbrauch ("das ist doch schon so lange her") schweigt sie beharrlich.
Hoffnungslos sieht die Lage im Fußball aus, in allen ostdeutschen Landesverbänden tummeln sich bis in höchste Ehrenämter völlig ungeniert frühere Stasi- und Doping-Täter. Die Fakten sind bekannt und von den Medien berichtet worden, aber beim Deutschen Fußball-Bund hat man noch nicht mal eine Untersuchungskommission eingerichtet. Im DFB werden solche Personalia, wenn überhaupt, zur Chefsache gemacht, vertraulich behandelt und diskret entschieden, in der Regel im Sinne des Fußballsports.
Eine halbwegs verantwortbare Aufarbeitung der Verwerfungen des DDR-Sports hat der deutsche Sport längst eingestellt, vielfach ist sie unerledigt geblieben durch simple Tricks wie absichtlich fehlerhafte Antragsstellungen, durch bewusste zeitliche Verzögerungen oder aber durch Altlasten an den entscheidenden Schalthebeln in Behörden und Bürostuben, die schlichtweg gar kein Interesse hatten, an der Vergangenheit zu rühren. Häufig wurde nach dem Vorbild von Willi Daume gehandelt, der zur Vereinigung der beiden deutschen Nationalen Olympischen Komitees im Herbst 1990 gesagt hatte: "Wie schön, uns sind die Feindbilder abhanden gekommen". Und: "Nehmen wir sie mit offenen Armen auf". Dem westdeutschen NOK-Präsidenten Daume war es offensichtlich egal, dass sein ostdeutscher Kollege Joachim Weiskopf als Chef des DDR-Kanuverbandes von ehemaligen Athleten jahrelanger schlimmer Drangsaleien bezichtigt wurde.
Wie langjährige Zuträger des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit – der Historiker Giselher Spitzer beziffert die Zahl der von der Hauptabteilung XX/3 allein für den Bereich Sport geführten Mitarbeiter auf rund 30.000 – es schafften, trotz schwerer Belastung im vereinten deutschen Sport in der Karrierespur zu bleiben, belegt beispielhaft die Geschichte des Kanu-Trainers Helmut Hörentrup. Als er 30 war, verpflichtete er sich in Potsdam als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter, sein Auftrag: Armeesportler "unter Kontrolle" zu halten. Unter anderen bespitzelte er Einer-Olympiasieger Jürgen Eschert. Nach Ende der DDR wechselte Hörentrup als Nachwuchstrainer zum Kanu-Landesverband Württemberg, 1992 berichteten Deutschlandfunk, "FAZ" und "Spiegel" vom Abtauchen des IM, der dennoch bis Mitte der 90er-Jahre unbehelligt im Sport weiterarbeiten konnte. Danach ging Hörentrup zurück nach Mecklenburg-Vorpommern und wurde zum Präsidenten des Landes-Kanuverbandes gewählt; ein Amt, das er erst 2011 im Alter von 77 Jahren abgab. Eine deutsche Sportkarriere.
Als der Stasi-Fall Hörentrup jetzt von Fernseh-Journalisten des NDR Schwerin aufgegriffen und der Ex-Stasi-Mann zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde, verweigerte er sich mit der Begründung: "Wem nützt es, die Dinge aufzuwärmen, ich bin bald am Ende". "IM Rose", der in der DDR scharenweise Sportkameraden skrupellos denunzierte, schweigt. Seit 22 Jahren. Mit dieser Taktik hat er sich im vereinten deutschen Sport Einkommen und Ehrenämter gesichert. Es ist eines von unzähligen Beispielen für das Versagen der vielzitierten "Selbstreinigungskräfte des Sports", das Sport-Organisationen und -Verwaltungen in Bund, Ländern und Kommunen geschehen lassen, manchmal unwissend, meistens gleichgültig und desinteressiert.
Streitfall Zielvereinbarungen
Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland garantiert den in den Sportvereinen und Verbänden organisierten Bürgern einen grundrechtlich abgesicherten Freiraum. Die Autonomie ist dem Sport heilig, der Politik auch, jedenfalls behaupten das beide Seiten unablässig, besonders in den so beliebten Sonntagsreden. "Die Stärke des deutschen Sports liegt darin, dass er sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten in eigener Verantwortung und autonom regelt", heißt es beim Bundesinnenministerium.
Allerdings muss differenziert werden. Was nicht in den Statuten steht, aber seit der Neuordnung des westdeutschen Sports nach dem Zweiten Weltkrieg völlig unstrittig ist: Die wahren Autonomen im bundesdeutschen Sport sind die Verbände. Denn sie sind es, die die Athleten zur Verfügung stellen, sie haben ihre Nationalmannschaften, sie nominieren für die Großereignisse jene Sportlerinnen und Sportler, die die Medaillen gewinnen und für Deutschland auf dem Siegespodest stehen sollen. Die Verbände sind es, die eigene Verträge für Sportausrüstung und für Fernsehübertragungen aushandeln.
Seit 2007 praktiziert der Dachverband DOSB ein Verfahren, das er als probate Fördermaßnahme zur Steigerung des Medaillenertrags preist, zugleich ist es geeignet, die Sportfachverbände in ihrer scheinbar grenzenlosen Autonomie stärker an die Kandare zu nehmen im Sinne einer planbaren Leistungs-Perspektive.
Auszug aus der internen Präsentation des DOSB aus dem März 2009 mit den Zielvereinbarungen für die Olympischen Sommerspiele 2012. (© Jens Weinreich)
Auszug aus der internen Präsentation des DOSB aus dem März 2009 mit den Zielvereinbarungen für die Olympischen Sommerspiele 2012. (© Jens Weinreich)
Die Zauberformel heißt "Zielvereinbarungen". Darin werden zwischen dem DOSB und den Fachverbänden die Ziele verhandelt und festgelegt, die bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie bei Olympischen Spielen realistischerweise erreicht werden sollen. Zugleich damit werden die dazu geeigneten Maßnahmen bestimmt. Auf dieser Basis werden die Gelder, circa zwei Millionen Euro jährlich, für die Projektförderung verteilt; einmal im Jahr treffen sich DOSB und Verband, um den aktuellen Stand des vereinbarten Ziels zu überprüfen und, wenn nötig, neu zu justieren. Daneben gibt es noch die Grundförderung für die Verbände, sie macht 70 Prozent der Gesamtfördersumme aus und wird auf vier Jahre, für die Dauer eines Olympiazyklus, festgelegt.
Man sieht, Sportförderung ist ein kompliziertes Verfahren. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hatte sich als einziger öffentlich gegen die Einführung von Zielvereinbarungen und deren bürokratischen Mehraufwand gewehrt, war aber schließlich doch von deren Sinnhaftigkeit überzeugt, nachdem ihm vom DOSB einige Etat-Verschlechterungen in Aussicht gestellt worden waren. Das Planungsinstrument Zielvereinbarungen war übrigens dem DOSB 2006 von einer sportfremden Unternehmensberatung empfohlen worden. Möglicherweise war der Ideengeber ein Kenner des DDR-Sports. Beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) in Ost-Berlin wurde nämlich schon früh ein Verfahren praktiziert, das den Verbänden sehr konkret ein Medaillen-Soll quasi zur Pflicht machte. Planerfüllung gab es nicht nur in der DDR-Wirtschaft.
Aber auch in puncto Geheimhaltung hat der bundesdeutsche Sport von der DDR gelernt. Denn die Zielvereinbarungen und die dazugehörenden Gesprächsprotokolle werden von DOSB und Innenministerium streng unter Verschluss gehalten, was in der 51. nichtöffentlichen Sitzung des Bundestags-Sportausschusses am 9. Mai 2012 zum wiederholten Male zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Selbst die Parlamentarier, deren eigentliche Aufgabe die Kontrolle über die ordentliche Verwendung der vom Bund bewilligten Sportfördermittel ist, erhalten keinen Einblick. Für die Opposition kritisierte SPD-Sportobmann Martin Gerster, "hier werden Gelder verteilt, ohne dass wir erfahren, nach welchen Kriterien", und forderte ein Ende der "Geheimniskrämerei". Für die Regierungskoalition geht der DOSB-Geheimpakt in Ordnung. Zielvereinbarungen über anvisierte Medaillen gehörten nicht in die Öffentlichkeit, meint CDU-Sportpolitiker Klaus Riegert. Der DOSB sieht hier Parallelen zum Prinzip Betriebsgeheimnis: Mit Blick auf den internationalen Wettbewerb habe man "kein Interesse an der Veröffentlichung". Bei einer früheren Gelegenheit hatte DOSB-Generaldirektor Michael Vesper in diesem Sinne argumentiert: "Es kann nicht sein, dass diese Medaillenziele mal eben hochgerechnet werden für die Sommerspiele in London. Das wäre keine gute Lage für die Vorbereitung der deutschen Olympiamannschaft".
Die Argumentation, wonach die Zielvereinbarungen "Geschäftsgeheimnisse" des DOSB seien, ist jedoch aus Sicht der Bundestagsabgeordneten Viola von Cramon (Bündnis 90/Die Grünen) nicht nachvollziehbar, schließlich handele es sich um "Geld aus staatlichen Mitteln". Ihre Anspielung auf das Instrument Informationsfreiheitsgesetz lässt freilich erahnen, dass der Disput um Transparenz in der Sportförderung noch nicht in seine letzten Runde gegangen ist.
"Wir können Olympia"?
Warum die seit Vollzug der Wiedervereinigung drei deutschen Olympiabewerbungen jeweils mehr oder weniger kläglich scheiterten, ist eine Frage von besonderer Delikatesse. In allen Fällen – der Kandidatur von Berlin für die Sommerspiele 2000, der von Leipzig für Olympia 2012 und der von München für 2018 – hatte der Sport die unbedingte Unterstützung von Staat und Regierung. Auch die finanziellen Zusagen der Politik waren weitreichend. Im Fall Leipzig gab es deutliche Signale, dass der ostdeutsche Bewerber Wunschkandidat der Bundesregierung sei, und ging tatsächlich als Sieger aus der internen bundesdeutschen Evaluierung hervor. Am Ende war es von besonderer Peinlichkeit, dass die Leipziger bei den IOC-Prüfern noch nicht einmal die Vorrundenauswahl überstanden und zum Finale nicht zugelassen wurden. Die Behauptung der deutschen Sportfunktionäre "Wir können Olympia" bleibt somit weiter unbewiesen. Ein Beschluss für ein neues olympisches Abenteuer ist nicht in Sicht und wird mit Gewissheit solange auf Eis liegen, bis im September 2013 ein neuer Präsident des Internationalen Olympischen Komitees gewählt ist. Der Deutsche Thomas Bach, derzeit in Personalunion DOSB-Chef und IOC-Vizepräsident, gilt als einer der ernsthaften Anwärter auf die Nachfolge des Belgiers Jacques Rogge.
Bach, der bei den Sommerspielen 1976 in Montreal mit der Florett-Mannschaft der Bundesrepublik die Goldmedaille gewann, ist ein Zögling des 2010 verstorbenen spanischen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch und ein Schützling des Herzogenauracher Sportartikel-Herstellers Horst Dassler. Beide, Samaranch und Dassler, hatten nach 1980 den Welt-Sportverbänden Professionalität und Kommerzialität beigebracht und das bis dato schwache Internationale Olympische Komitee zu einem auch finanziellen Machtfaktor reformiert.
Thomas Bach, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, bei dessen Gründungsversammlung am 20. Mai 2006 in Frankfurt am Main. (© ddp/AP, Foto: Michael Probst)
Thomas Bach, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, bei dessen Gründungsversammlung am 20. Mai 2006 in Frankfurt am Main. (© ddp/AP, Foto: Michael Probst)
Bach ist ein Kind des Leistungssports. Er gehörte 2006 zu den heftigen Betreibern eines Zusammenschlusses der beiden deutschen Sport-Dachorganisationen DSB und NOK zum DOSB, in dem bereits von der Namensgebung her der olympische, also der Hochleistungssport absoluten Vorrang besitzt. Auch wenn von Seiten der Organisation immer wieder das Gegenteil behauptet wird: Im Deutschen Olympischen Sportbund führt der Breitensport, der im Übrigen unter dem Begriff "Sportentwicklung" ressortiert, ein Schattendasein. Der Sport für alle, der 27,5 Millionen Menschen in 91.000 Vereinen vereint und kaum Schlagzeilen produziert, wird als Anhängsel geführt, während alle Kraft und Fürsorge in die paar tausend Elitesportler gehen, die für die sogenannte Ehre der Nation antreten.
Der Frust der Basis in einigen Landessportbünden etwa geht soweit, dass dort offen Bedauern darüber geäußert wird, im Mai 2006 der Fusion zum DOSB zugestimmt zu haben. Hessens Landes-Sportchef Rolf Müller hatte 2010 den DOSB-Präsidenten sogar zum Rücktritt aufgefordert. In Zusammenhang mit der Reform des staatlichen Wettmonopols sprach Müller, der für die CDU im hessischen Landtag sitzt, von einem "Schlag in das Gesicht des ehrenamtlichen Sports in Deutschland". Bach vertrete ausschließlich die Interessen des Profi-Fußballs und habe "in seinem Interesse, IOC-Präsident zu werden, den ehrenamtlich geführten Sport aus den Augen verloren."
Nachholbedarf Breitensport und Blühende Landschaften
Sucht man in den sogenannten "neuen Bundesländern" bald 22 Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit das Besondere im Breitensport, dann fällt zunächst die Angleichung der Lebensverhältnisse auf. Fördergelder auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene, darunter der "Goldene Plan Ost", zuletzt das "Konjunktur-Programm der Bundesregierung", haben im Sportstättenbau die vielzitierten "blühenden Landschaften" entstehen lassen. Die ohnehin wenig überzeugenden Klagen der 90er-Jahre, der im Vergleich zum Westen geringere Organisationsgrad von Sportvereins-Mitgliedern sei den zu vielen maroden Sportanlagen geschuldet, sind verstummt. "Wir haben bei 1,7 Millionen Einwohnern jetzt 230.000 Mitglieder und immer noch Zuwächse, da kann man ganz zufrieden sein, wir sind gut aufgestellt", sagt Wolfgang Remer, der Chef des Landessportbundes Mecklenburg-Vorpommern. Remer ist als einziger LSB-Gründungspräsident von Beginn an im Amt, während seine Kollegen von damals in Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt ziemlich bald wegen früherer Stasi-Tätigkeit ihre Ämter hatten verlassen müssen.
Bundesweit starke Beachtung gefunden hat die Aktion "Sport statt Gewalt", die sich an Jugendliche bis zu 16 Jahren wendet, die möglichst noch keinem Verein angehören. Statistiken haben Mecklenburg-Vorpommern bei der Jugendkriminalität als "einsame Spitze" ausgewiesen, jetzt leistet der Sport einen Beitrag, "in der Freizeit was Sinnvolles zu machen" (LSB-Präsident Remer). Aus Sachsen werden Rekordbeteiligungen gemeldet, nachdem dort Landes-Seniorenspiele neu eingeführt wurden. Auch landesweite Jugendspiele stehen hoch im Kurs. Frauen erobern neue Sportfelder, etwa beim Nordic Walking. Sportarten, die zu DDR-Zeiten erheblichen Beschränkungen unterlagen, haben inzwischen weit aufgeholt. Das gilt besonders für das Reiten. Und für Tennis. Erst 1994 war die erste Tennishalle in Leipzig entstanden, die Zuwachsraten für den Tennissport in den neuen Ländern waren bis zum Jahre 2000 gewaltig. Asiatische Kampfsportarten, Tanzsport und Sportschießen haben unverändert Konjunktur. Überall sind Radwanderwege entstanden, die netzförmig miteinander verbunden sind und zu touristisch reizvollen Punkten führen. Dort, wo, etwa in der Lausitz, ehemaliger Tagebau renaturiert wird, entsteht eine Seen-Landschaft mit "Aufforderungs-Charakter", zum Paddeln, Radfahren, Laufen, Wandern. In diesen Gegenden Sportvereine neu anzusiedeln, ist ausdrücklich gewünscht.
Nach Ende der Kommandostrukturen im Sport war Fantasie gefragt.
Start zum 35. GutsMuths-Gedenklauf entlang des Rennsteigs in Neustadt am Rennweg, 2007. (© ddp/AP, Foto: Jens Meyer)
Start zum 35. GutsMuths-Gedenklauf entlang des Rennsteigs in Neustadt am Rennweg, 2007. (© ddp/AP, Foto: Jens Meyer)
Der Rennsteiglauf etwa über die Höhen des Thüringer Waldes, dessen 40. Jubiläum soeben gefeiert wurde, wirbt mit Sonderrabatten für arbeitslose Läufer und Wanderer, inzwischen ist er Europas größter Crosslauf. Im Lande Brandenburg ist die größte Veranstaltung der Spreewald-Marathon, immer im April, mit über 7.000 Teilnehmern. Sie haben die Wahl zwischen Laufen, Walken, Wandern, Skaten, Radfahren und Kanu-Paddeln.
"Sportvereine im Übergang"
Allerdings ist es häufig eine Privatinitiative – und nicht der organisierte Sport –, die soviel Resonanz auslöst. Gleiches trifft für den "Fläming-Skate" in der Nähe von Luckenwalde zu. Das ist ein Netz von asphaltierten Wegen für Inline-Skater von insgesamt 225 Kilometer Länge. Die Läufer reisen aus der gesamten Bundesrepublik an und kommen begeistert wieder. Ganze Schulklassen pilgern an ihren "Wandertagen" dorthin und drehen auf Rollschuhen ihre Runden.
Unbegreiflicherweise betrachten einige Landessportbünde solche Fortentwicklungen von Sport, Spiel und Bewegung, die es im Leistungssport-fixierten DDR-Sport nicht gab, noch immer mit Argwohn. Die immer größer werdende Zielgruppe von Sporttreibenden ohne Wettkampf-Orientierung verunsichert altgediente Funktionäre, die zum Teil bereits im SED-Sport gedient haben. In den 90er-Jahren hatte der Soziologe Jürgen Baur von der Universität Potsdam in seinem Buch "Sportvereine im Übergang" eine Untersuchung zur "Vereinslandschaft in Ostdeutschland" vorgelegt. Darin kritisierte er die Neugründung von vorwiegend Klein- und Kleinst-Sportvereinen und den Umstand, dass die Ausrichtung der Verbands-und Vereinsführungen immer noch "wettkampf-orientiert" sei. Noch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem politischen Umbruch dominiert vielfach das alte, vom Leistungssport geprägte Denken.
"Leuchtturm des ostdeutschen Sports"?
In dieser Schieflage sehen Fachleute auch die Gründe, dass der Organisationsgrad bei sämtlichen fünf ostdeutschen Landessportbünden weit hinter den westdeutschen zurückbleibt. Besonders trifft das auf den LSB Brandenburg zu. Der Sportminister des Landes, Holger Rupprecht, nannte 2010 vor brandenburgischen Sportfunktionären aufschlussreiche Details: "Während im Bundesdurchschnitt jeder dritte Bürger einem Sportverein angehört, ist dies in den neuen Ländern nur zirka jeder siebte, wobei Brandenburg mit zwölf Prozent Sportbeteiligung trotz ansteigender Tendenz noch immer am Tabellenende der 16 Bundesländer steht". In Potsdam macht alljährlich das sarkastische Bonmot der Landespolitiker die Runde, der LSB habe das Schlusslicht in Deutschland "mit Erfolg verteidigt". Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, was DOSB-Präsident Thomas Bach nicht daran hinderte, dem Landessportbund in Potsdam zum 20-jährigen Bestehen mit den Worten zu gratulieren, er sei ein "Leuchtturm des deutschen Sports".
Die Situation damit zu erklären, dass in den alten Ländern im Gegensatz zu den neuen etwa ein Drittel der Vereinsmitglieder aus sogenannten "Passiven" bestünde, hält der Wirklichkeit nicht stand. So liegt die Sportbeteiligung bei den sieben- bis 14-jährigen Jungs in Brandenburg bei 36 Prozent, bundesweit jedoch bei 83 Prozent und ist damit mehr als doppelt so hoch. Es gibt also noch deutlichen Nachholbedarf.
Unterm Strich steht aber auch, dass die sportliche Aktivierung der Gesamtbevölkerung in Ostdeutschland, so unbefriedigend sie insgesamt auch sei, dennoch weit über dem Niveau zu DDR-Zeiten liegt. Ein verklärender Rückblick empfehle sich nicht, sagt der Sportminister, "denn die Sportbeteiligung im Lande Brandenburg war noch nie so hoch wie heute". Sie lag im Jahr 2009 etwa 50 Prozent über der in den damaligen DDR-Bezirken Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder) – jenen Bezirken also, die das heutige Bundesland Brandenburg bilden.
"Wir haben viel erreicht, aber wir könnten viel weiter sein", klagt ein Potsdamer Breitensport-Experte. Eine Sportwissenschaftlerin aus Leipzig, die inzwischen im Vereinssport tätig ist, bestätigt: "Die ehemaligen Sportfunktionäre des DDR-Sports, die heute in den Bundesländern tätig sind, können oder wollen nicht anders, als alles dem Leistungssport zuzuordnen".
Dass es anders geht, beweist der Turn- und Sportverein in Falkensee, einer 40.000 Einwohner-Gemeinde im Landkreis Havelland im sogenannten Speckgürtel um Berlin. Birgit Faber, die Sportliche Leiterin, sagt: "Die Menschen suchen in der Globalisierung Halt, wir stärken sie durch Bewegung. Wir vermitteln Werte und leben soziale Verantwortung". Das Ergebnis ist umwerfend: Der Verein hat rund 2.400 Mitglieder und verfügt über 120 ehrenamtliche Übungsleiter für insgesamt 17 Sportbereiche. Ein eindrucksvolles Exempel als erfolgreicher Beleg, was möglich ist, wenn der Sport zu den Menschen geht.
Diffuses Bild vom Sport
Auf dem Gebiet des Sports bietet Deutschland nach 22 Jahren der Wiedervereinigung ein diffuses Bild, noch immer voller Zerrissenheit. Es kontrastiert stark mit dem Votum der Politiker, die von Berufs wegen von Anbeginn an gebetsmühlenartig vortrugen, der Sport habe das Zusammenwachsen besser und schneller geschafft als andere gesellschaftliche Bereiche. Nichts davon stimmt.
Während Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich für die Politik immerhin eingesteht, dass das allgemeine Bild zwar positiv sei, es allerdings "natürlich gelegentlich auch noch Spannungen und Ungleichheit" gebe, ist für den Bereich Sport ein differenziertes Urteil nicht vorgesehen. Im 12. Sportbericht der Bundesregierung ist die Rede von der Herausforderung der Zusammenführung zweier völlig unterschiedlicher Sportsysteme. Es sei "gelungen, die Annäherung von Ost und West voranzubringen und damit wesentlich zu einer erfolgreichen Wiedervereinigung des Sports und des deutschen Volkes beizutragen".
Vielleicht gilt das mit Einschränkung für den Fußball, für die Auftritte der DFB-Nationalmannschaft. Aber ansonsten hat diese Sichtweise mit der Wirklichkeit nichts zu tun. In vielen Sport-Organisationen gibt es Ost/West-Fraktionen und -Friktionen. Als im Jahre 2011 die Deutsche Sporthilfe neue Mitglieder in die Ruhmeshalle des Sports, die "Hall of Fame", aufnahm, brach ein Proteststurm los – auf der einen Seite, weil der ostdeutsche Rad-Heros Täve Schur, der noch heute den Bau der Berliner Mauer gutheißt, für die Aufnahme in die "Hall of Fame" nominiert war, auf der anderen Seite, weil Schur bei der Wahl durch die nahezu ausschließlich westdeutschen Jury-Mitglieder nicht genügend Stimmen bekam und durchfiel. Und auch Renate Stecher, die Sprint-Olympiasiegerin von München '72 und Montreal '76 aus Jena, war ein Riesen-Medienthema. Sie war in die "Hall of Fame" aufgenommen worden, gewissermaßen gegen das Versprechen, ihren von der Staatssicherheit gut dokumentierten Dopingmissbrauch zu erläutern. Sie ist es bis heute schuldig geblieben.
Er sei traurig über diese Topathleten der DDR, die nicht aufwachen wollten, die nicht sehen und benennen wollten, was war, hat Joachim Gauck im Jahr vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten anlässlich der Verleihung des Sport-Ethik-Preises an die frühere
Staffel-Weltrekord über 4 x 100 m: Bärbel Wöckel, Marlies Göhr, Ingrid Auerswald und Ines Schmidt [Geipel] (v.l.) vom SC Motor Jena, 2. Juni 1984. (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0602-034; Foto: Wolfgang Kluge)
Staffel-Weltrekord über 4 x 100 m: Bärbel Wöckel, Marlies Göhr, Ingrid Auerswald und Ines Schmidt [Geipel] (v.l.) vom SC Motor Jena, 2. Juni 1984. (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0602-034; Foto: Wolfgang Kluge)
DDR-Sprinterin Ines Geipel gesagt, die aus eigenem Antrieb ihren – wie sie es nennt – "vergifteten" Anteil am noch immer gültigen Staffel-Weltrekord des SC Motor Jena aus dem Jahre 1984 zurückgegeben hat. Wahrheit, so Gauck, "befreit uns von dieser lebenslänglichen Bindung an die Lüge".
Dopingopfer-Rente und "biologische Lösung"
Inzwischen steuert das Problem der Schwerstgeschädigten unter den DDR-Dopingopfern weiter auf eine "biologische Lösung" hin. Das letzte Todesopfer, die DDR-Meisterin über 400 Meter Hürden von 1984, Birgit Uibel aus Cottbus, wurde nur 49 Jahre alt. Sie hatte bereits als 16-Jährige von ihrem betreuenden Arzt männliche Sexualhormone bekommen.
Der parlamentarische Vorstoß für eine Dopingopfer-Rente tritt auf der Stelle. Eine kleine Gruppe von Bundestagsabgeordneten hält die Initiative am Leben. Klaus Zöllig, der Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, beklagt: "Die Frage der dauerhaften Hilfe für die schwerstbehinderten Dopingopfer ist nach wie vor offen. Obwohl für die teilweise desaströse Situation vieler Schwerstgeschädigter von Politikern viel Verständnis aufgebracht wird, mahlen Gottes Gesetzgebungsmühlen langsam." Allerdings sei er nach einem Rückschlag im Jahre 2011 "vorsichtig optimistisch".
Dabei ist doch das Entscheidende längst bekannt. Man schaue nur in den Bericht der Unabhängigen Dopingkommission vom Juni 1991, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem damaligen Präsidenten des Bundessozialgerichts, Heinrich Reiter. Eine Erkenntnis war, "dass auch im Gebiet der alten Bundesländer in einem Umfang von Dopingmitteln Gebrauch gemacht wurde, der ein entschiedenes Handeln der Verantwortlichen über das bereits Veranlasste hinaus notwendig macht".
Ein anderes Ergebnis der Reiter-Kommission lautet: "In der ehemaligen DDR wurden keinerlei Bemühungen zur Aufklärung und Verhinderung des Dopings unternommen. Die Aktivitäten in der spezifischen Forschung und medizinischen Betreuung der Athleten waren darauf gerichtet, die Leistungen zu steigern und einen Dopingnachweis bei Sportlern der DDR zu verhindern. Auf negative Folgen für die Gesundheit wurde bewusst nicht hingewiesen". – Ein Kernsatz, 1991 formuliert, der es eigentlich verbieten sollte, dass Dopingopfer bis heute immer wieder verunglimpft werden als solche, die zu DDR-Zeiten privilegiert gewesen seien und sozusagen "selbst Schuld hätten" an ihrer heutigen Situation.
"Der Gedanke Olympia mausetot"
Die Hochschulprofessorin und Buchautorin Ines Geipel hat inzwischen ein bitteres Fazit gezogen, "das ich mir vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können": "Es gab neben Hilfe auch gut trainierte Gegner, die nicht nur null Interesse an der Aufarbeitung des Körperlaboratoriums DDR hatten, sondern auch null Interesse daran – und das gilt für Ost und West –, nach 1989 einen Sport aufzubauen, der zu allererst für eines da ist: seine Talente zu schützen, damit sie sich ohne Rekord- und Medaillenwahn entwickeln können. Mein Resumee ist, dass diese Idee, dass der Gedanke Olympia, dass das Projekt Fairness im gegenwärtigen hochalimentierten deutschen Elitesport nicht mehr existiert oder genauer, mausetot ist".
Antje Misersky wird nach dem Sieg im Biathlon über 15 km bei den Olympischen Spielen von Albertville 1992 von ihrem Vater und Trainer Henner Misersky umarmt. (© picture-alliance, Foto: Jörg Schmitt)
Antje Misersky wird nach dem Sieg im Biathlon über 15 km bei den Olympischen Spielen von Albertville 1992 von ihrem Vater und Trainer Henner Misersky umarmt. (© picture-alliance, Foto: Jörg Schmitt)
Die Führung der Stiftung Deutsche Sporthilfe hatte im Vorjahr heftig Prügel einstecken müssen für ihre Unbedarftheit, die sie anlässlich der Berufung in die "Hall of Fame" im Umgang mit der Geschichte des DDR-Sports und ihren Opfern offenbarte. Immerhin aber zeigt sie sich lernfähig. Für 2012 hat sie unter anderen Henner Misersky berufen, den aufrechten Thüringer Langlauf-Trainer, und seine Tochter Antje, die ebenso couragierte Biathlon-Olympiasiegerin aus dem ersten wieder vereinigten deutschen Olympiateam von Albertville 1992. "Sie wurden in der Kategorie 'Besondere Biografie im Kampf gegen Doping' von der Jury für würdig erachtet, stellvertretend für die vielen anderen aufrechten Kämpfer gegen Doping, die Ruhmeshalle zu bereichern", heißt es in der Begründung.
Eine Bereicherung sind auch Wolfgang Lötzsch und Gretel Bergmann. Der Chemnitzer Lötzsch war ein überragender Radsportler, den die DDR-Funktionäre mit immer neuen Restriktionen ausbremsten und
Wolfgang Lötzsch (r.) mit Gus-Erik Schur beim 46. Rennen Berlin-Leipzig, 3. April 1988. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0403-002, Foto: Klaus Oberst)
Wolfgang Lötzsch (r.) mit Gus-Erik Schur beim 46. Rennen Berlin-Leipzig, 3. April 1988. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0403-002, Foto: Klaus Oberst)
der schließlich statt in der DDR-Auswahl im Gefängnis landete. Die inzwischen 98-jährige Bergmann war 1936 die beste Hochspringerin der Welt, aber die Nazis verboten der Jüdin die Olympiateilnahme in Berlin. Mit Bergmann und Lötzsch sind erstmals zwei Sportler in die deutsche "Hall of Fame" eingezogen, die nicht für überragende Sporterfolge geehrt werden konnten, weil zwei verbrecherische Diktaturen ihnen den möglichen Ruhm raubten.
Bei den staatlich anerkannten DDR-Dopingopfern ist die völlig unvermittelte heftige Umarmung durch die Deutsche Sporthilfe außer echter Freude über ihre plötzliche Respektierung auch auf Irritationen gestoßen. Es gibt Befürchtungen, sie könnten am Ende nur Staffage für künftige "Hall of Fame"-Neuaufnahmen sein, wenn die Generation der DDR-Medaillengewinner aus der Doping-Hoch-Zeit der 1970er- und 80er-Jahre einrückt, etwa vom Schlage einer Kristin Otto.
Margaret Lambert (Gretel Bergmann) im Alter von 96 Jahren bei der Widmung eines Sportfeldes zu ihren Ehren an der Francis Lewis High School New York, 18. Mai 2010. (© ddp/AP, Foto: Seth Wenig)
Margaret Lambert (Gretel Bergmann) im Alter von 96 Jahren bei der Widmung eines Sportfeldes zu ihren Ehren an der Francis Lewis High School New York, 18. Mai 2010. (© ddp/AP, Foto: Seth Wenig)
Die sechsmalige Schwimm-Olympiasiegerin von Seoul 1988 aus Leipzig, deren Dopingkonsum durch an der Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow sichergestellte Dokumente decodiert und rekonstruiert worden ist und deren beide Trainer wegen eingestandener jahrelanger Dopinggaben rechtskräftig verurteilt wurden, bestreitet bis zum heutigen Tage, von Doping irgendetwas gewusst oder auch nur gemerkt zu haben. Das hat sie ihrem Arbeitgeber ZDF, auf dessen Aufforderung hin, auch schriftlich gegeben.
Aus aktuellem Anlass der "Hall of Fame"-Ehrung 2012 für Sportler, die in erster Linie die Werte des Sports hochhielten, haben Dopinggegner in einem Offenen Brief an die Spitzen von Sport und Politik, unter anderem an den Bundesinnenminister, den Bundestags-Sportausschuss sowie an die Sporthilfe, den Kampf für einen Werte orientierten und manipulationsfreien Sport zur dauerhaften Verpflichtung erklärt: "Jetzt muss der Sport endlich in Strukturen, Inhalten und Entscheidungsprozessen nach den Maßstäben handeln, die von den Geehrten vorgelebt worden sind".