Sammelrezension zu:
Hans-Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn u.a.: Schöningh 2012, 490 S., € 58,–, ISBN: 9783506776418.
Anna Zofia Musioł: Erinnern und Vergessen. Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten, Wiesbaden: VS 2012, 311 S., € 39,95, ISBN: 97833531183312.
Stefan Troebst, Johanna Wolf (Hg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa (Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität; 2), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 272 S., € 20,–, ISBN: 9753865835482.
Gerhard Besier, Katarzyna Stokłosa (Hg.): Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas. Auf der Suche nach historisch-politischen Identitäten (Mittel- und Osteuropastudien; 9), Berlin: LIT 2012, 185 S., € 19,90, ISBN: 9783643102300.
Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen: Wallstein 2011, 247 S., € 16,90, ISBN: 9783835309555.
Deutsch-polnische Erinnerungsorte
Der dritte Band der deutsch-polnischen Gemeinschaftsproduktion zur Bewertung von Erinnerungsorten hinterlässt bereits beim ersten Blick auf die aufgelisteten Topoi, die in den ersten drei Bänden behandelt sind, einen nachhaltigen Eindruck. In den ersten beiden Bänden (die erst im Laufe des Jahres 2012 erscheinen werden) sind es markante historische Persönlichkeiten und Ereignisse, topografische Begriffe wie auch kulturelle Phänomene, ideologische und politische Begriffe aus der deutschen und polnischen Geschichte; im dritten, hier vorliegenden Band, setzen sich die Verfasser mit parallelen, erst auf den zweiten Blick vergleichbaren Ereignissen, realen Persönlichkeiten, imaginierten und sogar mythischen Figuren, historischen Entwicklungen und kulturellen Phänomen auseinander. Ein lobenswertes Unternehmen, denn wer könnte zum Beispiel, um das erste topografische Feld aufzugreifen, irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen den Begriffen "Altes Reich" und "Rzeczpospolita" entdecken? Wer vermutet irgendwelche Zusammenhänge zwischen "Targowica" und "Dolchstoß"? Und wer etwa lüftet die gemeinsamen Geheimnisse zwischen "KKK" und "Mutter Polin"? Oder: wer kennt sich in der deutschen und polnischen Fußballgeschichte nach 1945 aus, in der spektakuläre Länderspiele stattfanden?
In ihrer Einleitung verweisen die Herausgeber, die Osteuropahistoriker Hans-Henning Hahn (Oldenburg) und Robert Traba (Warschau), auf die methodischen und historischen Grundlagen für ihr ambitiöses Unternehmen, indem sie ebenso an Pierre Noras "Lieux de mémoire" als auch an Maurice Halbwachs' Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis erinnern. Die sich nach 1945 herausbildende Erinnerungskultur sei ein "System des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppierung". Ein solches Gedächtnis sei ein Artefakt, das Erinnerungsorte als realhistorische wie auch als imaginierte historische Phänomene in vergleichbarer Hinsicht zu Gegenständen einer historiografischen und kulturgeschichtlichen Analyse mache. Umgesetzt wird das 2006 aus der Taufe gehobene Projekt von zwei Instituten: dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaft und dem Institut für Geschichte (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). In methodischer Hinsicht beruft es sich auf die Abhandlungen von Klaus Zernack zur ostmitteleuropäischen Beziehungsgeschichte (vgl. seine Monografie "Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte"). Auf der Grundlage dieser transnationalen Analyse entstand auch das Konzept derjenigen deutsch-polnischen Erinnerungsorte, die bislang noch nicht in das systematisch-vergleichende Visier der (Kultur-)Historiker fielen.
Die insgesamt 22 Beiträge, von jeweils einem bzw. zwei Autoren verfasst, sind nach einem Prinzip mit da und dort abweichenden Varianten aufgebaut. Einer einführenden Beschreibung der zu vergleichenden Topoi, die getrennt oder auch mit vergleichenden Aspekten abläuft, folgt eine ausführliche Darstellung der beiden Gegenstände und der damit verbundenen Begründung für die engen realen oder auch imaginierten Verbindungslinien zwischen ihnen.
Besonders überzeugend ist die Darlegung auf den ersten Vergleichsfeldern, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (vom Mittelalter bis 1806) und der polnisch-litauischen Rzeczpospolita (zwischen 1500 und 1795); Kresy und Deutschem Osten, der spannende Vergleich der Entstehung und Herausbildung der polnischen Grenzgebiete, der Kresy von Lettland bis zur Ukraine, und dem imaginierten Begriff "Deutscher Osten" unter dem Stichwort "Vom Glauben an die historische Mission". Ebenso hervorzuheben ist der Beitrag zu den beiden Begriffen "Targowica" und "Dolchstoß". Verrat, Illoyalität und Schuldzuweisung, je nach politischer Relevanz, sind auch in der deutschen und polnischen Geschichte stetige Wirkkräfte gewesen. Doch die vergleichende Betrachtung und die Analyse von zeitlich stark verschobenen Ereignissen und imaginierten Phänomen erweist sich umso schwieriger, als Akteure aus unterschiedlichen Völkern in der Entscheidungsfindung bei der Schuldzuweisung angesichts nationaler Katastrophen sich ähnlicher Argumentationsmuster bedienen. Der eine Topos, die Konföderation von Targowica, ein Abkommen eines Teils der polnischen Magnaten mit der Zarin Katharina II., am 27. April 1792, in St. Petersburg unterzeichnet, entwickelte sich in seiner historischen Ausdeutung zu einem Inbegriff des Verrats an der polnischen Nation und beförderte den Prozess der Aufteilung Polens. Der andere Topos rankte sich um die Dolchstoßlegende, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von der deutschen nationalistischen Rechten gegen die sozialdemokratischen "Verräter" mit Philipp Scheidemann an der Spitze inszeniert wurde. Doch mehr als 200 bzw. fast 100 Jahre danach würde, so Peter Oliver Loew, die negative Bedeutung des "Verrats" allmählich seine Wirkung verlieren und seine nationalen Bezugsrahmen verlassen.
Ebenso spannend ist der Vergleich der Wirkungsgeschichte großer nationaler Idole, die in der Kulturgeschichte ihrer jeweiligen Länder eine mehr oder weniger uneingeschränkte Anerkennung finden. Sind sie, wie sie Heinrich Olschowsky in seiner Betrachtung der Wirkungsgeschichte Johann Wolfgang von Goethes und Adam Mickiewicz' bezeichnet, "poetische Gesetzgeber des kulturellen Kanons"? (217) Olschowskys mit vielen eindrucksvollen Beispielen belegte Rezeptionsgeschichte weist die wesentlich unterschiedliche anerkennende Resonanz der Dichter in ihren jeweiligen nationalen Kulturen nach. Erst die Epochenwende von 1989/90 habe auch in Polen das messianisch überhöhte Bild des Nationaldichters Mickiewicz mit anderen Akzenten versehen, ein Wandel, der im Hinblick auf die Goethe-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland mit der Klassiker-Demontage bereits in den 1970er-Jahren einsetzte und nach dem Ende des kulturpolitisch funktionalisierten Goethe-Kults in der DDR nunmehr eine institutionell abgesicherte Figur des kollektiven Gedächtnisses geworden sei.
Der mit einer stattlichen Liste von vergleichenden Erinnerungsorten aufwartende Band beschäftigt sich u.a. mit den beiden so unterschiedlichen Nationalhymnen, analysiert die Paulskirchenverfassung von 1848 und die polnische Verfassung 1791, seziert die Strukturen der Überwachungsbehörden Stasi und Ubecja (Amt für Öffentliche Sicherheit), dekonstruiert die deutschen und polnischen Fussballmythen und begibt sich sogar in die "Niederungen" der motorisierten Sehnsucht, in denen der Polski Fiat 126p mit dem Trabant verglichen wird. Die damit geleisteten Erinnerungsdiskurse sind historisch fundiert, komparativ "abgefedert", enthalten wertende Resümees und zahlreiche Literaturverweise. Ein Fundament legendes Werk, das mit den noch 2012 folgenden Bänden I und II die gegenwärtig noch sehr lückenhafte deutsch-polnische Erinnerungslandschaft verdichten wird.
Erinnern und Vergessen
Anna Zofia Musioł, Erinnern und Vergessen (© VS, Wiesbaden)
Anna Zofia Musioł, Erinnern und Vergessen (© VS, Wiesbaden)
Die im Rahmen eines DFG-Projekts entstandene Forschungsarbeit Anna Zofia Musiołs untersucht den Wandel der Erinnerungskulturen in Deutschland und Polen mit dem Ziel, die sich abzeichnenden Veränderungen in beiden Ländern (Wiedervereinigung Deutschlands und Demokratisierung der polnischen Gesellschaft) am Beispiel von zwei Aufsehen erregenden Debatten, der Walser-Bubis-Debatte 1998 und der Debatte um Jedwabne 2000, in einem diskursanalytischen Verfahren darzustellen. Ihre Auslöser waren zum einen die Festrede von Martin Walser aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, zum anderen die Buchpublikation des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross "Nachbarn" (2000), der Geschichte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne im Sommer 1941. An beiden Diskursen lasse sich, so die Verfasserin, "die Dynamik in der öffentlichen kollektiven Erinnerung deutlich ablesen." (15).
Die in der Einleitung vorgenommene methodische Hinführung zum Untersuchungsverfahren (empirischer und theoretischer Zugang wie auch Präzisierung des Erinnerungsbegriffs), die Erläuterung der Diskursanalyse sowie des Modus Operandi, einschließlich der Operationalisierungsaspekte der Vergleichsanalyse führen in den Vergleich deutscher und polnischer Erinnerungskulturen ein. Der umfangreiche Hauptteil setzt sich in transparenten Zwischenstufen mit den diskursanalytischen Verfahren zur Deutung der beiden Debatten auseinander. Dabei entwickelt Musioł im Hinblick auf ihre beiden zu untersuchenden Debatten differenzierte Deutungsmuster unter Berücksichtigung der spezifischen, in den beiden Ländern abgelaufenen Erinnerungsprozesse. Ihre fein abgestuften, methodisch adäquaten Verfahren führen bereits in den Zwischenbefunden zu Ergebnissen, deren transparente Erläuterung allerdings aufgrund der intensiv gepflegten soziologischen Fachsprache sich als schwierig erweist. Es handelt sich hierbei um ein Repertoire von "Attributierungsprozessen" (Schuld, Scham, Schande im Walser-Bubis-Streit; Kollektivschuld als Stammesverantwortung wie auch Fremd- und Eigenscham im Falle der Jedwabne-Debatte), das im Rahmen dieser überblickartigen Besprechung nicht im Detail kommentiert und bewertet werden kann.
Das Resümee der Forschungsergebnisse, die aufgeteilt sind in a) Untersuchung der Grundtendenzen und Vergleichsaspekte der Debatten, b) akteurbezogene Parallelen der Debatten, c) kontextbezogene Unterschiede in der deutschen und polnischen Erinnerungslandschaft und d) prognostische Aspekte im Hinblick auf die Re-Definitition des geschichtlichen Prozesses in beiden Ländern, enthält hinsichtlich zu erwartender Veränderungen beim Umgang mit Erinnerung bei unseren östlichen Nachbarn eine wesentliche Aussage: "Aufgrund der politischen Wende von 1989 kommt es zu einem Paradigmenwechsel der Machtverhältnisse, was sich im Bereich der Erinnerung in dem Wandel der Erinnerungskonjunktur (…) widerspiegelt. Im Rahmen der Demokratisierungsprozesse des gesellschaftlichen Lebens erfolgt im Erinnerungsbereich eine enorme Mobilisierung von Emanzipationsprozessen, die Legitimierung und Aufwertung ihres eigenen Vergangenheitsbildes anstreben." (285) Was bezogen auf die polnische Erinnerungskultur sich nunmehr in einem offenen Diskurs über den bis 1989 unterdrückten und verdrängten Antisemitismus artikuliere und in dem Abschied vom nationalen Opfer- und Märtyrer-Mythos münde, das führe in der deutschen Debatte zwischen dem provozierenden Schriftsteller Martin Walser und dem empörten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Ignatz Bubis zu einer Normalisierung, die an das affirmative Selbstbild der Deutschen gekoppelt sei. Und dieses Selbstbild, so der Politologe Hajo Funke, stärke die Bedeutung der Walser-Bubis-Debatte umso mehr, als die ihr eigene Kontroverse der "gesellschaftliche(n) Relevanz für die Selbstdefinition der Deutschen und der Berliner Republik" (285) zugeschrieben werde.
Wie komplex auch solche Ergebnisse ausformuliert werden, es bleibt die optimistische Prognose, wonach laut Aleida Assmann im Rahmen des Modells der gesamteuropäischen Normen- und Wertegesellschaft sich die Idee einer gemeinsamen Erinnerung durchsetzen werde. Die deutsche und auch – mit einer gewissen Verzögerung – die polnische Erinnerungsgemeinschaft sind auf dem besten Weg dorthin.
Erinnern an den Zweiten Weltkrieg
Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg (© Leipziger Universitätsverlag)
Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg (© Leipziger Universitätsverlag)
Die mit unterschiedlichen Textarten ausgestattete Publikation Stefan Troebsts und Johanna Wolfs entstand auf der Grundlage einer Konferenz, die im Europa-Saal des Auswärtigen Amtes und im Deutschen Historischen Museum in Berlin im Juli 2010 mit Teilnehmern aus zahlreichen osteuropäischen Ländern stattfand.
Zum Auftakt setzten sich Historiker aus polnischer, russischer und deutscher Perspektive mit dem Stellenwert des historischen Gedächtnisses in ihren Ländern auseinander, wobei Matthias Weber (Oldenburg) erfreulicherweise die geteilte Erinnerung in Europa in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. In der zweiten Runde, in der die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust aus deutscher Sicht betrachtet wurde, nahmen zwei Politikwissenschaftler Erfolge und Mängel der deutschen Bewältigungstherapie unter die Lupe. Helmut König (Aachen) verwies auf Kontroversen in der Erinnerungskultur und in der Zeitgeschichtsforschung, wobei er seinen Kollegen bescheinigte, dass sie in den letzten 20 Jahren sich eher mit der Klärung von Sachverhalten als mit der Deutung tragfähiger Narrative beschäftigt hätten. Am Beispiel der langwierigen Diskussion um die Gestaltung des Holocaust-Denkmals konnte Erik Meyer (Gießen) mit seinem Blick auf die Wandlungen in der deutschen Erinnerungspolitik nach 1989 eine Antwort darauf geben, indem er auf die dringend notwendige vergleichende Forschung auf diesem Gebiet aufmerksam machte.
Umso aufschlussreicher waren die kontroversen Einschätzungen des historischen Gedächtnisses in Russland unter der Maßgabe einer nüchternen Bewertung der historischen Wahrheit. Die junge Historikerin Julija Z. Kantor (St. Petersburg) wand sich argumentativ gegen die Glorifizierung der Rolle Stalins im "Großen Vaterländischen Krieg" und gegen die weiterhin vorherrschende Siegesmetaphorik im Dienste der "gelenkten Demokratie". Konstantin Provalov hingegen, Historiker und Diplomat der Putin-Regierung, befürwortete Russlands "konsequent abgestimmte Maßnahmen zur Bewahrung des historischen Gedächtnisses" (105) mit Hinweisen auf zahlreiche Konferenzen, die dem Sieg über den deutschen Faschismus gewidmet waren. Dass solche "von oben" vorgenommenen Einschätzungen zur Stärkung der Rolle des kollektiven Gedächtnisses in den vergangenen zwanzig Jahren kurioserweise etwas mit dem wenig veränderten kollektiven Bewusstsein der russischen Bürgerinnen und Bürger zu tun haben, verdeutlichte der Soziologe Boris V. Dubin (Moskau). Er bestätigte, dass "drei Viertel der Bürger Russlands … der These zustimmen, dass der Sieg [über Hitlerdeutschland] das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts sei." (116) Das damit verbundene Bild von der Befreiung Europas vom Faschismus sei ein "Aspekt des eigenen Triumphes und der Erlöserrolle Russlands – des sowjetischen und … auch des postsowjetischen." (116).
Ebenso spannend sind die Bewertungen des Zweiten Weltkriegs in der Geschichtspolitik Polens wie auch die Musealisierung dieser Katastrophe nach 1989 aus der Sicht der polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej und Piotr M. Majewski. Der eine konzentrierte sich auf die Analyse der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch das Institut des Nationalen Gedenkens im Zeitraum 1939 bis 1989, die Exil-Forschung am Beispiel von Jan Tomasz Gross (vgl. dessen Essays "Nachbarn" und "Furcht" über den polnischen Antisemitismus), wie auch die politische nationale Identitätsfindung durch die Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit); der andere gab einen Überblick von der Herausbildung der martyrologischen Museen in der Volksrepublik Polen bis zur Entstehung der ersten narrativen Museen nach 1989. Der zweite Typus mit der Darstellung konkurrierender narrativer Geschichtsbilder soll, wie Pawel Machcewicz erläuterte, mit dem Bau des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig eine Erfahrung des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht der West- und Osteuropäer umsetzen. Wie wichtig die Durchsetzung eines solchen Paradigmenwechsels in der europäischen Erinnerungskultur ist, verdeutlichte sowohl die abschließende Podiumsdiskussion als auch der Beitrag von Andrij Portnov (Kiev), der den Versuch unternahm, einen Vergleich zwischen den kaum entwickelnden Erinnerungskulturen in Belarus, Moldova und der Ukraine anzustellen.
Beide Darstellungsformen, der lebhafte Diskurs über konkurrierende Geschichtsbilder wie auch die bislang bescheidene Bilanz der didaktischen Umsetzung von Erinnerungskultur vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erweisen sich als ergiebige Ergebnisse einer Konferenz, deren Teilnehmer nicht nur kognitive Einsichten erhielten, sondern auch visuell verdichtete Zeugnisse auf ihren Exkursionen durch die Berliner Mahnmal- und Museumslandschaft kennen lernten.
Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas
Gerhard Besier/Katarzyna Stokłosa (Hg.), Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas (© LIT, Berlin)
Gerhard Besier/Katarzyna Stokłosa (Hg.), Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas (© LIT, Berlin)
Wenn Herausgeber – wie hier Gerhard Besier und Katarzyna Stokłosa – bereits in der Einführung die wesentlichen Thesen der einzelnen Beiträge, wie in dieser vergleichend angelegten Publikation zu europäischen Geschichtsbildern und der Suche nach nationalen und transnationalen Identitäten, eingehend vorstellen, dann erleichtert diese Vorgehensweise zweifellos auch die vergleichende Bewertung des Rezensenten. Oft verschwinden aber aufgrund solcher nebeneinander aufgereihten Zusammenfassungen wesentliche perspektivische Einstellungen aus dem Blickwinkel desjenigen, der sich einen Überblick über europäische Geschichtspolitik nach 1989 verschaffen will. Im Falle des vorliegenden Sammelbandes erweist sich ein solches Vorgehen aufgrund der unterschiedlichen Verfahrensweisen als notwendig. Er enthält drei Analysen zur Geschichtspolitik im Zarenreich und in der Sowjetunion (Lars Karl), alternative Erinnerungen im Übergang von der sowjetischen zur post-sowjetischen Periode (Olga Novikova) und zur inoffiziellen Geschichtsschreibung (Elena V. Müller), eine Studie zur Geschichtspolitik in Polen (Katarzyna Stokłosa), Gerhard Besiers vergleichende Auseinandersetzung mit den polnisch-deutschen Beziehungen aus europäischer Sicht, eine interethnische Studie zur Karpatho-Ukraine (Paul Robert Magocsi), einen Beitrag zu Rumäniens nicht vollzogenem Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit (Cristina Petrescu/Dragoş Petrescu) sowie eine Kontrast-Studie zur Funktion des Baskenlands in der spanischen Politik vom 19. bis zum 20. Jahrhundert (Fernando Molina).
Die vergleichende Beschäftigung mit den imperialen Visionen im Zarenreich und in der Sowjetunion gehört, wie Lars Karl auch in seinem ausgiebigen Anmerkungsapparat nachweist, vor allem in der nordamerikanischen Russland-Forschung zu den beliebtesten Themen. Im Fokus seiner Untersuchung stehen "Heldendichter", die in der russischen und in einzelnen nationalen Kulturen des imperialen Reiches so lange umfunktioniert wurden, bis sie zu Sinnbildern staatlicher, symbolisch aufgeblasener Inszenierungen wurden. Das spannendste Ergebnis in Novikovas Studie ist die Instrumentalisierung der Stalin-Verbrechen durch die neue politische Elite unter Vladimir Putin, indem die traumatische Vergangenheit durch eine moralische Haltung aufgehoben werde, die in eine nationale Versöhnungsorgie münden soll. Gegen diese von oben angeordnete Narrative kann sich, wie Elena Müller in ihrer Studie zeigt, inoffizielle Geschichtsschreibung nur marginal durchsetzen, ohne sich im Massenbewusstsein diskursiv festsetzen zu können. Zu nennen ist auch, ohne die anderen, nicht weniger substantiellen Beiträge in den Hintergrund zu stellen, der umfangreiche, mit vielen Quellennachweisen versehene Beitrag von Petrescu/Petrescu über den intensiven repressiven Charakter des Ceauşescu-Regimes, der nach 1990 eine "Amnestie unmöglich und die Amnesie nicht erwünscht machte" (155).
Freiheit, ach Freiheit …
Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … (© Wallstein, Göttingen)
Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … (© Wallstein, Göttingen)
Es ist ein lobenswertes Vorhaben, zwei Mitteleuropäer, die aus Budapest stammende, jetzt in Berlin lebende Leiterin des Dialog-Kultur-Europa e. V., Zsuzsa Breier, und den Schweizer Professor und Schriftsteller Adolf Muschg mit der Herausgabe einer Anthologie zu betrauen, in der die leidvolle Erfahrung mit der jüngsten Geschichte Europas von 37 Schriftstellern, Politikern, Historikern, Journalisten und Bürgerrechtlern aus 17 Ländern aufgearbeitet wird. Grundlage der vorliegenden Publikation bilden die Vorträge der Verfasser, die sie zwischen 2008 und 2010 unter der Leitidee "Geeintes Europa – geteiltes Gedächtnis" in Berlin im Rahmen der Dialog-Gesellschaft gehalten haben. Ausgangsfragen wie: Was haben wir Europäer aus unserer Geschichte gelernt? Wie gehen wir mit unseren Tätern, Opfern und Helden um? Was trennt und was verbindet uns bei der Aufarbeitung unserer jüngsten Vergangenheit? (Breier), und die Inkongruenzen der Erfahrungen im Umgang mit Geschichte (Muschg) stellen die Leitlinien in den Beiträgen dar. Bildimpulse für diese diskursive Auseinandersetzung liefern drei Abbildungen auf dem Buchumschlag, die auf Schlüsselereignisse der europäischen Geschichte verweisen: die Französische Revolution, der Ungarische Aufstand von 1956 und die Errichtung der Mauer 1961. Sie dienen auch als Leitbilder für die thematische Gliederung der Anthologie: Doppelerfahrung Europa; Gräber und Gespenster; Erinnern, Umdichten, Vergessen; "Die Spuren der Geschichte lesen"; "Verzögerte Aufarbeitung"; "Europa atmet wieder mit zwei Lungen".
Von welchen Überlegungen lassen sich die Autoren leiten? Joachim Gauck spricht von den konkreten Erfahrungen mit dem diktatorischen Regime der DDR und den Schwierigkeiten mit der Akzeptanz von begangenen Fehlern. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel fordert, ausgehend von der Asymmetrie der Wahrnehmung (von) und des Interesses an den staatssozialistischen Ländern jenseits der Elbe bis 1989 eine Ausweitung des geschichtlichen Horizonts beim Umgang mit der Vergangenheit. Der ungarische Historiker Krisztián Ungváry setzt sich mit der Funktionalisierung von Erinnerungskulturen in Ungarn nach 1989 auseinander, indem er auf die rechtsradikal orientierte Politik der Fidesz-Regierung aufmerksam macht, die dem Holocaust-Gedenktag nur unter der Bedingung zugestimmt habe, "dass auch ein Tag der Opfer des Kommunismus in die Liturgie der staatlichen Erinnerungskultur aufgenommen wird." (43) Damit würden Terrorregime gegeneinander ausgespielt und Menschenrechte teilbar gemacht.
Über Gräber hinweg, im Kampf mit den Gespenstern aus der kommunistischen Vergangenheit, reden Repräsentanten aus fünf zentral- und osteuropäischen Republiken, deren unterschiedliche Freiheits- und Angstvisionen sich in konkurrierenden Erzählungen und oft auch atomisierten Geschichten niederschlagen (Joachim Scholtyseck). Besonders beunruhigend klingt in diesem Bereich die Stimme des ukrainischen Schriftstellers Jurij Andruchowytsch. Sie beschwört Europa, es möge doch seine Türen – nach den enttäuschenden Ergebnissen der Orangenen Revolution 2004 – zur Ukraine (wieder) öffnen. Während die rumänische Forscherin Germina Nagat voller Stolz über die Öffnung des Archivs der Securitate berichtet, in dem seit 2006 die Opfer des Ceauşescu-Regimes Einsicht nehmen können. Besonders schwerwiegend ist die kollektive Erinnerung der baltischen Völker an ihre von zwei Terrorregimen zwischen 1940 und 1989 besetzten Länder. Der estnische Historiker und Politiker Mart Laar betont im Hinblick auf die verheerenden Verluste der estnischen Bevölkerung nach 1945 und die Auswirkungen der imperialen Sowjetpolitik die besondere Bedeutung der Europäischen Union für die Überwindung der wirtschaftlichen und soziokulturellen Krise seines Landes. Der litauische Philosophie-Professor und Publizist Virgis Valentinavičius appelliert an die Opferverbände seines Landes, sich die Auswirkungen des Nazi-Terrors gegen die jüdische Minderheit und der Liquidation von zehntausenden Zivilisten durch die sowjetische Gewaltherrschaft in den 40er-Jahren in das Gedächtnis zurückzurufen. Ein Prozess, der umso dringlicher sei, als in Litauen eine kollektive Amnesie im Hinblick auf die jüngste Geschichte vorherrsche, ähnlich wie in Russland, in dem, wie die amerikanische Historikerin Anne Appelbaum, Verfasserin einer GULAG-Geschichte, weiterhin eine positive kollektive Erinnerung an den Gewaltherrscher Stalin bewahrt werde. Wie aber soll Gedächtnisarbeit funktionieren, wenn ihr kollektiver Gegenstand, wie der renommierte polnische Publizist Władysław Bartoszewski betont, sich wie ein "rücksichtsloser Autofahrer" benimmt, der wesentliche Ereignisse aus seiner Vergangenheit eliminiert. Umso wichtiger sei die Herausbildung eines "gewissen europäischen Bewusstseins", um die Fähigkeit zu entwickeln, "mit den Augen des Anderen zu sehen." (121)
Allerdings überwiegen die Zweifel an deren Umsetzung, wie andere Referenten bestätigen: Adolf Muschg ("Der Verstand der Europäer steht still"); Andreas Wirsching (es gelte zuerst die Ungleichzeitigkeit der europäischen Erinnerung aufzuarbeiten); Stéphane Courtois, Herausgeber des "Schwarzbuch des Kommunismus", bezieht sich auf ein dreigeteiltes Europa (West-, Ostmitteleuropa und die Sowjetunion mit ihren kolonialisierten Völkern), das seine schwer belastete Vergangenheit aufarbeiten muss, und Horst Möller, deutscher Historiker, verweist auf die Gefahren einer antidemokratischen Entwicklung im "neuen" Europa. Und was wird passieren, wenn "Europa wieder mit zwei Lungen atmet?" Sind Politiker – wider die historische Erfahrung – "unverbesserliche Optimisten"? Wolfgang Schäuble setzt auf die Durchsetzungskraft der Demokratie in Europa, die allerdings "Führung" brauche; Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen in Berlin, vertraut auf die positive Energie der Solidargemeinschaft nach 1989; und sein Außenminister Radosław Sikorski beschwört die Verantwortung für Europa, in dem gemeinsame Geschichtsbücher die Fehler vergangener Jahrzehnte korrigieren.
Der thematisch und metaphorisch angeordnete Sammelband bildet ein aufschlussreiches Spektrum von Positionen zu einer europäischen Erinnerungspolitik aus ost- und südosteuropäischer wie auch westeuropäischer Perspektive, in der das bis 1989 geteilte Gedächtnis seit mehr als 20 Jahren eine Reihe wesentlicher Impulse in Richtung einer gemeinsamen Aufarbeitung von Geschichte in Europa erhalten hat. Ob damit seine kollektiven Erinnerungsneuronen aktiviert werden, bleibt – wie immer – abzuwarten.