Raum und Vorurteil
Halle (Saale) und Leipzig aus "westdeutscher" Sicht
Andreas JünglingRobert ScholzAndreas Jüngling/Robert Scholz
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Unbekannte Räume sind keine "weißen Flächen". Mit entliehenen oder konstruierten Bildern werden stereotype Erklärungen erzeugt. Doch wie verändern sich diese Deutungen beispielsweise im deutschen Ost-West-Vergleich?
1. Einleitung
Mit verzweifelter Überraschung registrieren journalistische Beobachter die Renaissance des unkritisch artikulierten Nationalklischees im Europa der Euroschuldenkrise. Wird einerseits versucht, es mit vorsichtigem Urteil zu diagnostizieren, pflegen andere altliberale Rettungsgedanken – mit kühler Haltung und läuternder Ratio. Dass das dialektisch angelehnte Lernen aus der Geschichte mit dem hartnäckigen Selbstvergewisserungswillen der Teilnehmer-Nationen kollidiert, hängt eng mit den Strukturen und der Funktion von Stereotypen zusammen. Augenscheinlich können die Einzelnen in ihrer jeweiligen nationalen Gemeinschaft nicht auf das gemeinschaftskonstitutive wie abgrenzende Muster des aus Vorurteilen geronnenen Stereotyps verzichten. Was sich in der Euro-Zone oder in Europa insgesamt beobachten lässt, gilt gleichermaßen auch bei den intranationalen Wahrnehmungen und Urteilen.
Kurz vor dem Silberjubiläum der deutschen Einheit besitzt die Debatte um deren Vollzug noch immer Brisanz. Freilich haben sich die Bedingungen verschoben, anhand derer die diskursiven Koordinaten ausgerichtet wurden. Es scheint fast, als hätten die Mahnungen aus "Ost" und "West", den historischen und mentalen Eigensinn der "Ostdeutschen" als eigenständige Kategorie zu beachten, durchaus einen mäßigenden Einfluss auf die politische wie geschichtspolitische Wahrnehmung der östlichen Bundesländer genommen. Dies gilt offenbar auch für andere, lebensweltliche Aspekte. So erleben die so genannten östlichen Bundesländer anscheinend seit geraumer Zeit einen bemerkenswerten, aber ambivalenten Konnotationswandel. So wird Studieren in Leipzig, Dresden, Erfurt oder Greifswald unter "westdeutschen" Studenten populärer. Der Ostalgie-Vorwurf verstummt zunehmend bei einer weiteren Entfaltung ehemaliger DDR-Produktmarken. Eine gesamtdeutsche Normalität scheint mit einem Stereotypenwandel einherzugehen. Auf der anderen Seite sind Lohndifferenzen zwischen den westlichen und den östlichen Bundesländern immer noch existent, als müsse man weiterhin von einer deutsch-deutschen Wirtschaftswirklichkeit ausgehen. Und Fußball-Hooligans scheinen überwiegend in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen beheimatet zu sein.
Noch immer sind die östlichen Bundesländer für viele "Westdeutsche" eine terra incognita. Wie sehr dies für den Westen Deutschlands insgesamt gilt, belegen exemplarisch von dort stammende DDR-Historiker. Mit Verweis auf eine neue Fruchtbarkeit der DDR-Geschichtsschreibung für die deutschlandhistorische Forschung wird gar die Forderung nach einem doppelten Beitritt zur Bundesrepublik erhoben – auch wenn hier zunächst bloß historische Forschungshorizonte gemeint sind. Notwendig ist es jedoch, die angesichts sich nicht nach den alten politischen Vorzeichen wandelnden Realitäten im Verhältnis zwischen der ehemaligen DDR und der BRD wahrzunehmen. Bis heute werden die wissenschaftlichen Diskurse über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gesamtdeutschlands im Wesentlichen von altbundesrepublikanischen Protagonisten dominiert. Denn die reine Bevölkerungsmehrheit der westlichen Bundesländer reproduziert ihre Stereotype auf natürliche Weise über die Minderheitsgesellschaft des "Ostens".
Selbst wenn man über 20 Jahre nach der Einheit eine mittlerweile fast spannungslose, nur gelegentlich geschichts- und deutungspolitische Aufregung gegenüber der ehemaligen DDR konstatieren kann, bleibt offen, welche Bilder, gespeist aus welchen Stereotypen und Klischees, die Vorstellungen über die DDR von einst, über "Ostdeutschland" heute und über deren Zusammenspiel regeln. Entscheidungsprozesse sind jedoch abhängig von den vorbewussten Parametern, die von den Strukturmerkmalen und den eingeübten kommunikativen Mustern stereotyper Ordnungen geprägt werden. Generationen von Schülern und Studenten in "Ost" und "West", Ende der 1980er-Jahre oder nach der Wiedervereinigung geboren, formen mit ihrer Sozialisation, die Familie, Schule, Milieu und staatlich sanktionierter politisch-historischer Deutungswille ihnen mitgaben, ihre und somit die kollektive Identität als Deutsche. Dabei ist zu fragen, wie und auf welche Weise Einfluss auf die modifizierenden Ausbildungen der Identitätsverfassung genommen werden kann. Wie jedoch widerstehen auch interregionale, intranationale Stereotype einer historiodidaktischen Ausdeutung der nationalen Geschichte durch die professionellen Erinnerungsarbeiter?
Zunächst geht es jedoch um die allgemeine Frage, wie Bilder von Räumen und Menschen in der Imagination des Einzelnen entstehen und modifiziert werden, wenn ihm dieser Raum und dessen Bewohner unbekannt ist. Motiviert wurde diese Fragestellung durch das alltägliche Phänomen, dieser Imagination entsprechend eigene Handlungsmuster und antizipierte, potentielle Reaktionen auf das noch Unbekannte zu entwickeln. Reisende, Delegierte, aber auch Akteure in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden zum Teil täglich mit diesem Problem konfrontiert. Im Alltagsbewusstsein ist die Differenz zwischen den auf Vorurteilen und Klischees beruhenden imaginativen Bildern und der Wirklichkeit, die vor Ort erfahren werden kann, kommunikativ verankert, aber relativ unspezifisch. Bislang fehlt jedoch eine die anzunehmenden Veränderungsprozesse wissenschaftlich reflektierende Forschung.
Beispielhaft werden hier die Beziehungen der westlichen zu den östlichen Bundesländern zum Anlass genommen, diese generelle Fragestellung eingehender zu untersuchen. Konkret geht es im folgenden Beitrag daher zunächst um die Frage, wie sich der räumliche Wahrnehmungsprozess aus theoretischer Perspektive gestaltet und welche Einflussfaktoren dafür relevant sind. Der Erläuterung des theoretischen Konzepts und der Methodik folgt die Darstellung der Ergebnisse. Darauf basierend wird eine abschließende Zusammenfassung nebst Ausblick gegeben, um schlussendlich im Fazit neue Forschungsfragen aufzuwerfen.
2. Modelltheoretische Überlegungen
Im Zentrum der Untersuchung stehen Prozesse der Raumwahrnehmung und die Bedeutung von raumbezogenen Stereotypen. Für den Terminus "Raum" gibt es keine einheitliche Definition, sondern es existieren vielmehr verschiedene Raumverständnisse in Abhängigkeit von Fachdisziplin und Forschungsthematik. In der Geografie kann Raum als "eine Metapher verstanden werden, mit dem Zweck zu ordnen und Komplexität zu reduzieren".
Diese Metapher kann begrifflich mehr oder weniger stark präzisiert werden, sodass Bilder von Räumen existieren. Obschon Bilder an sich individuell, "spontan und vornehmlich assoziativ gebildet" werden, sind die Vorstellungen über unbekannte Räume durch die kollektive Erinnerung bzw. das Gedächtnis konnotiert. Die darin konstruierte kulturelle Identität eines Kollektivs besitzt eine integrale wie eine exklusive Funktion. Gemeinhin bezeichnet der Terminus "Sozialisation" den Raum wie auch die Genese jener identitären Integration des Einzelnen. In diesem theoretischen Sinne versteht das hier vorgestellte Modell diesen Raum als Sozialisationsraum. Vermittelt der Sozialisationsprozess dem Menschen die Normen und Werte, die eine Gruppe bzw. die Gesellschaft und ihre Institutionen zum Selbsterhalt benötigen, so gelten diese Normen auch für die Bewertung medialer Raumbilder und die sie beschreibenden Subtexte. Auf diese Weise werden einzelne Bilder entsprechend der historischen, politischen, sozialen oder auch ökonomischen Erwartung der Gesellschaft bewertet an den Einzelnen weitergereicht. Insgesamt wird der Begriff im wissenschaftlichen Diskurs sehr unterschiedlich verstanden und verwendet. Der Begriff "Bild" umfasst hierbei nicht bloß rein bildliche, sondern alle Arten bilderzeugender Vergegenwärtigung. Da das Bild aufgrund seiner Eingängigkeit als eine erste spontane, komplexe Sinneinheit definiert werden kann, ist es seinem Wesen nach häufig unpräzise und grobflächig. Das inhaltliche Kaleidoskop der Bilder erreicht dabei eine unendliche, ungeordnete Anzahl von Merkmalen.
Die Bilder formieren sich überdeckend und vernetzt, konstituieren eine stereotype Struktur. Der Begriff "Stereotyp" selbst kann allgemein als Wesensbestimmung durch Behelfsformeln definiert werden. Diese als in "mentale Bilder übersetzte Konstruktionen über die Wirklichkeit" können zwei Funktionen annehmen. Einerseits zur Systematisierung und Reduktion von Informationen im menschlichen Gehirn, andererseits zur Abgrenzung des eigenen Ich, der eigenen Gruppe gegenüber einer anderen. Da es sich um raumbezogene Stereotype handelt, soll im Folgenden der Begriff "Geostereotyp" verwendet werden. Dieser Begriff eignet sich auch deshalb, weil im allgemeinen die Wahrnehmung lokalisiert ist und soziale Güter oder Lebewesen häufig zusammen mit Orten verknüpft werden.
Zusammengefasst kann daher von einer Gesamtheit als Imagination gesprochen werden, denn gerade die beschreibende Unklarheit der Bilder und ihr nicht reguliertes Ineinandergreifen führen zu einer eigenen Qualität, sich die Objekte des Bildes mit Einbildungen ergänzt vorzustellen. Imagination ist also jene konstruierte Vorstellungseinheit, mit der Räume und deren Gegenstände strukturiert und geordnet werden. Dies hängt insbesondere von ihrer Funktion als Leit-, Orientierungs- und Absicherungsinstrument ab, in der die Geostereotype raumbezogen die ersten Deutungsmuster auslegen. Insofern umfasst der Begriff "Geostereotyp" letztlich die umfangreichen Vorgänge, die individuelle wie kollektive Erinnerung zu steuern, auszurichten und auch in Bewegung zu halten. Aufgrund dieser nahezu universellen Funktion wird im folgenden aus pragmatischen Erwägungen synonym auch die Bezeichnung "Stereotyp" für "Geostereotyp" verwandt.
Bei der Untersuchung der Dynamik des Raumwechsels spielt das Erlebnis, das heißt der psychisch-emotionale, bewusste Erfahrungsakt eine besondere Rolle. Letztlich beschreibt das Erlebnis damit gleichzeitig einen Konfliktvorgang, der aus dem Aufeinandertreffen der geostereotypen Imagination und der teils bewussten, teils unbewussten Rezeption von Teilwirklichkeiten des fremden Raumes resultiert. Der konfliktive Charakter des Erlebnisses motiviert zu einer (rationalen) Ver- und Überarbeitung des verstehbar gewordenen Vorstellungshaushaltes. Dieser Arbeitsprozess wird hier mit dem Begriff "Lektorat" eingeführt, da die prozessuale Arbeitsweise der Bildbearbeitung, -sortierung sowie der Korrektur der mit ihnen verbundenen Subtexte der verlagstechnischen Methodik gleicht. Anders als der bewusste Zugriff auf einen Text vollzieht sich allerdings in der Instanz "Lektorat" dieser Ablauf überwiegend spontan-reflektierend. Geostereotype, die trotz ihrer notwendig inhaltlichen Inkonsistenz abgeschlossene und für sich funktionierende "Meistererzählungen" (Meta-Geostereotype) waren, werden im Lektoratsprozess einer ersten Kontrolle auf ihre Stichhaltigkeit und einer anschließenden Korrektur unterzogen.
Aus der Prüfung und Überprüfung im Lektorat resultiert ein erweitertes Geostereotyp. Erweitert wird es um wahrgenommene Wirklichkeitsmerkmale, die zum einen imaginierte Stereotype falsifizieren, die zum anderen selbst wieder stereotypisiert werden. Damit wird die bislang als weitgehend wahr internalisierte "Meistererzählung" individualisiert. Allerdings gehorcht die Individualisierung durchaus kollektiven Normen, deren Wirkungsweise letztlich im Erlernen des Sozialisationsprozesses eingeübt wurde. Konkret heißt das, dass im Lektorat das Unpassende, Unvertraute, Fremde und das dem fremden Ort Eigentümliche mit der in der Imagination verknüpften identitären Sicherheit abgeglichen wird. Dieser Moment ist im Augenblick auf die Einzelbewertung beschränkt. Die internalisierten Normen und Werte, die ebenso für die Geostereotypbildung verantwortlich sind, ändern die individuellen Differenzerfahrungen ab, indem sie sie gruppenspezifisch anpassen. Dieser Vorgang entspricht – um im gewählten Begriffshorizont zu bleiben – einer redaktionellen Weiterbearbeitung der im Lektorat aufgetretenen Erlebniskonflikte. Zugleich werden die Informationen noch weiter auf ihren möglichen Kern hin reduziert bzw. verdichtet.
Ein vorläufiges Resümee konstituiert, das gewöhnlich nach der Rückkehr in den Sozialisationsraum die Erlebnisse reflektiert, aus dem erweiterten ein prä-post-reduziertes Geostereotyp. Prä-post-reduziert deshalb, da in dem Prozess der Resümeekonstitution unterschiedliche prüfende, konfligierende wie verifizierende Rückkopplungsabgleichungen mit den Instanzen "Imagination" und "Lektorat" sowie mit der Erinnerung an die Erlebnisse selbst eingebettet sind. Der Dynamik des Raumwechsels während der Ortsveränderungen steht also eine Dynamik gegenüber, die mit dem vermehrten Bewusstsein über eigene Geostereotype ebenso dessen Reflektion wie eine erhöhte Sensibilität für deren Funktion und Bedeutung einschließt.
3. Methodische Umsetzung
Dieses Modell wurde einer Panelbefragung zugrunde gelegt, an der Studierende der Universität zu Köln während einer viertägigen Exkursion im Juni 2011 nach Halle (Saale) und Leipzig teilnahmen. Um die Bedeutung und Funktion des Erlebnisses herauszustellen, wurden die schriftlichen Befragungen zu vier verschiedenen Zeitpunkten ausgeführt. Noch bevor gegenüber den späteren Teilnehmern die Exkursion thematisiert worden war, wurde die erste Befragung durchgeführt, in dem die Studierenden grundlegende Fragen zu den östlichen Bundesländern beantworten und Einschätzungen zu Halle und Leipzig abgeben sollten. Nach dem jeweils vollen Tag in Halle und Leipzig wurden Erlebnis und Lektorat abgefragt. Die abschließende vierte Befragung erfolgte nach der Rückkehr in Köln.
Letztlich resultiert eine Datenbasis mit insgesamt etwa 50 Fragen, die kodiert, erfasst und ausgewertet wurden. Durch die Kombination verschiedener und gleicher Fragen zu unterschiedlichen Befragungszeitpunkten ergeben sich aus dem Datensatz zahlreiche Auswertungsmöglichkeiten mit Analysen jeweils zu den vier Zeitpunkten, sowohl der Verknüpfung von Variablen zu den jeweiligen Zeitpunkten als auch der Möglichkeit, unterschiedliche Variablen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zueinander in Beziehungen zu setzen. Die Masse an gewonnenen Daten zwingt dazu, sie handhabbar zu reduzieren. Entlang des oben dargestellten Modells werden daher die Beobachtungen an den einzelnen dynamischen Sequenzen an ausgewählten Beispielen vorgestellt.
4. Annäherungen an Halle und Leipzig
4.1. Soziokulturelle Eigenschaften der Exkursionsteilnehmer
Die Exkursion war ein Aufeinandertreffen der beiden Teilgesellschaften Deutschlands in nuce. Daher stellt sich die Frage, welche Bilder des jetzigen deutschen Ostens dominieren dessen Imaginationen bei in "Westdeutschland" Aufgewachsenen? Werden und wie werden diese Bilder durch die realen Erlebnisse ausgetauscht, modifiziert, angepasst? Welche Konflikte lassen sich dabei beobachten und welche Auswirkungen haben diese auf die Vorstellungen, die spätere Entscheidungen bedingen werden?
Zur Vorfeldbefragung zählte die Erhebung biografischer Ausgangsdaten. So waren von den 36 Befragten 28 weiblich und acht männlich. Die Mehrheit der Teilnehmenden, je elf wurden 1985 oder 1986 geboren, acht Teilnehmende zwischen 1981 und 1984 und sechs im Jahr 1987. Befragt, wer bis zum Zeitpunkt der Exkursion noch nicht in den östlichen Bundesländern (außer Berlin) gewesen war, stellte sich heraus, dass dies auf elf Teilnehmende zutraf. 22 hingegen hatten zumindest bereits die östlichen Bundesländer besucht. Deren Ziele lagen vor allem in Thüringen und Sachsen, namentlich unter anderen Erfurt, Dresden, und Leipzig. Drei Teilnehmer hatten zuvor in den östlichen Bundesländern (Sachsen und Thüringen) gewohnt. Halle hatten bis dato drei und Leipzig zehn Probanden besucht. Sieben der 36 Teilnehmer haben verwandtschaftliche Beziehungen in die östlichen Bundesländer. Hinsichtlich der Konkretisierung des Sozialisationsraums wurde die eigene Herkunft von 23 Teilnehmern mit "Stadt/Urbaner Raum" und von 13 mit "Land/Peripherie" bezeichnet.
Unterdurchschnittlich scheint das Wissen über die östlichen Bundesländer insgesamt zu sein, denn 22 der 36 Teilnehmer schätzten ihr Vorwissen als "ich weiß wenig", vier mit "ich weiß kaum etwas" ein. Sechs gaben an, einiges zu wissen, je zwei sogar viel bzw. sehr viel. Das Vorwissen korrelierte jedoch nicht unbedingt mit der Motivation, an der Exkursion teilzunehmen. Diejenigen, die ihr Vorwissen als hoch einschätzten, waren zugleich motivierter. Allerdings waren die weniger Wissenden nicht weniger motiviert, ihr Informationsdefizit auszugleichen.
"Radio und TV" und "Tages- und Wochenzeitungen, Magazine" waren gefolgt von "Schule" die wichtigsten Quellen, sich über die östlichen Bundesländer zu informieren. Andere Medien wie Internetangebote oder klassische Quellen wie Atlanten oder Fachliteratur rangierten in der Liste weiter unten. Selbst die Universität als Bildungsort konnte für sich hierbei kein großes Aufklärungspotential bezeugen.
4.2. Vorab: Imaginationen und Einordnungen
Die Erstbefragung zu Halle lässt sich gut mit einer Bemerkung eines Studierenden zusammenfassen: "Man kennt den Namen, verbindet damit aber nicht viel". Folglich setzte sich das imaginierte Bild der Stadt aus stereotypen Zuschreibungen zu den östlichen Bundesländern wie "Rechtsradikalismus", "Arbeitslosigkeit", "komischer" bzw. "ostdeutscher Dialekt" und Gesten geografischer Hilfsverortung wie "Nähe zu Leipzig", "in den neuen Bundesländern", "im Osten" zusammen. Nur wenige gaben präzisere Bildmerkmale an, die der Stadt ein eigenwilligeres Gepräge als Universitäts- oder Industriestandort verleihen konnten. Nur einmal wurde überraschenderweise der Plattenbau als topografisches Merkmal genannt.
Das Bild von Leipzig hingegen schien bei den überwiegenden Teilnehmern positiver, gleichwohl aber inkonkret und teilweise widersprüchlich belegt. Neben der "Universität" und "Messe" glänzten vor allem Vorstellungen von einer beeindruckenden "Altstadt" und einer erwähnenswerten, nicht genau zu bezeichnenden "Kultur" hervor. Hier streuten offenbar residuale Erinnerungen an das Literaturwissen wie mediale Einflüsse aus dem Umfeld der Leipziger Buchmesse in den Bildkatalog hinein. Indifferent waren diese Zuschreibungen allemal; so wurden positiv klingende Attribute wie "schön" oder "alt" wahllos hinzusortiert. Anders als für Halle galten in der absoluten Mehrzahl die Angaben spezifischen Eigenarten der Stadt.
4.3. Vor Ort: Typen der Anverwandlung
Dem Modell folgend galt es sowohl in Halle als auch in Leipzig je separiert abzufragen, welchen Einfluss bzw. welche Wirkungen die vor Ort erfahrenen Erlebnisse auf die Struktur und die innere Ordnung der Stereotype nahmen. In diesem Kontext wurden die Probanden danach gefragt, was sie vor Ort jeweils als fremd, unpassend, typisch oder eigen empfanden. Dieses Frageschema diente dazu, den Horizont des sozialisierten
Bildvorrates mit einzubeziehen, um die Differenz durch das bzw. die Intensität des Erlebnisses deutlicher entwickeln zu können.
Zwei Typen der Erlebnisverarbeitung ließen sich dabei feststellen. Beim konstruktiven Typ, der vorzugsweise nach dem Halle-Besuch zu beobachten war, wirkten die situativen Erlebnisse im Wesentlichen korrigierend. Der analytische Gehalt des Prädikats "konstruktiv" wird dabei schwerpunktmäßig von austauschender Kreation vorhandener Stereotype bestimmt, die diese wirklichkeitsannähernd korrigiert. Offenbar ist bei diesem Typus vorauszusetzen, dass er dann auftritt, solange die Imaginationsinhalte über den Raum indifferent, aber in ihren Eigenschaften homogen strukturiert sind. Über Halle konnten die meisten, wie bereits erwähnt, vorab keine stadtspezifischen Bilder nennen. Die vorhandenen Stereotype waren überwiegend aus allgemeinen Bildern und Vorstellungen über die östlichen Bundesländer insgesamt konstituiert. Am Beispiel "Plattenbau" zeigte sich, da dieser im Vorfeld so gut wie nicht genannt wurde, dass die plötzlich bewusst gewordene Dimension der "Platte" in Halle quasi einen "Plattenbauschock" auslöste. Diesem Schockerlebnis entspricht folglich die starke Kontrastierung mit anderen Charakterbeobachtungen der Stadt wie eine auffallende "Leere" in den Straßen oder die "sanierten Altbauten" im Zentrum Halles. Diese Gegenüberstellung ging so weit, die Plattenbausiedlungen und den Altbaubestand antagonistisch voneinander abzugrenzen. Immer wieder wurde in den Antworten darauf abgehoben, dass sich der augenscheinliche Eindruck ablesen ließ, die Stadt setze sich aus zwei sich ausschließenden Räumen zusammen. Hinzu kam, dass trotz erkannter Modernisierungs- und Renovierungsbemühungen – insbesondere im Altbaubestand – Verfalls- und Niedergangsvorstellungen die Leseweise des Raumes dominierten. Die tatsächlich vorhandenen Leerstände und Bauruinen, vielfach eingestreut zwischen neugebaute oder sanierte Straßenzüge und Bebauungsbereiche, erhielten somit den Charakter eines attributiven Deutungsmerkmals für die gesamte Stadt. Als zugehörige "negative" Eigenart des konstruktiven Typus ist festzustellen, dass entgegen vorheriger Deutungen nachdrücklich jedwede Beschreibung der Stadt als Industrie-, ja als Wirtschaftsstandort entfiel. Vorab war noch vermutet worden, Industrie sei ein besonderes Merkmal der städtischen Gliederung.
Die zuvor indifferenten Imaginationen wurden revidiert, durch situativ konstruierte Stereotypmuster ersetzt. Grundsätzlich lässt sich also konstatieren, dass die empirischen Eindrücke besonders dann die inkonsistente Imagination ersetzen können, wenn mangels Vorwissen und Kenntnissen diese Imaginationen gering oder nicht emotional aufgeladen sind. Überraschende, weil unerwartete Eindrücke bewirken dann eine sehr starke Gefühlsunterlegung der neuen wahrgenommenen Phänomenabbildungen. An die Stelle bisher wirksamer Stereotype treten sodann teilweise aktuell entwickelte, deren disparates Zusammenspiel in sich die bildhaft gewordenen Gegensätze spiegeln.
Anders als für Halle schien für die Stadt Leipzig ein größtenteils in sich stimmiges Bild abrufbar zu sein. Tatsächlich aber war es ähnlich inkonsistent konstruiert. Allerdings war die emotionale Grundstimmung insgesamt und bezogen auf einzelne prägnante Merkmale weitaus positiver. Die kollektive Imagination kann also als relativ-divergent bezeichnet werden. Die Erlebnisse bewirkten jedoch keinen völligen Austausch von einzelnen Stereotypen, und somit wurde die Stereotypstruktur nicht neu geordnet. Daher kann von einem zweiten, einem korrektiven Typ der Erlebnisverarbeitung gesprochen werden. Auch die Leipziger Innenstadt ist beispielsweise mit einigen Plattenbauten aus DDR-Produktion durchsetzt. Aus den Befragungen ging jedoch hervor, dass sie so gut wie gar nicht bewusst wahrgenommen wurden. Stattdessen wurden gemäß der erwarteten Altstadtbebauung die Altbauten, das heißt im Wesentlichen Gebäude aus der Gründerzeitepoche extensiv hervorgehoben. Gesehen wurden die Plattenbauten zwar, doch wurden sie als "unpassend" für Leipzig ein- und damit aus dem Bilderkanon aussortiert. Insofern wurde der stereotype Informationsgehalt der Imagination inhaltlich nachkorrigiert, indem "Einbrüche des Ostens" wie deren typische Architekturmerkmale rezipiert, die Gesamtkomposition der Stereotype hingegen nicht restrukturiert wurde. Eine gewisse Einschränkung kann darin gesehen werden, dass die Fassaden vieler Leipziger Plattenbauten architektonisch dem älteren Bauumfeld angepasst worden waren. Hier, beim korrektiven Typ der Erlebnisverarbeitung, prägt nicht die Anpassung der Stereotype an die vorgefundene Wirklichkeit die Wahrnehmungsdynamik im Lektorat. Vielmehr wird die rezipierte Wirklichkeit an die stereotype Wirklichkeitserwartung und deren intrinsische bildliche Repräsentation angepasst. Die Korrekturen dienen weitgehend dazu, die Struktur der Stereotyprelationen affirmativ auszutarieren. Die emotionale Grundausstattung der Stereotype muss auch bei diesem Typ als zentraler Faktor angesehen werden.
Dass dies nicht nur für das genannte Beispiel der Plattenbauten gilt, zeigt sich bei beiden Typen an weiteren Stereotypverarbeitungen. Da einige städtische Orte wie der Bahnhof oder das Rathaus vor der Anreise bekannt und daneben mehr allgemeine Eigenschaften wie "schöne Altstadt", "Kultur und Kunst" oder gar "Charme" vorab attestiert worden waren, konkretisierten sich situativ diese Erwartungen und partielles Vorwissen.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass jenseits der Typologie stereotyper Modifikationen die Historizität beider Städte unterschiedlich beurteilt wurde. Bereits in der Vorab-Befragung stellte sich heraus, dass zum einen die Stadt Halle wenig historische Kontur in den Vorstellungen der Probanden besaß. Das Raum- bzw. Ortserlebnis änderte daran erstaunlich wenig. Nur einmal wurde Halle "viel Geschichtliches" attestiert. Und auch diese eher abstrakte Erwähnung deutet vielmehr auf eine geringe Bereitschaft hin, sich mit der historischen Dimension der Raum- und Stadtgeschichte auch bezüglich der eigenen Stereotype selbstkritisch auseinanderzusetzen. Was insgesamt zum anderen auch für Leipzig gilt, nur dass hier der Raum nach Bestätigungen der imaginierten historisch-kulturellen Identität gelesen und abgesucht wurde. Auch wenn das Repressionsmuseum "Runde Ecke" als geschichtstechnischer Erinnerungsort der Demonstrationsstadt von 1989 nach dem Besuch sehr präsent war, beschränkte sich das abgerufene Geschichtsbewusstsein über den Ort nicht allein auf die Spätphase der DDR. Weitere konkret benennbare Orte wurden daraus jedoch nicht abgerufen.
4.4. Hernach: Ordnung und Einfluss
Empirisch stellt sich die vorerst letzten Sequenz vorläufiger Stereotypbildung als schwierig dar. Grundsätzlich musste davon ausgegangen werden, dass in der abschließenden Urteilsbildung des Resümees unterschiedliche Rückkoppelungsprozesse wirksam werden. Nachweisen lassen sich Rückbezüge zur ausgehenden Imagination, zum Veränderungen auslösenden Ereignis sowie zum dieses verarbeitenden Prozess im Lektorat. Während auf die Imaginationsinhalte und den Lektoratsprozess Konflikte prüfend zurückgegriffen wird, wird versucht, mit dem Erlebnis die schöpferische Bildkonstruktion abzusichern, indem sie verifiziert wird.
Allerdings sind hier noch weitere Forschungen vonnöten, um zum Beispiel die qualitative Dimension einerseits im stereotypkonstitutiven Prozess zwischen Lektorat und Resümee zu untersuchen. Interdisziplinäre Forschungen von Historikern, Geografen und Psychologen könnten andererseits Aufschluss darüber geben, welche dynamischen Formen in welchen Zeitverläufen zu welchen "haltbaren", also konservierungsfähigen Bildkomplexen und damit neuen Imaginationen führen. Das hier vorgestellte Modell und die mit unserer Befragung gewonnen Daten lassen vorerst nur einige substantielle Aussagen über die grundlegenden Muster innerhalb der Rückkoppelungsprozesse zu. Sie werden im Folgenden systematisch vorgestellt, wobei die Reihenfolge der Darstellung keine Chronologie der Abläufe referiert.
Vergleicht man die Ergebnisse der Nachbefragung (Resümee) mit denen der vor Ort (Lektorat) aufgenommenen Antworten, so fällt auf, dass die reduktive Verarbeitung von Bild- und Sinnmerkmalen aus dem Erlebniskonflikt weitergeführt wird. Diese Merkmale werden einerseits weiter simplifiziert – Negatives wird kontrastiver hervorgehoben, Positives stärker auf den zentralen Affekt reduziert –; andererseits darf augenscheinlich eine noch unbestimmte Abstraktionsebene nicht verlassen werden, weshalb ursprünglich deutlich benannte Merkmale aus dem stereotypen Bildschatz ausgesondert werden. Die damit erzeugte höhere Verdichtung des Bildschatzes wird erzeugt, indem die Merkmale so ausgewählt werden, dass sie den den Bildern unterlegten Subtext unterstreichen. Die einmal gewonnene emotionale Stimmung bleibt allerdings weiterhin der Leitton auch im Resümee.
Indem die Mehrzahl der Probanden zum Beispiel nach der Rückkehr Halle als "leer" bzw. "leerstehend", mit "nichts los", "wenig Menschen auf der Straße" beschrieb, wurde insbesondere die "bedrückende Stimmung", die vor Ort empfunden wurde, extensiv andere frühere Erfahrungen überdeckend wiedergegeben. Zu dem Befund passt auch, dass die Anzahl der genannten Merkmale stark abnahm. So wurden für Halle vorwiegend "Universität", "Altbauten", "Plattenbauten" und "Halle-Neustadt" aufgezählt. Affirmative Eigenschaften, wie sie in Halle selbst geäußert wurden, wie "viele Grünflächen" oder "Geschäfte" im Sinne guter Einkaufsmöglichkeiten, verschwanden als Erinnerungsmodule.
Auch für Leipzig reduzierten sich die genannten Erinnerungsbausteine weitgehend auf "Universität", "wunderschöne Innenstadt", "sehr schöne Altbauten", "Passagen", "Bahnhof" und en passant die MfS-Gedenkstätte "Runde Ecke". Insbesondere die historische Bedeutung Leipzigs wurde nachträglich betont, ohne diese neben "Faust", "Stasi" oder "Montagsdemonstrationen" tiefer auszuloten. Allerdings wurde der von persönlichen DDR-/MfS-Erfahrungen gefärbten Stadtführung durch Leipzig eine lang nachwirkende Bedeutung beigemessen, die ebenso Einfluss auf die eingeschätzte Historizität der Stadt nahm. Wenngleich insgesamt geringer als für Halle wurden dagegen eher touristische Orte wie "Cafés" und "Restaurants" bzw. Eindrücke vom studentischen, alternativen Leben aus dem Bilderschatz des Lektorats im Resümee aussortiert. Entsprechend geringer war dann der Differenzierungsgrad innerhalb des resümierten Stadtbildes. Während also Halle mehrheitlich in mit düsteren Farben gezeichneten Gegensätzen von Modernisierung und Verfall erinnert wurde, zeichnete Leipzig sich durch eine lebhafte, noch immer enthusiastische Überzeichnung eines prosperierenden Aufstrebens aus.
Zu anderen Ergebnissen gelangt man, stellt man die Daten der Endbefragung (Resümee) denen der Ersterhebung (Imagination) gegenüber. Das Prüfen und konfligierende Abgleichen zwischen beiden Zeitebenen förderte insgesamt vier Konfliktweisen zutage, die die Eigenart dieser Beziehung beschreiben lassen.
Erstens sind mit dem Auslöschen vorher erwarteter bzw. assoziierter stereotyper Merkmale wie "Rechtsradikale", "Industrie" (für Halle) und "Sport" und "Soko Leipzig" und anderes Fernsehwissen (für Leipzig) eliminatorische Konflikte auszumachen. Diese werden zweitens ergänzt durch Konkretionskonflikte. Das heißt unter anderem, dass anfänglich allgemeine Beschreibungsbegriffe wie "Kultur" nun zu "Faust", "Goethe", "Bach" (für Leipzig) oder "Händel" (für Halle) expliziert wurden. Dass drittens abschließend vorher bildlosere Begriffe wie "Arbeitslosigkeit" in konkrete Bilder – "günstige Geschäfte" oder "menschenleere Straßen" – performiert wurden, greift in diese Konkretion ein. Darüber hinaus lassen sich viertens auch Bestätigungskonflikte beobachten, wenn im Rückgriff ursprüngliches Nichtwissen reflektiert wird. Das bewusst gewordene Differenzwissen bewirkt die Einsicht in die grundlegende Beschreibungsstruktur anhand der konkreten Stereotype. Das Irrige und Fehlerhafte in den zugrunde gelegten Vorstellungen wird so zu einem Gewinn aus dem konfliktären Lernen empirischer Gegensätze zwischen alten und neuen Stereotypen. Zudem werden affirmative und pejorative Imaginationsstimmungen kaum umgewertet, sondern zu bestätigen gesucht.
Ein Verifikationsprozess kennzeichnet die interdependente Beziehung zwischen Resümee und Erlebnis. Verifiziert werden sollen im besonderen Maße die affirmativ aufgeladenen Erinnerungen. Das heißt, das Erlebnis als Ereignis wird auf seine Stichhaltigkeit hin abgefragt, um die konservatorische Entscheidung, welche Bildmerkmale erinnerungstopisch tradiert werden, abzusichern. Aus emotionaler Sicht konnte insgesamt ein Drang zur memorialen Harmonisierung festgestellt werden. Angestrebt werden offensichtlich konsistente, bei aller vorgefundenen Widersprüchlichkeit möglichst widerspruchsfreie Erinnerungskomplexe. Insofern ist der Verifikationsprozess ein notwendig vorausgehender reinigender Akt, der selektiv für die angestrebte memoriale Harmonisierung prämiert. Wirksam ist hierbei das Erlebnis, wenn es mit dem Gefühl der Überraschung auftritt. Daher wurde Halle fast durchgängig von allen Befragten mit den unerwarteten "leeren Straßen" und "leeren Häusern" auf der einen, aber vor allem mit dem ebenso unerwarteten Altbaubestand auf der anderen Seite assoziiert. Und so wird das Altbauten-Ensemble in Halle gleichsam von den dominanten, negativ bewerteten Eindrücken der "Platte" abgesetzt und mit dieser hervorgehoben parallelisiert. Es kann also eine in sich stimmig wirkende, positiv besetzte Bildpause aus der Erinnerung abgerufen werden.
Für Leipzig gilt dies ebenso, wenn wie vor der Exkursion die Schönheiten der Altbauten hervorgehoben und somit die affirmativen Emotionen insgesamt abgesichert werden. Dieser affirmative Charakter, der in der Harmonisierung erscheint, kennzeichnet die Grundbedingung, sich die Erinnerung anzueignen. Damit zusammenhängend wird unterstrichen, dass die emotionale Stimmung, die mit den erinnerten stereotypen Bildern fortwährend verbunden wird, ihrerseits maßgeblich den Verifikationsprozess beeinflusst (zum Beispiel "schöne Altbauten", "hübsche Innenstadt", "menschenleere Innenstadt"). Die materialisierte Verfestigung der affirmativen Tonlage erfolgt durch besonders markant erscheinende Bildpunkte. Für Leipzig etwa blieben die zentralen Erscheinungen des "Bahnhofs" und der "Passagen" zurück. Allerdings gilt dies für Halle nicht so eindeutig, da hier der Kontrast zwischen saniertem "Altbau" und maroder "Platte", also zwischen "Modernität" und "Verfall" beide Bildpunkte gegeneinander ausspielend benötigt. Bemerkenswert ist letztlich, dass die Bildanteile, ob topischer (Häuser, Plätze usw.) oder informationeller Art (Prädikate, Werte, Normen), gleichwertig benutzt werden. Diese qualitative Gleichwertigkeit bedingt offenbar die strukturelle Stabilität und Transformierbarkeit der Geostereotype.
Abschließend erscheint es fast überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die hier separat analysierten Prozesse simultan ablaufen und auch ineinandergreifen. Gewisse Unschärfen, die auch der noch geringen empirischen Forschungstiefe geschuldet sind, müssen durch weitere Untersuchungen noch korrigiert werden.
5. Fazit und neue Forschungsfragen
Schon Hans Rothfels wies in seinem die Zeitgeschichte als eigenständige Disziplin begründenden Aufsatz auf die "leeren Räume" hin, in denen sich "Legenden" und mithin auch Mythen einnisten könnten. Die Zeitgeschichte müsse es daher als ihre ureigenste Aufgabe ansehen, dies zu verhindern. Wenngleich Rothfels den Raum hier noch als eine metaphorische Kategorie begriff, so zeigt sich bereits in der erklärenden Deutlichkeit des Bildes zugleich dessen analytische Potenz. Denn letztlich sind Legenden und Mythen verwandt mit den (Geo-)Stereotypen. Bislang allerdings maß die Geschichtswissenschaft dem Raum als analytische Kategorie relativ wenig Bedeutung bei. Zwar spricht Konrad Jarausch davon, dass "Gedenkstätten als authentische Orte" "effektiver in der Erzeugung von Betroffenheit" seien als "nachempfundene Vermittlung", doch steht hier eher die emotional induzierte moralisch-aufklärerische Funktion der Geschichte im Mittelpunkt. Doch selbst mit dem von Pierre Nora entliehenem Konzept der "lieu de mémoire", das unlängst auch für die ehemalige DDR wirksam gemacht wurde, ist der komplexe zeitliche, soziale und geografische Raum und seine Wahrnehmung nur bedingt verbunden. Und durchaus wird die Virulenz erkannt, dass "die Integration der Erfahrung des 'Anderen', das heißt der Erfahrung sozialer Gruppen, die lange eine Rolle als Außenseiter, Gegner oder Feinde in ganz spezifischen nationalen und ideologischen Kontexten gespielt hatten." Vor dem Hintergrund fortschreitender "Individualisierung und Medialisierung" von "Vergemeinschaftungsprozessen in der Nachmoderne" muss nach dem Zusammenhängen von Raum, Bild und der Qualität wie nach Wirksamkeit dieser kollektiv tradierenden Auffassungen gefragt werden.
Das gilt im engeren Sinne auch für den Umgang mit der Geschichte der DDR. Das gilt im weiteren für den noch unabgeschlossenen Prozess, einen mehrheitstauglichen Begründungsmythos für das geeinte Deutschland zu finden, der die historisch-räumlichen gewachsenen Besonderheiten der östlichen Bundesländer mit einschließt. Das gilt schließlich als grundlegende Forderung für die Zeitgeschichte schlechthin, sich methodisch zu reflektieren und interdisziplinär zu erneuern.
Die hier vorgestellte Fallstudie deckt auf, wie mentale Bilder unbekannter Räume – verwoben in den individuellen wie kollektiven Bildhaushalt – emotional und gleichzeitig verständig rezipiert werden, und verweist auf die dauerhafte Macht der Geostereotype. Denn grundsätzlich werden sie im umfassenden Sinne nie aufgelöst, sie werden lediglich verändert, angepasst. Damit behalten sie durchweg ihre handlungsleitende Funktion. Ferner wurde evident, dass Geostereotype zwar neu gebildet werden können, im Wesentlichen dann, wenn die Imaginations- nicht den Erlebnisinhalten entsprechen. Selbst das Konflikte auslösende Erlebnis, die Konfrontation von Imagination und fassbarer Wirklichkeit, löst nicht zwingend Veränderungen des Stereotyps aus. Und wenn Änderungen ausgelöst werden, ist a priori eigentlich nicht klar, in welche Richtung sie sich entwickeln und wie stark sie wirken. Der Einfluss von außen, also Versuche, die stereotype Bildgestaltung zu steuern, bleiben somit grundsätzlich kontingent.
Im Hinblick auf die "Problematik einer polarisierenden Stereotypisierung von Erinnerung und Wissenschaft" muss also der mentalen raum-bildlichen Vergegenwärtigung konzeptionell wie inhaltlich mehr Beachtung geschenkt werden. Damit werden Fragen zur Art nachhaltiger historisch-pädagogischer Wissensvermittlung, zur Problematik des Raumwechsels und die mit ihr verknüpfte Wahrnehmungsdynamik aufgeworfen, wie sie in der Gedenkstättenarbeit, in Schule und Unterricht beantwortet werden müssen. Dies trifft etwa methodisch auf die an wechselnde Rahmenbedingungen gekoppelten geschichtspolitischen Ausdeutungen über den Umgang mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu. So lassen sich beispielsweise bei den konkreten Orten der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Terrorpolitik neue, die zunehmende zeitliche Distanz – inklusive der versiegenden Quelle der Zeitzeugen – berücksichtigende mediale Lehr- und Lernangebote entwickeln. Drastischer noch ist dies bei Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu berücksichtigen. Die musealen wie die wissenschaftlichen Institutionen konkurrieren hier mit noch sehr starken rezenten privat-familiären Erinnerungen. In einer gesamtdeutschen Hinsicht müssen sie die in größere Raumkomplexe eingebundenen Überreste der DDR in die medialen Konzeptionen mit einbeziehen. Denn grundsätzlich kommt insbesondere den Medien in der Reproduktion von Stereotypen eine zentrale Rolle zu. Die Ergebnisse der vorgestellten Panel-Befragung verweisen insgesamt auf die Notwendigkeit, in zeitlich dichten Zyklen aufzuklären und darzustellen. Um der ständigen Gefahr einer stereotypen Isolation des Einzelnen vorzubeugen, empfehlen sich vor allem interdisziplinär und multimethodisch strukturierte Forschungen und didaktische Konzepte.
Über die vermittlungspraktische Ebene hinaus, ist endlich die Analyse von (auch eigener) Raumbildern, eines visuellen Gedächtnisses für den Historiker ein Zugewinn. Vermag doch überdies die Einbeziehung fundierter Kenntnisse über die soziale, topische und mentale Raumwahrnehmung die Wirkungen von Vor-Ort-Erfahrungen auf die individuellen Entscheidungsprozesse zu entschlüsseln. Hier öffnet sich erneut die Frage, wie sich persönliche Freiheit, intrinsische Determinismen, Propaganda und visuell-haptische Beeinflussung zueinander verhalten. Mit dem Wissen um die vorurteilsgeladenen, eben nicht "leeren Räume" (Rothfels) können sie für die Legenden und Mythen, die nicht Eingang in die neuen Meistererzählungen erhalten sollen, geschlossen werden.
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M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Universität zu Köln.
Dipl.-Geogr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wirtschafts- und Sozialgeographischen Institut, Universität zu Köln.
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