Sammelrezension zu:
Joachim Scharloth: 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, Paderborn: Fink 2010, 510 S., € 68,–, ISBN: 9783770550500.
Sandra Kraft: Vom Hörsaal auf die Anklagebank. Die 68er und das Establishment in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M./New York: Campus 2010, 435 S., € 49,90, ISBN: 9783593392943.
Daniel Fulda, Dagmar Herzog, Stefan-Ludwig Hoffmann, Till van Rahden (Hg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg, Göttingen: Wallstein 2010, 392 S., € 32,–, ISBN: 9783835302501.
Eva Silies: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980 (Göttinger Studien zur Generationsforschung; 4), Göttingen: Wallstein 2010, 488 S., € 39,90, ISBN: 9783835306462.
Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 47), Göttingen: Wallstein 2010, 509 S., € 39,90, ISBN: 9783835304963.
Cordia Baumann, Sebastian Gehrig, Nicolas Büchse (Hg.): Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren (Akademiekonferenzen; 9); Heidelberg: Winter 2010, 370 S., € 46,–, ISBN: 9783825357481.
Der Hamburger Historiker Axel Schildt forderte bereits vor Jahren die Einbeziehung der subjektiven Erfahrungsdimension und eine Pluralisierung der Perspektiven, um dem Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf die Spur zu kommen, die in den "langen 1960er Jahren" einen "Zeitraum enormer Beschleunigung" erlebte.
1968
"Über '1968' kann man nicht schreiben", konstatiert der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth, weil "diejenigen, die es miterlebt haben, noch leben und besser wissen, wie es wirklich gewesen ist." (13) Mit seiner Studie über "1968" als Kommunikations-geschichte versucht er die Macht der Zeitzeugen sozusagen semiotisch zu "beugen". Denn die kommunikativen Strategien der "68er" mit ihrem Angriff auf bürgerliche Konventionen werden zwar als gesellschaftsprägend gedeutet, ohne aber ihren direkten Einfluss auf den gesellschaftlichen Wandel zu überschätzen.
Dabei berücksichtigt Scharloth sowohl neue diskursive als auch performative Praxen, die durch eine allgemeine Sprach- und Körpersensibilität geprägt waren. Durch offensives Diskutieren, bei dem das Senioritätsprinzip brutal demontiert wurde, und inszenierte Antirituale wie die Störung von Feierlichkeiten, Vorlesungen, Gottesdiensten, Gerichtsverhandlungen oder Diskussionsveranstaltungen, wurden neue Formen des Protests ausprobiert. Hauptmotiv war die Überzeugung, mittels Sprache oder Auftreten ein Bewusstsein für gesellschaftliche Veränderung schaffen zu können. Durch die subversive Umdeutung von rituellen Ordnungen wurden die tradierte Kommunikationssituation und die Hierarchie der Beteiligten in Frage gestellt. Das demonstrative Duzen deutet Scharloth als Versuch, eine Gruppenidentität herzustellen.
Innerhalb der Szene setzten vor allem die Kommunarden durch zunächst lässiges, aber zunehmend demonstrativ hedonistisches Auftreten stilistisch neue Akzente, um sich von den "Krawattenmarxisten" (Dieter Kunzelmann) abzuheben. Durch Abgrenzungen entstanden neue Ritualisierungen, die das alternative Milieu bis weit in die Siebzigerjahre prägten. Besonders im Rahmen der Universität waren die Proteste enorm erfolgreich, wurden doch lang tradierte Rituale wie Fackelläufe oder – als verkrampft empfundene – Immatrikulationsfeiern zunehmend abgeschafft.
Der Versuch Scharloths, eine spezifische "68er-Sprache" zu identifizieren, überzeugt nicht ganz, zumal der Autor einräumt, dass zum Beispiel das Diskutieren bereits vorher zentrales Moment in einer sich demokratisierenden Gesellschaft war
Vom Hörsaal auf die Anklagebank
© Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York. (© Campus Verlag )
© Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York. (© Campus Verlag )
Sandra Kraft, die sich in ihrer Dissertation den wechselseitigen Beziehungen zwischen der Protestbewegung und dem Establishment der Bundesrepublik Deutschland in vergleichender Perspektive mit den USA widmet, nimmt die doppelte Dimension des Konflikts in den Blick. Anhand der Untersuchung ausgewählter "kritischer Ereignisse" wird deutlich, dass die Erwartungshaltung und die Wahrnehmung des jeweiligen Gegenspielers entscheidend für die Gestaltung des Konflikts waren. Zudem stellt Kraft durch eine Schauplatzgeschichte entscheidende Unterschiede beim Verlauf der Konflikte fest, je nachdem ob sie an der sich in beiden Ländern als unabhängig definierenden Universität, auf der Straße oder vor Gericht stattfanden. Die "Gegner" des Establishments agierten genauso uneinheitlich wie die Akteure der studentischen Protestbewegung selbst. Die Reaktionen der Professoren sind kaum mit denen von Polizisten oder Richtern zu vergleichen. Kraft verzichtet zugunsten des Ländervergleichs auf die Einbeziehung der öffentlichen Dimension. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, ob sich die Unterschiedlichkeit der Schauplätze und ihre spezifischen Konfliktlinien auch in der medialen Wahrnehmung widergespiegelt haben.
Demokratie im Schatten der Gewalt
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
Weitet man die Perspektive, drängt sich die Frage auf, wie "lange" die dynamisierenden Momente der Sechzigerjahre in die vor allem wirtschaftlich unter ungünstigeren Vorzeichen stehenden Siebzigerjahre hinein wirkten. Welche Bedeutung gewannen zunehmend "postmaterialistische" Lebensentwürfe in einer Gesellschaft, deren soziale Strukturen sich extrem wandelten? Welche Einflüsse hatten die aufkommenden Krisendiskurse um Ölknappheit, Arbeitslosigkeit, Terroristenangst und Atomkriegsgefahr? Wie stark wirkte die sich globalisierende Pop- und Konsumkultur in die Gesellschaft hinein? Lässt sich der durch die Studentenbewegung medial inszenierte Generationenkonflikt tatsächlich als Emanzipationsgeschichte der Jüngeren von den konservativen Wertemustern der Älteren erzählen? Die Vermutung lautet: Eher nicht!
Die jüngere Forschung kratzt nicht umsonst am Paradigma der "Kulturellen Revolution", den einige "68er" noch immer für sich in Anspruch nehmen. Dazu passt, dass es bei der Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte aktuell weniger um große politische Themen zu gehen scheint als vielmehr um die Beständigkeit und den Wandel moralischer Vorstellungen und Werte, Milieus und Lebensstile, also um die Gestaltung des Privaten im Raum des Gesellschaftlichen. Je stärker der gesamtgesellschaftliche Wandel der Siebzigerjahre in den Blick genommen wird, desto deutlicher zeigt sich, dass die Kriegs- und Aufbaugeneration nicht nur als konservativ-bremsender Faktor wahrgenommen werden kann, sondern bereits in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren einen eigenen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel geleistet hat. Statt generationeller Konflikte stehen vielmehr Überlagerungen und Überschneidungen von Wertemustern und Lebensstilen, die nicht nur die jüngere, sondern eben auch die ältere Generation erfasst, im Zentrum der Betrachtung. Hier deutet sich ein Paradigmenwechsel für die Beschreibung der Sechziger- und Siebzigerjahre an, der eine bereits vorher vorbereitete evolutionäre Veränderung normativer Orientierungen über alle Generationengrenzen hinweg favorisiert, ohne prägende Zäsuren oder generationelle Konfliktlinien zu ignorieren.
Mit Verweis auf die wachsende Popularität subjektiver Geschichtserzählungen, die die deutsche Erinnerungskultur prägt, fordert eine Riege junger Historiker um Daniel Fulda, Dagmar Herzog, Stefan-Ludwig Hoffmann und Till van Rahden in dem Sammelband "Demokratie im Schatten der Gewalt" einen selbstbewussten Umgang ihres Fachs mit der privaten Perspektive, gerade weil "die Thematisierung von Historisch-Politischem im Fokus des Privaten, teilweise auch Intimen zwar grundsätzlich auf 'Nähe' und Verstehenwollen" zielt (10), die zeitgenössischen Auffassungen der Menschen von damals aber immer fremder erscheinen und dadurch Exoten-Status bekommen. In der für die Generation der 1933er prägenden Kriegs- und Nachkriegssituation setzte eine starke Verunsicherung in Bezug auf Werte und Moral ein. Der Nationalsozialismus, der für sich auch eine moralische Modernisierung der Gesellschaft in Anspruch genommen hatte, kam als normative Orientierung nicht mehr in Frage, wirkte aber im alltäglichen sozialen Umgang nach. Alternative Lebensstile und Werteorientierungen wurden von den alliierten Besatzern, besonders den Amerikanern vorgelebt und durch ihre Populärkultur propagiert.
Stefan-Ludwig Hoffmann zeigt anhand von Tagebucheintragungen von Deutschen und Alliierten unmittelbar nach Kriegsende, wie die Sowjetunion durch gewaltsame Übergriffe ihrer Soldaten und durch ihre strengen Fraternisierungsverbote die Antipathien gegenüber dem kommunistischen System noch verstärkte, während die Westalliierten als Hoffnungsträger einer zurückkehrenden Normalität begrüßt wurden.
Nach Michael Geyer reagierten die Deutschen angesichts ihrer Niederlage mit einer außerordentlichen moralischen Desorientierung, die mit einer Umgründung von Existenzen überspielt wurde. Nach anfänglichem Widerstand gegen die Kapitulation, die den jahrelang erfahrenen, wenn auch kriegsbedingten, sozialen Lebenszusammenhang bedrohte, bestimmte die Suche nach einer neuen Lebensführung die Bundesrepublik bis in die Sechzigerjahre hinein. In Anspielung auf Günter Grass' Romantitel konstatiert Geyer für die Nachkriegszeit eine "Häutung", ein Abstreifen der bisher geltenden Überzeugungen. Dabei übersieht er allerdings, dass eine Haut sich zwar erneuern lässt, der (kulturelle) Körper aber erhalten bleibt.
Sabine Kyora verweist darauf, dass nach 1945 der Rückgriff auf Wertemuster aus dem Kaiserreich nahe lag und tatsächlich von vielen besonders der älteren bis mittleren Generation praktiziert wurde. Dazu gehörte die Sehnsucht nach Normalität und "bürgerlicher Gesinnung", die sich in einem festen Familienzusammenhalt und in der Solidarität aller sozialer Gruppen zeigen sollte. Auch die Idealisierung des frühen Nationalsozialismus blieb in allen gesellschaftlichen Schichten Deutschlands lange stark. Darüber hinaus – und das bleibt in den Beiträgen leider unerwähnt – hatte das Kaiserreich neben einem festen nationalen Selbstbewusstsein jedoch ebenso verschiedene Lebensreformbewegungen hervorgebracht, die auch die Lebensstile und Kulturmuster dynamisierten. Am wirkungsmächtigsten ist dabei sicher die jugendliche Wandervogelbewegung gewesen, aber auch die Vegetarier- und Freiluftbewegung, die sich aus einer allgemeinen Modernisierungskritik und neuer Naturbegeisterung speiste, gehörte dazu. Die Praxis der Wandervögel wurde geschickt von der Hitlerjugend aufgegriffen und hat dadurch eine große Zahl junger Deutscher der Vorkriegsgeneration maßgeblich geprägt. Die damals jugendlichen Akteure waren in den Fünfzigerjahren zwar gealtert, brachten ihre Ideale aber durchaus in die entstehenden Jugendbewegungen ein. Erst allmählich kamen neue, internationale Kulturmuster hinzu, die sich dann mischten.
Eines dieser Kulturmuster war der vermeintlich freie Meinungsaustausch. Nina Verheyen stellt in ihrem Beitrag überzeugend dar, wie das Diskutieren bei öffentlichen Veranstaltungen, im Radio und Fernsehen zu einer demokratischen Kulturtechnik stilisiert und eifrig eingeübt wurde. Damit widerspricht Verheyen der prominenten These, die Nachkriegszeit wäre eine Dekade der Schweigsamkeit gewesen. Motiviert und angeleitet vom amerikanischen Re-education-Programm, das gezielt Traditionen der Weimarer Reformpädagogik aufgriff, sprach man sich praktisch frei von dem unaussprechlichen Grauen und der unsagbaren Schuld der Vergangenheit. Damit einher ging die Kultivierung eines demokratischen Habitus, der die Generation der "68er" nicht nur prägte, sondern dermaßen von ihr verinnerlicht wurde, dass sie ihn konsequent vom öffentlichen Raum ins Private übertrug.
Till van Rahden beschreibt, wie auch das konservative Milieu patriarchale Vaterbilder kritisierte und anhand einer sanfteren und gefühlsbetonteren Form der Männlichkeit über neue Formeln der "demokratischen Familie" verhandelte, auch wenn am Status des verheirateten, heterosexuellen Mannes nicht gerüttelt wurde. Interessanterweise nahmen dabei besonders die Kirchen, die bisher als Garant für die moralisch verhärmten Fünfziger galten, mit ihren Medien und Laienorganisationen eine führende Rolle ein.
In Bezug auf die sexuelle Liberalisierung Ende der Sechzigerjahre exemplifiziert Dagmar Herzog ihre durchaus umstrittene These, dass gerade im Nationalsozialismus Sexualität liberaler diskutiert und praktiziert worden sei, als es von der zeitgenössischen Öffentlichkeit propagiert wurde.
Liebe, Lust und Last
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
Eva-Maria Silies stützt diese Einschätzung in ihrer Studie über die Pille "als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik". Obwohl Jugendliche zunehmend vorehelichen Geschlechtsverkehr praktizierten, blieb die traditionelle Familienform mit Ehe und Kindern Leitbild. Die Pille nutzten zwar Ende der Sechzigerjahre bereits 16 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter, von einem allgemeinen promisken Verhalten kann allerdings keine Rede sein. Gerade jungen Frauen wurde die Pille, die zur Verhinderung weiterer ungewollter Schwangerschaften von Müttern gedacht war, bis weit in die Siebzigerjahre hinein von den Ärzten aus moralischen Gründen verweigert. Dieser Umstand ließ einen blühenden Schwarzmarkt entstehen, der zum Teil aus den Ostblock-Ländern, wo die Pille leichter zu erhalten war, beliefert wurde.
Silies' These von der Pille als generationelle Erfahrung erscheint allerdings nur bedingt schlüssig. Sicher hat die jüngere Generation der ersten Pillennutzerinnen in den Sechzigerjahren eine entschieden andere Erfahrung mit Sexualität gemacht als ihre Mütter. Wenn aber die Betrachtung Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 44 Jahren, also ältere und jüngere Altersgruppen umfasst, dann muss man die Pillen-Erfahrung eindeutig als generationenübergreifend einordnen, zumal die Zahl der Nutzerinnen bereits Mitte der Sechzigerjahre rapide anstieg.
Ebenfalls generationenübergreifend war die Erfahrung, dass mit der Pille die Verhütung zu einer reinen Frauenangelegenheit geworden war, was einerseits mehr Selbstbestimmung brachte, aber andererseits die Männer von der Verantwortung für die "Folgen" des Geschlechtsverkehrs frei machte. Unangenehme Nebenwirkungen, Risiken und die Kosten der Pille, die die Frauen oft alleine tragen mussten, wurden vor allem von der Neuen Frauenbewegung kritisiert. Wurde die Pille seit ihrer Einführung überdurchschnittlich von den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten zur Familienplanung genutzt, formulierte dieses Milieu auch im Rahmen der alternativen Szene die Kritik an der Pille als "unnatürliches" Mittel, das die Frau von ihrem Körper entfremde. Das führte zwar nur zu einem leichten Rückgang der allgemeinen Pillennutzung, die inzwischen 30 Prozent der Frauen in Anspruch nahmen, beschädigte aber merklich ihren Symbolcharakter als Mittel der "sexuellen Befreiung".
Das alternative Milieu/Linksalternatives Milieu
und Neue Soziale Bewegungen
Im Laufe der Siebzigerjahre entzweite sich das einst durch ein gemeinsames Feindbild zusammengeschweißte alternative Milieu durch ihre Parole "Alles Private ist politisch" in ein Frauen- und ein Männerlager, das die Kräfte absorbierte. Erst die "Männerbewegung" der Achtzigerjahre, in der Männer selbstbewusster ihre nicht nur sexuellen Bedürfnisse in der Partnerschaft vorzubringen wagten, ließ eine Versöhnung der Geschlechter erkennen.
Zwei Sammelbände zeichnen die Ausprägungen des "alternativen Milieus" nach, wobei die präsente Platzierung des Milieu-Begriffs, der sich in beiden Titeln wiederfindet, die gewachsene Interdisziplinarität soziologischer und kultur- bzw. alltagshistorischer Zugange berücksichtigt, die den Zusammenhang von gesellschaftlichem Struktur- und Wertewandel hervorhebt.
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
© Wallstein Verlag, Göttingen. (© Wallstein Verlag )
Der von Sven Reichardt und Detlef Siegfried herausgegebene Band "Das alternative Milieu" versammelt unter den Überschriften "Transnationale Raume und Ethnizität", "Konsum und Kritik", "Geschlechter-verhältnisse und Subjektivierungsprozess" sowie "Alternativmilieu und Neue Soziale Bewegungen" zahlreiche Beiträge, die aufgrund ihrer Fülle hier nicht allesamt angesprochen werden können.
Bereits in der theoretischen Annäherung an das Thema wird von Michael Vester auf Pierre Bourdieus Habitus-Begriff verwiesen, der die Kontinuität von an sozialer Herkunft geschulten Werten betont – und zwar generationenübergreifend. So bleibt der Blick nicht bei dem vermeintlichen Versuch der jüngeren Generation stehen, die Werte der Älteren durch eine neue, "antibürgerliche" Lebenspraxis zu revolutionieren, sondern erkennt soziale Kontinuitäten, auch – und das mag überraschen – in den "revolutionierten" Lebensentwürfen alternativer Milieus. Das Alternative Milieu war zwar ursprünglich durch die Studentenbewegung stark bürgerlich geprägt, wurde aber im Laufe der Siebzigerjahre sozial immer heterogener und erwies sich gerade deshalb als erfolgreiches Sammelbecken für vielfältige Versuche, das eigene Leben und damit die Gesellschaft zu verändern.
Die Autoren stellen sich zum Großteil der Herausforderung, die alternativen Konzepte im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Umbrüche darzustellen, sodass die Mehrheitsgesellschaft nicht nur als "Gegner" einer alternativen Minderheit erscheint, sondern selbst als dynamisches Feld wahrgenommen wird. So beschreibt Detlef Siegfried die zunächst euphorische Rezeption alternativer Projekte in Dänemark durch die sehr viel stärker politisierte alternative Szene in Deutschland, um ihren nationalspezifischen "Doppelcharakter" herauszuarbeiten, der zwischen der Faszination, Teil einer internationalen alternativen Gemeinschaft zu sein, und einer traditionsreichen Kapitalismuskritik schwankte. Die alternativen Globetrotter werden vor dem Hintergrund eines zunehmenden Individualtourismus dargestellt, von dem man sich durch exotische Ziele und jugendlichen Abenteuer-Gestus abzusetzen versuchte (Anja Bertsch). Die Versuche einer möglichst authentischen alternativen Pop-Aneignung werden in die Debatte über kommerzialisierte Subkultur (Moritz Ege) und der Terrorismus in den Zusammenhang linker Konsumkritik (Alexander Sedlmaier) eingeordnet. Uta Poiger zeigt, dass die zweite Welle feministische Kritik ab Ende der Siebzigerjahre sich von dem bisher favorisierten asketischen, auf Natürlichkeit gerichteten Schönheitsideal verabschiedete. Stattdessen nutzte man die vom Punk initiierte Anti-Ästhetik, um dem durch die Medien favorisierten Bild der Frau, die sich für den Mann schön machte, etwas Eigenes entgegen zu setzen: die selbstbewusste unabhängige Frau, die sich selber schön findet.
Das neue Konsensideal in alternativen Partnerschaften erforderte neue Formen der "Beziehungsarbeit", die Sven Reichardt aus den Kontaktanzeigen alternativer Medien herausarbeitet. Die Herausstellung von Charaktereigenschaften wie Emotionalität, Unabhängigkeit und Kreativität entsprach einer alternativen "Selbstthematisierungskultur", die Beziehungen nicht gerade erleichterte. Tatsächlich war die feste Partnerschaft im alternativen Milieu wenig verbreitet, womit man im allgemeinen Trend steigender Scheidungsraten und zunehmender Single-Haushalte lag. Dazu passt die Idealisierung einer neuen Innerlichkeit im "New Age", das Pascal Eitler als "ausufernde Gemengelage esoterischer Praktiken und Diskurse" benennt. Hier traf eine in Deutschland lang tradierte Zivilisationskritik auf eine internationale Esoterikwelle, deren neue Körper- und Diskurstechniken wie Yoga, Meditation und Selbsthilfegruppen unseren therapeutisierten Alltagsdiskurs bis heute beeinflusst.
Nach Aribert Reimann (sein Beitrag findet sich in dem Band "Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren") resümierten Teile der alternativen Bewegung Ende der Siebzigerjahre ihre gescheiterten revolutionären Ansprüche als Versuch, sich von der gescheiterten Vätergeneration zu lösen. Gleichzeitig wurde die Macht des "Väter-Systems" verabsolutiert, um die "Existenz im linken Getto" zu rechtfertigen. Folge war eine weit verbreitete "linke Melancholie" des "Nicht-weiter-Wissens" einer hedonistischen Generation, die in ihren eigenen privaten Lebensentwürfen zu bürgerlichen Normen zurückkehrte. Dies ist nur zum Teil richtig, hat doch das plurale Wertesystem des alternativen Milieus vielfältige, auch generationenübergreifende Kollektivierungen zugelassen, die den Neuen Sozialen Bewegungen zu ihrem Einfluss verhalfen und schließlich in politischen Projekten wie der Partei der Grünen mündeten. Diese Berührungspunkte und Abgrenzungsversuche zwischen Alternativem Milieu und Frauen- (Ilse Lenz), Umwelt- (Jens Ivo Engels) und Friedensbewegung (Tim Warneke) sowie zur Internationalen Solidaritätsbewegung (Wilfried Mausbach) und Hausbesetzer-Szene (Freia Anders) werden im letzten Teil des Bandes von Sven Reichardt und Detlef Siegfried dargestellt.
© Universitätsverlag Winter, Heidelberg. (© Universitätsverlag Winter Heidelberg )
© Universitätsverlag Winter, Heidelberg. (© Universitätsverlag Winter Heidelberg )
An der gleichen Achse setzt der von Cordia Baumann, Sebastian Gehrig und Nicola Büchse herausgegebenen Band "Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren" an und ergänzt diese zum Teil durch transnationale Perspektiven. Durch Vergleiche mit den USA (Jaco Pekelder), Italien (Andrea Hajek) oder Großbritannien (Regina Wick) wird deutlich, dass über nationale Unterschiede hinaus alle Protestbewegungen einem beständigen Pluralisierungstrend unterlagen, der das Konzept der alternativen Gegenwelt immer stärker unterlief. Der auch in der Mehrheitsgesellschaft vollzogene Wandel bürgerlicher Werte mag schließlich vielen Alternativen den Abschied vom antibürgerlichen Lebensstil enorm erleichtert haben.