I.
1997 hat die polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" dem politischen Philosophen Leszek Kołakowski aus Anlass seines 70. Geburtstages eine ungewöhnliche Ehrung zu Teil werden lassen: Sie verlieh ihm den Titel "król Europy Środkowej", krönte ihn also zum "König von Mitteleuropa".
Warum indes deutsche und österreichische Protagonisten der 1980er- und 90er-Jahre ungeachtet der großdeutsch-Naumannschen Konnotationen samt nationalsozialistischer Instrumentalisierung den ideologisch aufgeladenen "Mitteleuropa"-Begriff statt des neutraleren Regionalterminus "Zentraleuropa" verwendeten, ist im Nachhinein schwer verständlich. Denn sowohl das tschechische "Střední Evropa" als auch das polnische "Europa Środkowa" können sowohl mit Mittel- als auch mit Zentraleuropa übersetzt werden. Lediglich zu vermuten ist, dass im Deutschen die "Mitte" eine stärkere emotionale Aufladung aufweist und damit höhere identifikatorische Wirkung entfaltet als das lateinisch-technizistische "Zentrum".
Auch wenn der liberale Vordenker Kołakowski selbst das All Souls College in Oxford nach 1989 nicht mehr gegen seine polnische Heimat eintauschte, wurde sein politisches Programm jetzt umgehend wirkungsmächtig. Dies allerdings nicht unter dem Rubrum "Mitteleuropa" – die 1989 gegründete Central European Initiative bzw. Mitteleuropäische Initiative reicht heute zwar von Sardinien bis ins Donbass-Gebiet, ist aber ein anämisches Gebilde von 18 Staaten –, sondern unter dem historischen Begriff Visegrád.
Auf der am ungarischen Donauknie gelegenen Burg Visegrád hatte 1335 ein historisches Treffen der ungarischen, böhmischen und polnischen Könige stattgefunden. Die drei, nach der "samtenen Scheidung" der Slowaken von den Tschechen dann vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei (V4) verstehen sich als "eigentliches" Mitteleuropa – bzw. verstanden sich zumindest bis zu ihrem Beitritt zur NATO 1999 als solches. Dabei überwog die gemeinsame Abgrenzung nach außen die Gemeinsamkeiten nach innen, fällt es doch einer Gruppe in aller Regel leichter, ihre Außengrenze zu definieren – also das, was sie nicht sein will –, als zu verdeutlichen, was sie im Innersten zusammenhält. Nicht zuletzt daher die ewige Diskussion, ob die Türkei zur Europa gehöre oder – aktueller, ob der Ukraine eine EU-Beitrittsperspektive eröffnet werden solle oder nicht.
Diesbezüglich hatten die Mitteleuropa-Aktivisten des Kalten Krieges und der "friedlichen" bzw. "verhandelten Revolutionen" des Jahres 1989 klare Vorstellungen: "Es muss eine Grenze geben", postulierte Václav Havel als tschechischer Präsident im Vorfeld der NATO-Osterweiterung und meinte damit diejenige zum postsowjetisch-ostslawischen Raum, also zu Belarus, zur Ukraine und vor allem zur Russländischen Föderation, aber auch die zum kriegszerissenen Ex-Jugoslawien sowie zu einem imaginären "Balkan" insgesamt.
Mit Blick auf die repressive Periode sowjetischer Hegemonie sowie auf den unmittelbar aus der skizzierten Mitteleuropa-Konzeption abgeleiteten Anspruch der Visegrád-Staaten auf bevorrechtigte Aufnahme in den Europarat, die NATO und ultimativ in die EU ist bzw. war dies ein verständlicher politischer Reflex. Dennoch ist dieses maßgeblich durch die Namen Kundera und Havel repräsentierte exklusionistische und für die – mit Tomáš Masaryk und Miroslav Hroch – "kleinen Nationen" der Region typische Mitteleuropa-Verständnis in der Perspektive der geistesgeschichtlichen Tradition Polens und Ungarns mit ihren imperialen Elementen eine verengende und somit unhistorische.
Dies sei in historischer wie historiografischer Hinsicht am Beispiel der Konzeption europäischer Geschichtsregionen erläutert, wie sie der Wiener Historiker kroatisch-polnischer Herkunft Oskar Ritter von Halecki in seinem US-amerikanischen Exil in den 1940er- und 50er-Jahren entwickelt hat. Sein Kernstück ist dabei ein transnationales, multiethnisches, vielsprachiges und plurireligiöses "Ostmitteleuropa", das von der Ostsee bis an Adria, Ägäis und Schwarzes Meer reicht – ein Regionalisierungsmuster, das zeitversetzt auch in der ungarischen Geschichtswissenschaft auf fruchtbaren Boden gefallen ist und auf die öffentliche Debatte ausgestrahlt hat.
II.
Obwohl von universalem Zuschnitt ist das Konzept europäischer Geschichtsregionen in einer internationalen Historikerdiskussion zunächst über "Slawentum", dann über "Osteuropa" in den 1920er- und 30er-Jahren entwickelt worden.
"Mitteleuropa" in der deutschen Geographie: a) Schematisierte Regionalisierungen Europas; b) August Zeune 1808 (schraffiert) und Carl Eduard Meinicke 1839 (grau); c) C. von Bülow 1834 ("Mitteleuropäische Bergregion" und "Mitteleuropäisches Flachland"); d) Alfred Kirchhoff 1882 (schraffiert) und Herrmann Adalbert Daniel 1850/1863 (grau); e) Joseph Partsch 1903 (schraffiert) und 1914 (grau); f) Albrecht Penck 1915 (schraffiert) und Theodor Arldt 1917 (grau). – Darstellung aus: Hans-Dietrich Schultz/Wolfgang Natter, Imagining Mitteleuropa: Conceptualisations of 'Its' Space In and Outside German Geography, in: European Review of History – Revue europeenne d'Histoire 10 (2003) 2, S. 273–292, hier 276. (© European History Review)
"Mitteleuropa" in der deutschen Geographie: a) Schematisierte Regionalisierungen Europas; b) August Zeune 1808 (schraffiert) und Carl Eduard Meinicke 1839 (grau); c) C. von Bülow 1834 ("Mitteleuropäische Bergregion" und "Mitteleuropäisches Flachland"); d) Alfred Kirchhoff 1882 (schraffiert) und Herrmann Adalbert Daniel 1850/1863 (grau); e) Joseph Partsch 1903 (schraffiert) und 1914 (grau); f) Albrecht Penck 1915 (schraffiert) und Theodor Arldt 1917 (grau). – Darstellung aus: Hans-Dietrich Schultz/Wolfgang Natter, Imagining Mitteleuropa: Conceptualisations of 'Its' Space In and Outside German Geography, in: European Review of History – Revue europeenne d'Histoire 10 (2003) 2, S. 273–292, hier 276. (© European History Review)
Maßgeblich beteiligt hieran waren polnischerseits neben Oskar von Halecki vor allem Marceli Handelsman sowie auf tschechoslowakischer Seite Jaroslav Bidlo und Josef Pfitzner.
Parallel zur Aufnahme Haleckis im Westen, hier vor allem in der neu gegründeten Bundesrepublik, entwickelten seine Ideen auch im sowjetischen Machtbereich subkutane Wirkung. In Ungarn griffen Jenő Szűcs, Domokos Kosáry und Emil Niederhauser, in Polen Jerzy Kłoczowski und Henryk Samsonowicz Haleckis "Ostmitteleuropa"-Konzeption auf
Bis heute ist in der Geschichtswissenschaft vor allem die Modifizierung eines dreigeteilten Europa nach Halecki durch Szűcs prägend, die Westmittel- und Ostmitteleuropa nicht zu Mittel- oder Zentraleuropa, sondern – terminologisch nicht ganz folgerichtig – zu Ostmitteleuropa zusammenfasst und entsprechend von den "drei historischen Regionen Europas" spricht. Während das Szűcssche Ostmitteleuropa gleich dem Haleckischen von Osteuropa bzw. Russland durch die Trennlinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus geschieden war, sah der ungarische Historiker gegenüber Westeuropa eine deutliche sozioökonomische sowie kulturelle Scheidelinie, die vom Aufkommen der "zweiten Leibeigenschaft" in der frühen Neuzeit bis in den Kalten Krieg hinein wirkungsmächtig gewesen sei. (Die geschichtsregionalen Gliederungsvorschläge Haleckis und Szűcs haben mittlerweile die Grenzen der Europageschichtsschreibung überschritten und finden auch in Disziplinen wie der Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft und der Ethnologie Anwendung finden.)
III.
Wenn es also nach Halecki und Szűcs ginge, müsste der Mitteleuropa-Begriff der Gegenwart in zweierlei Hinsicht modifiziert werden: Terminologisch wäre er auf Ostmitteleuropa einzugrenzen, geografisch aber um Südosteuropa und die westliche GUS zu erweitern. Angesichts der geschrumpften Definitionsmacht von Historikern im öffentlichen Raum ist dies indes nicht zu erwarten. Vielmehr ist ein gegenläufiger Prozess zu beobachten, nämlich die Adaption der Geistes- und Sozialwissenschaften an die politische Terminologie – mit allen daraus resultierenden Missverständnissen. Zwei schlagende Beispiele für eine solche Verwirrung von Regionalbegriffen auf unterschiedlichen semantischen Ebenen seien hier angeführt:
1990 veröffentlichte der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Kommunismusexperte Charles Gati einen Artikel über die Ereignisse des Jahres 1989 in der autoritativen Zeitschrift "Foreign Affairs" mit dem metaphorischen Titel "The Morning After" – "Der Morgen danach". Dessen erster Satz lautete kryptisch: "Eastern Europe is now East-Central Europe" – "Osteuropa ist jetzt Ostmitteleuropa".
Noch symptomatischer ist die Benennung der beiden Auflagen von Paul Magocsis historischen Atlas Ostmitteleuropas, dessen erste Auflage von 1993 "Historical Atlas of East Central Europe" hieß, wohingegen die zweite 2002 als "Historical Atlas of Central Europe" erschien – bei Beibehaltung desselben Standardkartenausschnitts von Kaliningrad bis Kreta bzw. von Odessa bis Triest. Magocsi begründete dies bemerkenswerterweise mit einem außerwissenschaftlichen, nämlich politischen Argument: "It has become clear since 1989 that the articulate elements in many countries of the region consider eastern or even east-central to carry a negative connotation and prefer to be considered part of Central Europe. If Central Europe responds to the preference of the populations of the countries in question, this would seem to lend even greater credence to the terminological choice."
Die geschichtsregionale Perspektive kann also periodisch hohe Affinität zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen der jeweiligen Gegenwart aufweisen – was ganz besonders für die Nach-"Wende"-Zeit gilt, womit die genannte Gefahr verständnisverzerrender Interferenz groß ist. Entsprechend hat der deutsche Historiker Michael G. Müller 1990 versucht, die Parallelprägung "Ostmitteleuropa" als "eine artifizielle Wortschöpfung – ein[en] Kunstbegriff, und zwar vor allem eine[n] der Wissenschaft", zu definieren und dergestalt als historische Methode vor politischer Profanisierung zu "retten".
Um diesem Dilemma multipler Begriffskonnotation zu entgehen, hat daher die polnisch-britische Kunsthistorikerin Katarzyna Murawska-Muthesius zu einer radikalen Maßnahme gegriffen: Sie bezeichnet die kunstgeschichtsregionale Konzeption "Ostmitteleuropa" bzw. "East Central Europe" nicht mit diesem ob seiner Bedeutungspluralität samt Politisierungsgrad gleichsam verbrannten Terminus, sondern mit einem aus der Gegenwartsliteratur entlehnten. Es handelt sich um das in Michael Bradburys "Rates of Exchange" aus dem Jahr 1983 verwendete Label "Slaka", unter dem der Autor Charakteristika dreier kommunistischer Gesellschaften, nämlich Polens, Bulgariens und Chinas, amalgamiert.
Vor einiger Zeit hat sich der polnische Journalist Wojciech Orliński die nicht unbeträchtliche Mühe gemacht, die gesamte Weltliteratur nach solchen teils ironisierenden, teils aber auch herabsetzenden Phantasie-Regionalbezeichnungen Mitteleuropas vom Typus "Herzoslowakien", "Pottsylvanien", "Novistrana" und anderen zu durchforsten.
IV.
Resümierend ist zweierlei festzuhalten: Einerseits, dass sich im Bereich sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung der Mitteleuropa-Begriff aufgelöst hat, und zwar zum einen in Richtung eines sehr spezifischen historischen Forschungsdesigns namens "Ostmitteleuropa", zum anderen – unter dem Druck politisch-geografischer Terminologie – in Richtung artifizieller Begriffsprägungen. Andererseits ist zu konstatieren, dass das politisch-kulturelle und oppositionell-antikommunistische Mitteleuropa-Konzept des ausgehenden Kalten Krieges und der ersten Nach-"Wende"-Zeit seine seinerzeitige Aufgabe mit der "friedlichen Revolution" erfüllt hat. Zugleich hat es sich im Zuge der Osterweiterungen von Europarat, NATO und vor allem Europäischer Union im politischen Raum erfolgreich von selbst erledigt. Auch seine kurzlebige Reinkarnation im zweiten Irak-Krieg unter dem Rubrum eines pro-amerikanisch-bellizistischen "new Europe" – im Gegensatz zum vorgeblich pazifistisch-verweichlichten "old Europe" der "alten" EWG/EG/EU – hat mittlerweile das Zeitliche gesegnet. Innerhalb der EU der 27 ziehen weder Warschau und Prag an einem gemeinsamen "mittleuropäischen" Strang noch tun dies gar Budapest und Bratislava, die mittlerweile nicht mehr nur durch die Geschichte, sondern auch durch den Euro getrennt sind. Auch ein größeres, gleichsam Haleckisches "Ostmitteleuropa", das Slowenien, Rumänien und Bulgarien einschließen würde, ist auf der Karte der EU nicht sichtbar. Ja, nicht einmal das Slaventum dient mehr als Kristallisationspunkt einer Fraktionsbildung in paneuropäischen Institutionen. Im Gegensatz zum Euro-Islam hat man von einem Euro-Slavismus noch nichts gehört.
(Der Text geht auf einen Vortrag auf dem Tschechisch-Österreichischen Symposium "Mitteleuropa? Zwischen Realität, Chimäre und Konzept" zurück, veranstaltet vom Collegium Europaeum. Forschungszentrum für Europäische Ideengeschichte an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und dem Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik sowie dem Österreichischen Kulturforum im Oktober 2011 in Prag.)