1. Die Versorgung nach 1945 in der SBZ
Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Versorgungslage in Deutschland erheblich verschlechtert. Nach Kriegsende nahm sie zum Teil dramatische Züge an. Die Hungerdemonstration im Sommer 1946 in Olbernhau zeigt nicht nur die Verzweiflung der einheimischen Bevölkerung, die Reaktionen darauf sind zudem ein beredtes Zeugnis für den Umgang der sowjetischen Besatzungsmacht und der von ihr geförderten Kommunisten mit Unmutsbekundungen und mit anderen politischen Kräften.
Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bevölkerung in Deutschland mit durchschnittlich 3.000 Kilokalorien (kcal) in ausreichender Menge und zufriedenstellender Zusammenstellung ernährt und gehörte damit zur Spitzengruppe in Europa.
Nach Kriegsende 1945 verschlechterte sich die Ernährungslage in ganz Deutschland rapide. Für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) wurde für Juli 1946 für Arbeiter (Gruppe 3) außerhalb von Berlin und den Großstädten der Satz von 1.639 kcal ermittelt
Die Ursachen der Ernährungskrise lagen zu großen Teilen in der Produktionsschwäche der Landwirtschaft in der SBZ. Sie wurde durch Kriegszerstörungen, Mangel an Düngemitteln und Transportmöglichkeiten, die vorrangige Versorgung der sowjetischen Truppen, Reparationen und die Auswirkungen der Bodenreform verursacht. Die mangelhafte Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde durch den strengen Winter 1946/47 und die darauf folgenden Missernten 1947 verstärkt.
Ebenso katastrophal war die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs: Die Belieferung war bis 1948 fast vollkommen zusammengebrochen. Die Ursachen waren hauptsächlich, dass zum Beispiel "bei Lederschuhen und Geweben fast die gesamte Produktion, bei Socken und Trikotagen etwa vier Fünftel an die Besatzungsmacht geliefert" wurden. Ähnlich sah es bei der legalen Versorgung mit Hausbrand aus. 1947 wurden nur ca. fünf Prozent des Normalbedarfs an Waren des täglichen Bedarfs ausgegeben.
2. Proteste gegen die Versorgungslage
Alle diese Faktoren verursachten eine Härte der Lebensbedingungen in allen Besatzungszonen, die zusammen mit den vielfältigen psychischen Belastungen der Nachkriegszeit zu öffentlichen Protesten führten. Der bekannteste Vorfall ist wohl die "Hühnerfutter-Rede" des CSU-Politikers Johannes Semler vom 4. Januar 1948 in Erlangen, in der er die Importpolitik und besonders die Maislieferungen der Alliierten für die deutsche Bevölkerung als "Hühnerfutter" brandmarkte.
Die Protestaktionen und Streiks der Jahre 1947 und besonders 1948 aufgrund der mangelhaften Versorgungslage sind für die Bi-Zone
Folgende Proteste gegen die sowjetischen Besatzungsbehörden in Bezug auf die Versorgungslage konnten in Literatur und Quellen bislang ermittelt worden: Die ersten solcher Demonstrationen sind für 1945 (vor der Vertreibung) aus Breslau belegt, wo am 30. Juli 250 Frauen und Kinder und am 2. August "1.500 Arbeiter/innen mit roten Fahnen" demonstrierten.
Ein zeitlicher Höhepunkt solcher Proteste in Sachsen scheint, soweit die wenigen Quellen eine solche Aussage zulassen, im April 1947 gelegen zu haben: Am 12. April fand in Heidenau bei Dresden eine solche Demonstration von Frauen statt.
3. Olbernhau
Olbernhau (Erzgebirge), Luftbild von 1935. (© Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 10852 Technisches Oberprüfungsamt, Nr. 1052, Bild Nr. 4)
Olbernhau (Erzgebirge), Luftbild von 1935. (© Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 10852 Technisches Oberprüfungsamt, Nr. 1052, Bild Nr. 4)
Olbernhau ist eine kleine Industriestadt im östlichen Erzgebirge im Landkreis Marienberg, die vor allem durch die 1537 gegründete "Saigerhütte" im Ortsteil Grünthal bekannt geworden ist.
Unmittelbar nach dem Krieg sank zunächst die Einwohnerzahl. Wurden am 30. Juli 1945 noch 13 346 Einwohner ermittelt (davon waren 10.038 Einheimische)
Im Gemeinderat herrschte nach der Wahl vom 1. September 1946 trotz starker Behinderung der LDP
Bekannt wurde Olbernhau auch durch den massiven Protest eines Jugendlichen:
Hermann Joseph Flade (1932–1980), Aufnahme Anfang der 1950er-Jahre. (© Robert-Havemann-Gesellschaft, Matthias-Domaschk-Archiv)
Hermann Joseph Flade (1932–1980), Aufnahme Anfang der 1950er-Jahre. (© Robert-Havemann-Gesellschaft, Matthias-Domaschk-Archiv)
Hermann Joseph Flade (1932–1980), Oberschüler in Olbernhau, protestierte mit Flugblättern Anfang Oktober gegen die Volkskammer-"Wahlen" am 15. Oktober 1950 und gegen das DDR-Regime insgesamt.
Obwohl der Pfarrer Arthur Langer aus Olbernhau als Mitwisser zu acht Jahren und in zweiter Instanz zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, war Flade ein Einzeltäter. Seine Tat war jedoch ein Beispiel für viele andere Oberschüler, von denen die Gruppen in Altenburg, Senftenberg und Werdau
Einer der großen Betriebe in Olbernhau war die 1899 gegründete und sequestierte Wachsblumenfabrik Otwin Jehmlich, die seit dem 1. Juli 1946 von Otto Meyer geleitet wurde. Der Betrieb beschäftigte zu diesem Zeitpunkt 153 Frauen sowie eine große Zahl von Heimarbeiterinnen.
Eine Besonderheit stellte die vom Landrat genehmigte Weiterbeschäftigung des Gründers und früheren Besitzers Otwin Jehmlich als technischer Leiter dar. Er war der einzige Techniker im Betrieb, der Betriebsleiter Otto Meyer war von Beruf Kaufmann.
4. Der Protest in Olbernhau
Die Demonstration
Am 18. Juli 1946 erschien ein weibliches Mitglied der SED bei der Ordnungspolizei in Olbernhau und teilte mit, dass sie soeben in einem Grünwarengeschäft erfahren habe, "dass um 10.00 Uhr eine Frauendemonstration vor der Kommandantur der Roten Armee stattfinden solle. Gefordert werden sollen Brot und Kartoffeln."
Gegen 11 Uhr versammelten sich in der Tat etwa 300–400 Frauen vor der Kommandantur. Der Polizei gelang es nicht, die Versammlung aufzulösen. Ein Teil der Demonstrantinnen kam aus der Wachsblumenfabrik, wo auf Nachfrage von vier Beschäftigten vom Betriebsleiter Otto Meyer wie auch vom Betriebsobmann Oskar Otto die Teilnahme an der Demonstration genehmigt worden war, da wegen Stromausfalls die Produktion ohnehin ruhte.
Kurze Zeit später erschien der sowjetische Kommandant aus Marienberg und bat einige Frauen zu sich, um ihre Anliegen zu erfahren. Die Frauen brachten folgende Punkte vor: Es seien keine Kartoffeln vorhanden; die berufstätigen Frauen klagten, dass sie nicht nach Lebensmitteln anstehen könnten, und forderten das Bereithalten von Lebensmitteln für diesen Kundenkreis; es wurde schließlich die ausreichende Belieferung mit Kleidung, Schuhwerk und Wäsche verlangt. Der folgende Punkt findet sich bezeichnenderweise nur in der Darstellung der sowjetischen Behörden: die illegale Selbstversorgung mit Lebensmitteln und Waren durch die Leitung der Bürgermeisterei.
Der Kommandant erklärte, dass ab dem 1. August die Lebensmittelrationen erhöht würden. Daraufhin war die Demonstration beendet. Vom Kommandanten wurde zudem angeordnet, dass ein von der Kommandantur beschlagnahmtes Lebensmittellager der Stadtverwaltung zur Verteilung freigegeben würde.
Kurz nach dem Kommandanten erschien ein Kapitän der "Sonderstelle Marienberg" der Sowjetischen Militäradministration (SMA) und nahm nach Ermittlungen drei Frauen fest. Dabei handelte es sich um drei der vier Frauen, die in der Wachsblumenfabrik um die Genehmigung zur Teilnahme an der Demonstration nachgesucht hatten.
Vom stellvertretenden Bürgermeister Max Müller, der bei der Demonstration zugegen war, und dem Leiter der Ordnungspolizei, Löschner, wurden sogleich Vermutungen über tiefere Ursachen des Protestes geäußert. Es seien "Feinde des Wiederaufbaus" am Werk, der "Ursprungsherd" sei "der ehemalige Mittelstand", "unter den Frauen waren sehr viel[e] ehemalige Mitglieder der NSDAP oder mindestens die Männer" hätten der Nazipartei angehört. Als "Inspirator" wurde die Leitung der LDP in Olbernhau angesehen.
Noch am Abend der Demonstration fand eine Versammlung der weiblichen Mitglieder der SED statt. Der Saal war mit ca. 600 Frauen völlig überfüllt. Der größte Teil war angeblich keine Mitglieder, sondern soll nur aus Neugierde erschienen seien. Störungen "durch die Elemente, die sich am Vormittag bei der Demonstration hervorgetan hatten", endeten mit dem Erscheinen des sowjetischen Kommandanten. Die Versammlung verlief dann in "geordneten Bahnen".
Reaktionen
Die sowjetischen Behörden nahmen diesen Vorfall so ernst, dass sie mit einem besonderen Befehl darauf reagierten.
"Um die politische Lage in der Stadt Olbernhau zu festigen", ordneten die sowjetischen Behörden mit ihrem Befehl vom 9. August 1946 folgende Maßnahmen an: Der Präsident der Landesverwaltung Rudolf Friedrichs habe die Arbeit der Lebensmittelabteilung der Bürgermeisterei zu überprüfen und die Schuldigen zur "strenger Verantwortung" zu ziehen, was aber offenbar unterblieb – zumindest lassen sich keine entsprechenden Aktivitäten nachweisen. Die Arbeit der Prüfungsabteilung "wegen richtiger Verwendung der für die Ernährung der deutschen Bevölkerung zugeteilten Lebensmittelmengen sei sofort wieder herzustellen." – Der letzte Punkt ist ein Hinweis darauf, dass die entsprechenden Beschwerden der Demonstrantinnen wohl nicht unberechtigt waren.
Über das Lebensmittellager in Olbernhau berichtete die Stadtverwaltung im Nachgang zu der Demonstration, dass es sich um ein ehemaliges Wehrmachtslager handele. Bis zum Dezember 1945 habe es die Stadtverwaltung zur Versorgung von Flüchtlingen und Opfern des Faschismus genutzt. Im Dezember 1945 wurde es als "Trophäenlager" von der sowjetischen Kommandantur beschlagnahmt, am 19. Juli 1946 aber schließlich der Stadtverwaltung übergeben, die hier auf Lebensmittelkarten fortan andere Nahrungsmittel statt Kartoffeln ausgab.
Das Lager barg fast zwei Tonnen Lebensmittel, wobei es sch fast ausschließlich um Roggensuppe handelte. Weiterhin waren nennenswerte Mengen von Hirse (19,5 Kilogramm), Bohnen (9,5 kg) und gelben Erbsen (8,4 kg) sowie 250 Packungen "Notverpflegung" mit je 330 Gramm vorhanden. Wichtige Lebensmittel wie Fette, Zucker, Mehl, Kartoffeln, Brot, Fleisch, Milchprodukte sowie Genussmittel wurden dort nicht gelagert.
Als Initiatorin der Hungerdemonstration wurde die Ortsgruppe der LDP betrachtet. Die Partei, die am 18. Juni 1945 gegründet worden war, verzeichnete in Sachsen besonders starken Zulauf: Im März 1946 war mehr als ein Viertel ihr 110.000 Mitglieder im Landesverband Sachsen organisiert.
Die Ortsgruppe der LDP in Olbernhau
Die Behörden reagierten schnell und repressiv: Der Ortsgruppenvorsitzende Mitzscherling und sein Stellvertreter Mummenthey durften bei den Gemeindewahlen am 1. September nicht antreten. Mitzscherling trat drei Tage nach den Wahlen zurück.
Auch die Wachsblumenfabrik und ihr Betriebsleiter Otto Meyer gerieten nach der "Hungerdemonstration" ins Visier der Besatzungsmacht und ihrer Vollstrecker. So stellte der Leiter der Ordnungspolizei Löschner in einem Besuchsbericht zwei Wochen später mit Blick auf Meyer die rhetorische Frage: "ist diesem kommissarischen Leiter die große Pflicht, die er übertragen bekommen hat, nicht bewusst, oder arbeitet dieser 'Demokrat' auch schon wieder als Saboteur? Unsere Ansicht ist es, dass so ein Mann, wie dieser komm. Leiter, nicht in so einer Stellung belassen werden kann, er hätte unbedingt dieses Unternehmen der Demonstration in seinem Betrieb unterbinden müssen." Negativ vermerkt wurde, wohl mangels anderer Beanstandungen, zudem der unzureichende Zustand der Krankenstube der Wachsblumenfabrik.
Interessanterweise führte dies nicht sofort zu Konsequenzen. Erst am 31. Januar 1948, also fast eineinhalb Jahre später, erschien in der Zeitung "Tribüne" des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) ein Artikel mit dem Titel: "Herr Meyer zahlt Hungerlöhne". Dem Betriebsleiter wurde vorgeworfen, unterschiedliche Gehälter für Heimarbeiterinnen, Arbeiterinnen und Arbeiter zu zahlen. Der Artikel endete mit rhetorischen Fragen: "Wer hat von der Industrieverwaltung Herrn Meyer dort als Betriebsleiter eingesetzt, und wer stärkt ihm den Rücken? Etwa auch ein Hintermann des ehemaligen Naziunternehmers Jehmlich? Wie lange will die Hauptverwaltung der volkseigenen Betriebe diese Zustände dulden?"
Aufgrund dieses Artikels wurde Otto Meyer wegen angeblicher Missachtung von SMAD-Befehlen trotz heftiger Proteste zum 31. März 1948 entlassen, erhielt jedoch ein sehr gutes Zeugnis. In keinem Schriftstück hierzu werden die Vorgänge vom Juli 1946 erwähnt. Offiziell wurde als Grund seines Ausscheidens die Übernahme der Firma in eine andere Industrieverwaltung genannt.
6. Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt die vielseitigen Reaktionen auf massive Proteste („Hungerdemonstrationen“) der für die Lebensmittelversorgung zuständigen Stellen. Die deutschen Behörden hatten mit der Leitung der Wachsblumenfabrik und mit der Ortsgruppe der LDP sofort zwei angeblich verantwortliche Personenkreise benannt. Die hektischen Reaktionen auf den Vorwurf mangelhafter Versorgung durch die zuständigen deutschen Stellen und der Existenz eines „schwarzen“ Lebensmittellagers ließen auf entsprechende Mängel schließen, die zudem von den sowjetischen Besatzungsbehörden in ihrem Befehl Nr. 248 bestätigt wurden. Eine konstruktive Reaktion auf die Beschwerden blieb jedoch, wären sie doch auch einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.
Vielmehr griffen die Vertreter der Besatzungsmacht zwei verschiedene Arten von Maßnahmen. Einerseits zeigten sie Verständnis für die Forderungen der Demonstrantinnen, hörten diese an und ordneten sofort wirksame Maßnahmen zur Entspannung der Situation an. Andererseits wiesen sie jede Verantwortung für die schwierige Versorgungslage von sich und reagierten mit repressiven Maßnahmen wie Verhaftungen und starker Behinderung der politischen Arbeit der LDP.
Insofern zeigen die geschilderten Vorgänge in Olbernhau aus dem Jahr 1946 beispielhaft das Verhalten der deutschen Behörden und der Besatzungsmacht. Sie sind als typisch für die Zeit der SBZ anzusehen und widerspiegeln in einem Ausschnitt typische Herrschaftsmechanismen: Deutsche Verwaltungsstellen und die SED versuchten, öffentliche Proteste zu verhindern. Wenn dies nicht gelang, wurden rasch Verantwortliche außerhalb der eigenen Reihen benannt, um von eigenem Fehlverhalten abzulenken. Auf diese Weise konnten missliebige Personen und Institutionen „bekämpft“ werden. Die Unterstützung durch entsprechende Maßnahmen der Besatzungsmacht war dabei sicher und absolut notwendig. Diese reagierte flexibel: Auf der einen Seite bemühte sie sich um ein positives Verhältnis zur Bevölkerung
Typisch für solches Herrschaftshandeln war die Ausschaltung der nichtsozialistischen Parteien CDU und insbesondere der LDP. Letztere trat, in noch stärkerem Maße als die CDU, "eindeutig für ein marktwirtschaftliches System mit Privateigentum an Produktionsmitteln" ein