Am 18. März 1990 in die erste demokratisch zusammengesetzte – und letzte – Volkskammer gewählt, wurde Joachim Gauck auf den Tag genau 22 Jahre später von der 15. Bundesversammlung im ersten Wahlgang als erster Parteiloser und als erster Ostdeutscher zum elften Bundespräsidenten gekürt. Von der Union, der SPD, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen, erhielt er 991 von 1.232 abgegebenen Stimmen. Seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld, von der Linken präsentiert, kam auf 126 Stimmen und damit auf drei mehr, als die Partei hatte. Auf Gauck hingegen fielen im Vergleich zur Zahl "seiner" Delegierten deutlich weniger Stimmen. Angesichts der geheimen Wahl und des klaren Ergebnisses ist eine intensive Motivforschung über die immerhin 108 Enthaltungen müßig. Diese mögen vom linken Flügel der SPD und vom linken Flügel der Grünen gekommen sein, vielleicht auch von katholisch konservativen Kräften aus den Reihen der Union – wegen des Protestanten aus "dem Osten" oder wegen des Hickhacks der Vorgeschichte.
Als Bundespräsident Horst Köhler ganz überraschend am 31. Mai 2010 vom höchsten Staatsamt zurückgetreten war, hatten SPD und Grüne Joachim Gauck als Nachfolgekandidaten nominiert – wohl nicht zuletzt deshalb, um mit der Präsentation eines betont "Bürgerlichen" die Union und die FDP in Schwierigkeiten zu bringen. Das war der Fall. Deren Kandidat Christian Wulff benötigte drei Wahlgänge, obwohl die beiden Parteien in der Bundesversammlung über die absolute Mehrheit verfügt hatten. Die Linke lehnte die Unterstützung Gaucks, als "Stasi-Jäger" gebrandmarkt, entschieden ab. Als Christian Wulff am 17. Februar 2012 vom Amt des Bundespräsidenten wegen der vielen finanziellen Umgereimtheiten nicht überraschend zurücktrat, war die Situation ähnlich – und doch anders. Der von der Union und der FDP ins Auge gefasste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, der von der SPD und den Grünen wohl akzeptiert worden wäre, lehnte eine Kandidatur ab. Die Linke hielt an ihrem Votum gegen den "Stasi-Jäger" weiterhin dezidiert fest. Die SPD und die Grünen favorisierten erneut Gauck, ohne sich klar für ihn auszusprechen. Doch als die FDP die Vorschläge der Union (die CDU-Mitglieder Petra Roth und Klaus Töpfer sowie das SPD-Mitglied Wolfgang Huber) nicht akzeptierte und – anders als 2010 – plötzlich für Gauck eintrat, geriet die Union in die Bredouille. Da Angela Merkel Philipp Rösler nicht umstimmen konnte, musste sie Gauck akzeptieren. Am 19. Februar, einem dramatischen Tag, war die Entscheidung zu dessen Gunsten gefallen. Alle vier (mit der CSU: fünf) demokratischen Parteien verständigten sich auf seine Kandidatur.
Es ist eine Paradoxie: Gauck wurde zwar von allen demokratischen Parteien als ein "Konsenskandidat" aufgestellt, aber "richtig" gewollt hat ihn wohl keine. Taktische Spielereien und die List der Geschichte trugen ihn bei der dritten Wahl des Bundespräsidenten innerhalb von drei Jahren ins Amt. Fortune kam hinzu. Gauck ist gleichwohl keine "zweite Wahl". Wie Richard von Weizsäcker (1974; 1984–1994) und Johannes Rau (1994; 1999–2004) hat er es im zweiten Anlauf geschafft. Kein Bundespräsident war mit 72 Jahren so alt wie der jetzige, aber vielleicht ist er "jünger", nach vorn schauender als mancher seiner Vorgänger.
Joachim Gauck, am 24. Januar 1940 in Rostock geboren, erfuhr früh eine antikommunistische Prägung. Sein Vater, ein Kapitän, wurde 1951 festgenommen, zu zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt (wegen "Spionage" und "antisowjetischer Hetze") – ein "traumatisches Ereignis"
Wahlplakat des "Bündnis 90" zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 (Joachim Gauck ganz rechts, 2. Reihe von unten). (© Bundesarchiv, Plak 100-062-012 / Grafiker: o.A.)
Wahlplakat des "Bündnis 90" zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 (Joachim Gauck ganz rechts, 2. Reihe von unten). (© Bundesarchiv, Plak 100-062-012 / Grafiker: o.A.)
Das "Bündnis 90" aus Neuem Forum, der Initiative für Frieden und Menschenrechte und "Demokratie jetzt!" erhielt am 18. März 1990 zwölf Mandate, und Gauck stand auf Platz 12. In der Volkskammer engagierte er sich für eine schnelle deutsche Einheit – im Gegensatz zu anderen Bündnis 90-Mitgliedern – und für die Aufbewahrung der Akten des Staatssicherheits-dienstes. Gewählt am 28. September, avancierte er am 3. Oktober 1990 zum "Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheits-dienstes", später, nach dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes am 1. Januar 1992, zum "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR", dessen Einrichtung im Volksmund bald "Gauck-Behörde" hieß. Gauck wurde 1995 mit den Stimmen der Union, der SPD, der FDP und der Grünen für eine zweite Amtsperiode wieder gewählt (nicht mit denen der PDS).
Im Jahre 2000, als seine Tätigkeit zu Ende gegangen war (eine weitere Wiederwahl schied aus rechtlichen Gründen aus), lehnte er es ab, das Amt des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung zu übernehmen. Von 2003 an als Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie" fungierend, trat er, nicht frei von gewisser Eitelkeit, die schon wieder sympathisch anmutet, im ganzen Land auf. Seine Eloquenz und sein Charisma zogen viele Menschen in den Bann. Die oft überfüllten Lesungen etwa aus den beeindruckenden Erinnerungen "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" (München 2009) gingen nahe (dem Autor wie dem Publikum).
Der leidenschaftliche Verfechter der Freiheit
Gewiss, ein Bundespräsident soll integrieren. Das muss nicht bedeuten, dem Zeitgeist nachzuhecheln. Gauck steht wahrlich nicht in diesem Verdacht. Der Bundespräsident hat "auctoritas", keine "potestas" (Theodor Eschenburg) – Autorität, keine Macht. Davon wird Gauck Gebrauch machen. Doch besteht kein Anlass, seine Rolle als eine Art Heilsbringer zu überhöhen. Wer dies tut, provoziert Enttäuschungen.
In seiner ersten kurzen Rede direkt nach der Wahl rückte Gauck Freiheit in Beziehung zur Verantwortung, plädierte er für eine "lebendige Bürgergesellschaft". Seine letzten Sätze sind Programm: "Ob wir also als Wahlbevölkerung am Fundament der Demokratie mitbauen oder ob wir als Gewählte Weg und Ziel bestimmen, es ist unser Land, in dem wir Verantwortung übernehmen, wie es auch unser Land ist, wenn wir die Verantwortung scheuen. Bedenken sollten wir dabei: Derjenige, der gestaltet, wie derjenige, der abseits steht, beide haben sie Kinder. Ihnen werden wir dieses Land übergeben. Es ist der Mühe wert, es unseren Kindern so anzuvertrauen, dass auch sie zu diesem Land 'unser Land' sagen können." In seiner Antrittsrede nach der Vereidigung am 23. März knüpfte Gauck an diese Passage aus seiner ersten Rede als Bundespräsident an. Er warb darum, nicht Ängsten zu folgen, sondern Mut zu zeigen. Das westliche Deutschland habe nicht nur ein "Wirtschaftswunder", sondern auch ein "Demokratiewunder" erlebt. Gauck wandte sich scharf gegen extremistische Kräfte und legte ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie ab.
Der neue Bundespräsident, imprägniert gegen jede Diktaturversuchung, ist zwar parteilos, aber er spielt die Bürger nicht gegen die "politische Klasse" aus, will sich nicht auf Kosten dieser populistisch profilieren. Die Wahl stellt kein Vorzeichen einer Großen Koalition dar, entzieht Gauck sich doch jeder parteipolitischen Vereinnahmung und seine Position einer schematischen Einordnung, bei allen Präferenzen für eher liberal-konservative Sichtweisen.
Eine Heiligsprechung ist nicht angesagt – und keineswegs bloß deshalb, weil Gauck Protestant ist. Dem "Bürgerpräsident" mit Stehvermögen geht Konsens und Geschmeidigkeit nicht über alles. Ein populärer Präsident muss nicht populistisch sein.