DDR-Näh- und Handstrickmaschinen in Ungarn
Die zunächst spaßig wirkende Frage, ob DDR-Näh- und Handstrickmaschinen im "Bruderland" Ungarn in gewisser Weise der starren Politik der DDR-Führung entgegen wirkten, deren Ergebnisse teilweise zunichte machten, obwohl oder gerade weil sie Exportschlager waren, ist nicht leicht zu beantworten. Grund für diese unerwartete Funktion von Haushaltsgeräten mit Namen wie "Naumann", "Singer" und "Veritas" waren obskurerweise Art, Schnitt- oder Strickmuster der meisten Textilien, die in ungarischer Heimarbeit auf ihnen entstanden. Die Maschinen waren im In- und Ausland gefragt, fanden ihren Absatz seit Anfang der 60er-Jahre bis zum Ende der DDR in ca. 30 Ländern, so auch im westlichen Teil Europas, unter anderem in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Belgien.
Der Umstand, dass die auf ihnen entstandene Strick- und Nähware insbesondere bei Ungarn-Urlaubern aus der DDR reißenden Absatz fand, verstärkte die genannte Tendenz, unterlief also die Konsumpolitik des SED-Staates bzw. kompensierte deren Defizite. Nicht vorhergesehen oder gar geplant war auch der Weg, auf dem die Maschinen nach Ungarn gelangten. Eine Erklärung für die ungewollt politische Wirkung von Näh- und Strickmaschinen in "Freundesland" gibt die Aufzählung einiger teils systembedingter Umstände, die an heute skurril erscheinende politische und wirtschaftliche Zustände in den Planwirtschaften der Ostblockländer erinnert, speziell an Verhältnisse in Ungarn und der DDR von Mitte der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre sowie die Gestaltung der beiderseitigen Beziehungen zueinander:
die allgemeine Unfähigkeit von Modeinstituten und der Bekleidungsindustrie der DDR sowie Ungarns, schnell auf Modetrends zu reagieren,
das Einfuhrverbot von westlichen Druckerzeugnissen einschließlich Modezeitschriften, das in Ungarn lockerer gehandhabt wurde als in der DDR,
der Druck auf ungarische Bürger, mittels Nebenjobs und Heimarbeit ihren Lebensunterhalt aufzubessern,
die überhöhten Preise für Näh- und Handstrickmaschinen im ungarischen Einzelhandel,
die Beschäftigung ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR,
die Anziehungskraft Ungarns als Reiseland für DDR-Bürger.
Während mit den ersten vier Punkten politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen des Alltags in den Ostblockländern DDR und Ungarn hier lediglich erwähnt bleiben sollen, erfordert die Thematik es, eine größere Aufmerksamkeit auf die beiden letztgenannten Punkte zu legen. In deren Darstellung rücken Auswirkungen einer durch die politischen Eliten der DDR und Ungarns als harmlos eingeschätzten Annäherung beider Völker in den Vordergrund, wie sie durch alltägliche Arbeitskontakte oder vermehrte Urlaubsreisen ins Partnerland zum Ausdruck kommen. Das Regierungsabkommen aus dem Jahre 1967 und der wachsende Touristenstrom aus der DDR nach Ungarn sollten schon damals Folgen zeitigen, mit denen wohl keine der vertragsschließenden Seiten zu diesem Zeitpunkt gerechnet hatte.
Die Regierungsabkommen
Nach ihrer Bewerbung und einem Auswahlverfahren waren ungarische Vertragsarbeiter von Oktober 1967 bis Ende 1983 in der DDR tätig. Ihre Beschäftigung erfolgte nach der Maßgabe eines bilateralen Regierungsabkommens vom Mai 1967. Am 7. Mai 1973 erhielt das Abkommen eine Neuauflage mit einer Geltungsdauer von sieben Jahren , die der Tatsache Rechnung trug, dass von nun an auch Facharbeiter aus der DDR in ungarischen Betrieben arbeiteten, wenn auch in weit geringerem Maße.
Abkommen zur Ausbildung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte schloss die DDR nach dem Pilotvertrag mit Ungarn mit folgenden Ländern ab: Polen (1971), Algerien (1974), Kuba (1978), Mosambik (1979), Vietnam (1973/1980), der Mongolei (1982), Angola (1985) und China (1986). 1981 hielten sich insgesamt 24.000 ausländische Vertragsarbeiter in der DDR auf. 1989 waren es 94.000, darunter 60.000 Vietnamesen. Sieht man von den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte ab, so lebten nur wenige Ausländer in der DDR. Ihre Zahl von rund 190.000 – ohne Studierende aus dem Ausland – im Jahre 1989 entsprach nur 1,2 Prozent der Wohnbevölkerung. In der Bundesrepublik Deutschland betrug der Ausländeranteil im selben Jahr 7,7 Prozent. 1989 bildeten Vietnamesen mit 55.000 Personen die stärkste Gruppe von Ausländern in der DDR, ihne folgten Polen mit 38.000 und Ungarn sowie Kubaner mit jeweils 11.000 Personen. Zehn Jahre zuvor waren die beiden größten Ausländergruppen laut einer Jahresanalyse der für Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilung (HA) II des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS), Arbeitsgruppe (AG) Polen mit 30.312 Personen, gefolgt von den Ungarn mit 15.338 Personen von insgesamt 83.815 "Bürgern ausgewählter Länder" (ohne Diplomaten), die sich längerfristig in der DDR aufhielten. In der Bundesrepublik dagegen hielten sich derselben Analyse zufolge zur gleichen Zeit ca. 3.950.000 Ausländer längerfristig auf.
Die DDR linderte mit dem Einsatz ausländischer Vertragsarbeiter ihren Arbeitskräftemangel und sicherte auf diesem Wege die Planerfüllung in der Wirtschaft. Der Vorteil für die Partnerländer bestand darin, dass die Jugendlichen eine Berufsausbildung erhielten und ihre Beschäftigung in der DDR den Arbeitskräfteüberschuss daheim milderte. Zugleich erhöhte sich der Lebensstandard der Vertragsarbeiter, denn die Löhne in der DDR waren bedeutend höher als in den Partnerländern.
Vertragsarbeiter aus Polen und Ungarn im Vergleich
Das Regierungsabkommen mit Ungarn über die Beschäftigung von "Vertragsarbeitern" diente als Muster für gleichartige Abkommen mit den bereits genannten Ländern. Als zweites folgte vier Jahre später das nach langwierigen Verhandlungen im Mai 1971 in Warschau unterzeichnete Abkommen zwischen dem staatlichen Amt für Arbeit und Löhne der DDR und dem Komitee für Arbeit und Löhne der Volksrepublik Polen. Die Beschäftigungsdauer polnischer Vertragsarbeiter betrug wie die der aus Ungarn in der Regel zwei bis drei Jahre. Ungarische Vertragsarbeiter verlängerten ihren Arbeitsaufenthalt mitunter auf fünf bis acht Jahre. Polnische Pendler hatten aber bereits zwei Jahre vor dem Abkommen mit Ungarn unbefristete Arbeitsverträge erhalten. Es pendelten ganz überwiegend Frauen über Oder und Neiße, die "bis dato keinen Beruf erlernt hatten und in der DDR qualifiziert werden sollten". Die ersten 75 Pendlerinnen arbeiteten ab 1965 in einem Pilotprojekt in grenznahen Betrieben der DDR. Das Pendlerabkommen mit Polen vom März 1966 war somit das erste Abkommen über die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Betrieben der DDR überhaupt.
In der Folge betrug die Zahl in der DDR beschäftigter polnischer Pendlerinnen vom Anfang der 70er-Jahre bis 1989/90 relativ konstant 3.000–4.000. Eine kostenträchtige Bereitstellung von Wohnraum, Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen erübrigte sich bei der Einstellung polnischer Pendlerinnen. Doch es gab Ausnahmen: Da für Pendlerinnen des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder) kaum eine Möglichkeit bestand, Betriebskindergärten in ihren Herkunftsorten zu nutzen, richtete das Werk auf polnischem Gebiet einen eigenen Kindergarten ein. Auch fuhren polnische Kinder in Betriebskinderferienlager in die DDR.
Neben den Pendlerinnen wurden im Rahmen von gesonderten Außenhandelsverträgen jährlich 10.000–30.000 polnische Fachkräfte für Bau- und Montagearbeiten in die DDR entsandt. Seit dem Regierungsabkommen über Vertragsarbeiter aus Polen vom Mai 1971 waren junge polnische Arbeitskräfte auch aus entfernteren Gebieten Polens an verschiedenen Industriebetrieben der DDR nicht nur in Grenznähe beschäftigt. Ihr Einsatz erfolgte auf Wunsch der polnischen Regierung vorrangig in Betrieben, die in der Volksrepublik benötigte Waren herstellten oder in denen sich die Vertragsarbeiter für einen Beruf qualifizieren konnten, der in Polen gefragt war. Jährlich wurden bis zum Ende der DDR 6.000–8.000 Vertragsarbeiter entsandt. Sie waren wie die Ungarn getrennt nach Geschlecht in sogenannten "Arbeiterwohnheimen" untergebracht. In der Regel waren das Neubauwohnblocks innerhalb einer Wohnsiedlung. "Die Betriebe der DDR hatten den polnischen Werktätigen die Inanspruchnahme der kulturellen, sportlichen, und sozialen Einrichtungen sowie der Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen des Betriebes zu ermöglichen." Ein dauerhafter Verbleib polnischer Arbeitskräfte in der DDR, etwa nach Eheschließungen, war von Seiten des polnischen Staates nicht gewünscht und blieb auch eine Ausnahme. Zwar enthielt auch das Abkommen mit Ungarn in Artikel 4 und das Folgeabkommen in Artikel 7 einen Passus, wonach – abgesehen von "besonders zu würdigenden Fällen" – eine Übersiedlung ungarischer Arbeiter in die DDR nicht genehmigt werde, doch führte eine beträchtliche Anzahl von Eheschließungen zur Übersiedlung in die DDR, auch wenn viele Ungarn ihre Staatsbürgerschaft behielten.
Die Verhandlungen über die Beschäftigung polnischer Vertragsarbeiter verliefen aufgrund des historisch belasteten Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen kompliziert. Assoziationen zur Zwangs- und Saisonarbeit auf deutschem Boden kamen auf polnischer Seite ins Spiel. Diese trug somit aus "Prestigegründen" eine Bitte vor, die als Bedingung angesehen wurde: Publiziert werden sollte über den Einsatz polnischer Arbeitskräfte in der DDR weder in den Medien der DDR noch in denen der Volksrepublik Polen. Dagegen berichteten die Medien der DDR und Ungarns ab 1967 ausführlich über den Einsatz ungarischer Vertragsarbeiter. Das Abkommen mit Polen wurde wegen der oben genannten polnischen Bedenken nicht, wie bei zwischenstaatlichen Abkommen üblich, von der Volkskammer der DDR und vom polnischen Sejm in Kraft gesetzt, sondern durch die Vorsitzenden der Ministerräte beider Länder.
Art und Umfang der Beschäftigung
ungarischer Vertragsarbeiter
Die Zahl ungarischer Vertragsarbeiter betrug bis Mitte der 70er-Jahre ca. das Anderthalbfache der polnischen (nicht mitgerechnet die polnischen Pendler). Sie lag Ende der 60er-Jahre bei 12.000, 1975 bei 10.400. 8.000 davon waren auf der Grundlage des Regierungsabkommens vom 7. Mai 1973 entsandt. Die übrigen 2.400 hielten sich auf der Basis von Montage- und Dienstleistungsverträgen zeitweilig in der DDR auf. Sie galten bis Ende der 70er-Jahre nach den zeitweilig in der DDR beschäftigten polnischen Staatsbürgern als zweitstärkste Gruppe der dort tätigen Ausländer.
Seit den 70er-Jahren nahm der Arbeitskräfteüberschuss in Ungarn und die Zahl ungarischer Vertragsarbeiter in der DDR permanent ab. Weitere geburtenstarke Jahrgänge waren in Ungarn nicht zu erwarten, und die Nichteinführung des ab 1968 geplanten "neuen wirtschaftlichen Mechanismus" verhinderte die Freisetzung von Arbeitkräften in größerem Ausmaß. So wurde "zur Durchführung des Abkommens anlässlich der XIV. Tagung des Gemeinsamen Wirtschaftsausschusses DDR/UVR [Ungarische Volksrepublik] im Jahre 1975 vereinbart, dass bis 1980 jährlich 2.000 bis 3.000 ungarische Jugendliche in sozialistischen Betrieben der DDR und 200 DDR-Facharbeiter in sozialistischen Betrieben der UVR eingesetzt werden." 1978 waren 4.000 ungarische Jugendliche in 45 Betrieben der DDR und 330 Facharbeiter aus der DDR in sechs Betrieben in Ungarn tätig. 1979 sank die Zahl der ungarischen Vertragsarbeiter auf 1.155 und 1980 auf 895.
Jährlich unterzeichneten Vertreter des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne beim Ministerrat der DDR und des Ministeriums für Arbeit der UVR "Protokolle über die Durchführung des Regierungsabkommens". Darin vereinbarten beide Seiten die Anzahl von Facharbeitern und Anlernkräften in Berufen wie Zerspaner, Dreher, Schleifer, Fräser, Hobler, Schlosser, Maschinenbauer, Elektromonteur, Elektromechaniker, Mechaniker, Metallurg, Schweißer oder Textilarbeiter. Die Festlegung im Protokoll für das Jahr 1980 über die Entsendung von lediglich 895 ungarischen Vertragsarbeitern in die DDR erfolgte auf Wunsch der ungarischen Regierung aufgrund der industriellen und demografischen Entwicklung. Im Gegenzug entsandte die DDR Arbeitskräfte wie festgelegt in Höhe von zehn Prozent der ungarischen Delegierungsgröße zur Arbeitsaufnahme nach Ungarn, das waren 80 Facharbeiter. Einsatzbetriebe, Anzahl und berufliche Aufgliederung pro Betrieb wurden durch die Bevollmächtigten beider Regierungen gesondert festgelegt.
Das Abkommen lief auf ungarischen Wunsch für die Zeit nach 1980 aus, sodass die letzten Vertragsarbeiter 1983 nach Ungarn zurückkehrten. Drei Jahre zuvor hatte das Budapester Arbeitsministerium Verhandlungen über den Einsatz kubanischer Arbeitskräfte in Ungarn aufgenommen und sich beim Staatsekretariat für Arbeit und Löhne der DDR über die Erfahrungen beim Einsatz kubanischer Vertragsarbeiter in der DDR seit 1978 erkundigt.
Von 1967 bis 1978 stellten insgesamt 36.000 Jugendliche aus Ungarn in 150 DDR-Betrieben das Gros der ungarischen Vertragsarbeiter in der DDR. Im Gegenzug waren von 1974 bis 1978 in ungarischen Betrieben 760 Jugendliche aus der DDR tätig. Diese ließ das MfS durch eine Gruppe von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) unter dem Führungs-IM (FIM) "Elbe" überwachen. Der FIM "Elbe" stand unter Anleitung der Hauptabteilung (HA) XVIII/4, zuständig für die Sicherung der zentralen Planungs- und Finanzorgane, Statistik/Datenverarbeitung, Materialwirtschaft, Arbeit und Berufsbildung, und der für Spionageabwehr zuständigen HA II/Operativgruppe Budapest. Seit April 1975 erfolgte eine operative Zusammenarbeit zwischen der HA XVIII des MfS und der Abteilung 7 des Spionageabwehrbereichs des ungarischen Staatssicherheitsdienstes, wie aus einem Vermerk der HA XVIII des MfS von 1981 hervorgeht. Der ungarische Staatssicherheitsdienst war ebenso wie der Auslandsgeheimdienst formell dem ungarischen Ministerium des Innern (MdI) unterstellt.
Das IM-Netz stellte vor allem illegale Geldausfuhr aus der DDR sowie illegalen Umtausch in Budapest fest, "Kontakthandlungen" zu Bürgern aus dem westlichen Ausland und "Konsumtion westlicher Zeitschriften und deren illegale Einfuhr in die DDR". Für Unzufriedenheit sorgten IM-Berichten zufolge Preiserhöhungen in Ungarn, die nur zum Teil durch Ausgleichszahlungen aufgefangen wurden. Junge DDR-Facharbeiter trugen sich mit dem Gedanken, ihren Einsatz in Ungarn vorzeitig zu beenden, falls es keine Lohnerhöhungen geben sollte. Weniger befriedigend befand das MfS die Zusammenarbeit mit dem ungarischen Geheimdienst bei der Postkontrolle von Sendungen aus dem westlichen Ausland an Facharbeiter aus der DDR. Obwohl das ungarische "Bruderorgan" um die Fortführung der Postkontrollen gebeten worden war, hatte die HA XVIII des MfS seit anderthalb Jahren keine Ergebnisse mehr erhalten.
Bis zum Auslaufen des Abkommens 1983 hielten sich schätzungsweise insgesamt ca. 40–45.000 ungarische Vertragsarbeiter in der DDR auf. Zur Zeit der Wiedervereinigung lebten in der DDR mehrere Tausend ehemalige Vertragsarbeiter, die mit Ostdeutschen verheiratet waren. Ihre Zahl dürfte nach Schätzungen des Bundes ungarischer Organisationen in Deutschland (BUOD) heute etwa bei 10.000 liegen. Der BUOD bezeichnet die in Deutschland verbliebenen ehemaligen Vertragsarbeiter als den bedeutendsten Teil der ungarischen Diaspora nach 1956.
Zusammenarbeit der Staatssicherheitsdienste
Laut Notiz des MfS fand am 9. und 10. Juli 1975 in Berlin eine Beratung der Staatssicherheitsorgane der DDR und Ungarns "über die Zusammenarbeit bei der politisch-operativen Absicherung der Arbeitskräftekooperation DDR/UVR" statt. Die Delegationen wurden geleitet von Major Szombat, MdI Ungarns, und Oberstleutnant Günter Wurm, HA XVIII (Sicherung der Volkswirtschaft) des MfS, der übrigens Ende 1981 für den schwersten Korruptionsfall in der Geschichte der DDR zur Verantwortung gezogen wurde. An der Beratung nahmen unter anderem zwei Mitarbeiter der in der DDR stationierten Operativgruppe des für Staatssicherheitsaufgaben zuständigen MdI Ungarns teil. (Diese Operativgruppe mit Sitz in der ungarischen Botschaft in Ost-Berlin zählte mit zwei bis fünf Hauptamtlichen zu den kleinsten in der DDR, während Polen in der DDR mit fünf bis sieben hauptamtlichen Mitarbeitern und bis zu vier Mitarbeitern der Militärabwehr am stärksten vertreten war.) Die Notiz über die Beratung beider "Bruderorgane" hielt fest, es sei Aufgabe des MdI Ungarns, "unter den in der DDR beschäftigten ungarischen Werktätigen die notwendigen politisch-operativen Absicherungsmaßnahmen" zu ergreifen. Es wurde beschlossen, einen "direkten operativen Kontakt zwischen der Operativgruppe des MdI der UVR in der DDR und der für die Absicherung ausländischer Werktätiger" beim MfS zuständigen Diensteinheit herzustellen. Ferner wurden ein "gegenseitiger Informationsaustausch" und die Einleitung abgestimmter Maßnahmen "zu gemeinsam interessierenden operativen Sachverhalten und Personen" vereinbart. Für die Aufrechterhaltung des Kontaktes wurden Verbindungsoffiziere benannt. In den folgenden Monaten fanden diesbezüglich mehrere Konsultationen und Beratungen zwischen der HA XVIII des MfS und "Diensteinheiten des Spionageabwehrbereichs des MdI der UVR" statt.
Das Ministerium für Staatssicherheit hielt in einer Lageeinschätzung vom 12. September 1975 fest: "Mit den ungarischen Werktätigen haben die DDR-Einsatzbetriebe sowohl auf ökonomischem als auch politisch-ideologischem Gebiet allgemein gute Erfahrungen gemacht." Die ungarischen Arbeiter stünden mit ihren Arbeitsleistungen ihren DDR-Kollegen in nichts nach. "Die große Mehrheit von ihnen zeigt ein einwandfreies gesellschaftliches Verhalten und trägt zur Entwicklung und Förderung freundschaftlicher Kontakte zwischen den Werktätigen" beider Länder bei. Probleme gab es gleichwohl, wie die Verfasser des Berichtes einräumen: "Bei den von ungarischen Werktätigen begangenen Delikten handelt es sich meistens um vorsätzliche Körperverletzung, Rowdytum und Widerstand gegen die Staatsgewalt sowie Diebstahlshandlungen, Verkehrs- und Sexualdelikte. (...) Von politisch-operativer Bedeutung sind vor allem die Delikte, die von ungarischen Werktätigen im Zusammenhang mit der Staatsgrenze der DDR begangen werden. Das sind unerlaubte Aufenthalte im Grenzgebiet sowie versuchte und durchgeführte illegale Grenzübertritte nach der BRD und Westberlin." Die Zahl solcher Vorkommnisse sei allerdings rückläufig.
Probleme mit "politisch-ideologisch negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung der DDR" machte das MfS laut dieser Lageeinschätzung bei Konflikten im Arbeitsbereich aus, vor allem durch Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin. In den ersten Jahren nach der Unterzeichnung des Regierungsabkommens war es wiederholt zu in der DDR-Bevölkerung unüblichen Arbeitsniederlegungen durch ungarische Vertragsarbeiter gekommen. So hatten laut MfS-Unterlagen am 25. November 1970 etwa 100 von insgesamt 265 ungarischen Beschäftigten im VEB Chemiefaserkombinat Premnitz/Rathenow/Potsdam ihre Arbeit niedergelegt und sich zu Schichtbeginn zum Verwaltungsgebäude begeben. Grund des Protestes war die vom ungarischen Disziplinarkomitee des Betriebes beantragte und von der Botschaft bestätigte, offenbar ungerechtfertigte Rückführung von zwei ungarischen Arbeitern. Die Aussprache der Streikenden mit dem ungarischen Parteisekretär, der ungarischen Betriebsgewerkschaftsleitung und dem stellvertretenden Werksleiter dauerte zwei Stunden. Danach wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Ein zum Abend herbeigerufener Mitarbeiter der ungarischen Botschaft stimmte einer Ablösung der ungarischen Vertreter (Staatlicher Beauftragter, Parteisekretär und Jugendsekretär) zu, woraufhin 80 Prozent der ungarischen Belegschaft dafür stimmten, die ausgefallene Arbeitszeit nachzuholen. Hauptursachen für andere Arbeitsniederlegungen ungarischer Vertragsarbeiter waren Lohndifferenzen untereinander: "Mehrfach nahmen ungarische Werktätige lediglich aus Solidarität mit ihren betroffenen Kollegen an den Arbeitsniederlegungen teil. In der letzten Zeit gab es eine größere Arbeitsniederlegung im Bereich der ungarischen Monteure im Zusammenhang mit der unklaren Perspektive ihres weiteren Einsatzes in der DDR."
Kritisch merkte das MfS zudem an, dass ungarische Vertragsarbeiter "postalische Verbindungen in das NSW [Nichtsozialistische Währungsgebiet], insbesondere zu westlichen Rundfunksendern" zu Beat-Musiksendungen, unterhielten. In den ersten Jahren des Einsatzes von ungarischen Vertragsarbeitern registrierte das MfS die Übersendung von "Hetzmaterialien" ungarischer "Emigrantenorganisationen aus dem NSW". Kontakte geringeren Ausmaßes wurden zu kirchlichen Kreisen der DDR festgestellt.
Aus dem Bericht über ein Treffen des Leiters der Hauptabteilung XVIII, Generalmajor Alfred Kleine, mit dem Leiter der Operativgruppe des ungarischen MdI in Ostberlin, Oberstleutnant Eperjesi, im Mai 1978 wird ersichtlich, dass die Zusammenarbeit zwischen den Geheimpolizeien wie geplant verlief. Es wurde festgelegt, die Maßnahmen auf die "Absicherung aller in der Volkswirtschaft der DDR beschäftigten ungarischen Werktätigen" zu erweitern und dass "die Absicherung der ungarischen Montagekräfte in der DDR zunehmend den Schwerpunkt" bilden sollte, insbesondere jener "ungarischen Bürger, die im nichtsozialistischen Ausland leben und im Rahmen von Montageverträgen der DDR mit NSW-Firmen in Betrieben und Baustellen der DDR zum Einsatz kommen". Zukünftig sollten "direkte Kontakte zu Verbindungsoffizieren der Dienststellen des MfS in ausgewählten Bezirken der DDR" hergestellt werden.
Nach Erkenntnissen des MfS hoben "sich die ungarischen Werktätigen positiv von anderen Ausländergruppen ab". Im Jahre 1979 habe es "kaum öffentlichkeitswirksame, besondere Vorkommnisse" gegeben. "Arbeitsniederlegungen traten überhaupt nicht auf. Operative Informationen beinhalteten im Wesentlichen:
undurchsichtige Kontakte zu NSW-Personen bzw. DDR-Bürgern mit Westverbindungen,
spekulative Geschäfte mit NSW-Währungen und –waren,
Delikte im Zusammenhang mit der Staatsgrenze der DDR."
Eine unmittelbare Zusammenarbeit im Rahmen eines Operativen Vorgangs oder einer Operativen Personenkontrolle (OV oder OPK) fand laut MfS-Unterlagen zumindest bis Ende 1979 nicht statt.
Alltag und Lebensniveau
Deutsche Sprachkenntnisse waren für die Entsendung ungarischer Vertragsarbeiter in die DDR keine Voraussetzung. Nach einem zweiwöchigen Sprachkurs in Ungarn erhielten sie Sprachunterricht in der DDR. Da sie gemeinsam mit deutschen Kollegen in Brigaden arbeiteten, lernten sie schnell. Dem Heimweh wirkten beide Regierungen entgegen. Aus Ungarn kamen regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften in eigens für die jungen Arbeiter eingerichtete Freizeitzentren. Die An- und Abreisekosten sowie die Kosten für eine Heimreise pro Jahr übernahmen laut Abkommen die beschäftigenden Betriebe in der DDR, die meist sogar zwei regelmäßige Heimreisen nach Ungarn finanzierten. Für jede bezahlte Heimreise gab es zwei freie Tage. Für Heimreisen, für die einem Beschäftigten in der DDR gesetzlich ein freier Tag zustand – etwa bei der Geburt eines Kindes oder bei Heirat, bekamen die Ungarn zusätzlich zwei bezahlte freie Tage.
Die Ungarn erhielten den gleichen Lohn wie die Ostdeutschen. Mit 600–1.300 Mark lag das Gehalt der Vertragsarbeiter in der DDR deutlich über dem ungarischen Lohnniveau. Ein Arbeiter im Schreibmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt (Marke "Erika") erhielt Anfang der 70er-Jahre das doppelte Gehalt seiner Kollegen in Ungarn und das, wie er vermerkte, bei weitaus höherer Kaufkraft der DDR-Mark. Hinzu kamen Feiertagszuschläge für die freiwillige Arbeit an den arbeitsfreien Samstagen, die in Ungarn erst ab 1. Januar 1982 und damit 15 Jahre später als in der DDR eingeführt wurden. Da Lebensmittel bedeutend billiger waren als in Ungarn und die ungarischen Vertragsarbeiter zudem DDR-übliche, im Vergleich zu ihrem Heimatland extrem niedrige Mieten zahlten, blieb ihnen neben dem Besuch von Gaststätten und Tanzlokalen in der Freizeit genug Geld zum Sparen und für Anschaffungen. Ein Motorrad der Marke "MZ" war für die meisten Vertragsarbeiter die erste größere Anschaffung, von der sie zuhause nur träumen konnten. Die meisten machten ihren Führerschein in der DDR. Bei den Banken erhielten sie Einkaufskredite. So manch einer leistete sich ein Auto oder verreiste ins sozialistische Ausland. "Weil Ost-Mark in Ungarn als Devisen angesehen wurden", konnten die Sparsameren unter den Vertragsarbeitern bei ihrer Heimkehr nach Ungarn "außer der Reihe zum Vorzugspreis ein Auto kaufen."
An das DDR-typische Schlangestehen für bestimmte Mangelwaren oder vor überfüllten Gaststätten und die "deutsche Disziplin" dabei mussten sie sich allerdings erst gewöhnen. Zur Verwunderung der ungarischen Vertragsarbeiter wurden bei – der besseren – ärztlichen Versorgung in der DDR Bestechungs- und Dankbarkeitsgelder im Gesundheitswesen als "Beleidigung" aufgefasst.
Nach eigener Aussage lebten die ungarischen Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR besser als in Ungarn. Es kam zwar nicht oft vor, aber wer zielstrebig und risikofreudig war, konnte sich im Glücksfall einen Traum erfüllen und stolz von seinem DDR-Arbeitseinsatz ein gebrauchtes West-Auto nach Ungarn mitbringen. Das widersprach zwar den Zollbestimmungen der DDR, aber die ließen sich umgehen. Der Ungar brauchte dazu eine Summe an Ost-Mark und einen Freund oder zuverlässigen Geschäftspartner, etwa unter den Studenten aus afrikanischen Staaten. Diese besaßen westliche Valuta, konnten ohne größere Beschränkungen nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik reisen und Waren bis hin zu PKW ein- und ausführen. So kaufte der afrikanische Student in Westberlin einen Gebrauchtwagen, ließ ihn sich vom ungarischen Vertragsarbeiter in der DDR in Ost-Mark bezahlen und fuhr diesen danach in die Tschechoslowakei. Dort setzte sich der Ungar ans Steuer und brachte den Wagen in sein Heimatland.
Ein nicht unwesentlicher Effekt ihres Einsatzes in der DDR bestand für die Vertragsarbeiter darin, dass die Ausbildung und ihre praktische Berufserfahrung, die sie dort erhalten hatten, in Ungarn sehr geschätzt wurden. Noch nach dem politischen Umbruch wurde in Stellenanzeigen in Ungarn "die Praxis in der DDR als Positivum bewertet".
Legale und illegale Ein- und Ausfuhr
Es gab Wege für ungarische Vertragsarbeiter, ihre DDR-Mark gewinnbringend "arbeiten zu lassen". Ein einfacher, illegaler und damit risikobehafteter Weg bestand im Schmuggel größerer Geldbeträge nach Ungarn, sie dort in Forint umzutauschen, um diese wiederum schwarz auf der Straße bei bundesdeutschen Touristen in D-Mark zu wechseln. Ein lohnendes Geschäft, denn die Ost-Mark war in Ungarn doppelt so hoch bewertet wie in der Bundesrepublik. Für die ihnen alle drei Jahre zugestandenen Westreisen konnten ungarische Bürger zusätzliche Devisen zur Aufbesserung ihrer staatlicherseits knapp bemessenen Urlaubskasse immer gut gebrauchen. Wechselte etwa ein Ungar auf der Bank 100 geschmuggelte DDR-Mark in 400 Forint, so erhielt er dafür schwarz auf der Straße 50 D-Mark. Der Bundesbürger sparte beim Schwarztausch je nach Verhandlungsgeschick mehr oder weniger, überließ aber das Risiko des Schmuggels Ungarn, die über viel Ost-Mark verfügten. Das waren meist Vertragsarbeiter.
Auch DDR-Touristen schmuggelten Ost-Mark nach Ungarn, denn der zulässige Tagesumtauschsatz für ostdeutsche Ungarnreisende reichte kaum, um ohne mitgebrachte Verpflegung einen angenehmen Urlaub zu verbringen. Ungarische Bürger nahmen DDR-Mark oft als Zahlungsmittel entgegen. Außerdem wollten Ostdeutsche in der Regel heißbegehrte Westprodukte in Ungarn erwerben, wie Schallplatten westlicher Beatgruppen, Zeitschriften, Bücher, die allerdings nach Haus geschmuggelt werden mussten. Ohne Risiko in die DDR einführen ließen sich dagegen – in Mengen für den Eigenbedarf – aus der Werbung bekannte westliche Kosmetika, Original-Jeans amerikanischer Marken, insbesondere Levi's, von denen seit August 1978 im Bekleidungswerk "1. Mai" in der ungarischen Kleinstadt Marcali jährlich 800.000 Stück in Lizenz hergestellt wurden. Über ein Drittel der Produktion wurde im Inland verkauft, auch an Touristen aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern.
Doch vor allem lockten DDR-Touristen modische, in Heimarbeit genähte und gestrickte Textilien, die in Ungarn in den 70er-/80er-Jahren in Hülle und Fülle an Straßenständen, in Hinterhofläden und auf Märkten angeboten wurden. Das Gros der Kundschaft waren DDR-Bürger, "ausgehungert" nach modischer Bekleidung. Die Näh- und Handstrickmaschinen, die dafür in Haushalten und im Kleingewerbe Ungarns genutzt wurden, stammten aus dem VEB Nähmaschinenwerk Wittenberge.
Gemäß den Zollerleichterungen, die ungarischen Vertragsarbeitern gewährt wurden, durften diese für die Hälfte ihres Einkommens Waren genehmigungsfrei ausführen. Das taten sie in der Regel auch, und zwar vorrangig Textilien, Bettwäsche, stark subventionierte Kinderbekleidung, Gardinenstoffe, Tisch- und Wolldecken, Handtücher, Untertrikotagen, Schuhwaren, optische Geräte, Uhren, Schirme, Werkzeuge, Kfz-Zubehör, Koffer und elektrische Haushaltsgeräte, wie eben Näh- und Strickmaschinen. Die private Ausfuhr insbesondere durch ungarische und polnische Vertragsarbeiter verschärfte die Probleme der DDR-Wirtschaft, deren Produktionskapazitäten weder für Exporte ins westliche Ausland noch für die zufriedenstellende Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern ausreichten.
Auch das Nähmaschinenwerk Wittenberge stand vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Fieberhaft wurden dort immer effektivere Fertigungstechnologien eingeführt und das Betriebsgelände erweitert. Ab 1981 lief die Produktion auf vollautomatischen Taktstraßen. Die Jahresproduktion an Nähmaschinen stieg 1987 auf 340.000. Doch die steigende Nachfrage aus dem In- und Ausland konnte weiterhin nicht befriedigt werden. Dieses Manko haftete vielen Qualitätsprodukten "Made in GDR" an. Es stand für einen unlösbaren Konflikt der von Devisenmangel geplagten DDR-Wirtschaft: Um reichlich Devisen erwirtschaften zu können, hätte vorrangig die Nachfrage aus dem westlichen Ausland befriedigt werden müssen. Dem entgegen stand das Ziel, den Bedarf der eigenen Bevölkerung zu decken. Beide Ziele konnten aus Kapazitätsgründen nicht erreicht werden.
Bei der Rückkehr vom Heimaturlaub in die DDR führten ungarische Vertragsarbeiter legal in größerem Umfang Lederjacken und -mäntel sowie Kaffee ein. Dies hielt die Zollverwaltung der DDR für unbedenklich. Was den DDR-Behörden dagegen Sorgen bereitete, war die über den Eigenbedarf hinaus erfolgte Einfuhr von Modetextilien, hergestellt in Heimarbeit auf Näh- und Handstrickmaschinen aus der DDR. In der Regel waren dies Damen- und Herrenpullover nach westlichen Schnittmustern. 1973 wurden beispielsweise bei einem Einreisenden 45 Pullover und bei einem anderen 24 Pullover beschlagnahmt. Ermittlungsverfahren wurden durch den Zollfahndungsdienst in solchen Fällen gegen ungarische Bürger jedoch nicht eingeleitet.
Mit den Zollerleichterungen für ungarische Vertragsarbeiter wurden die Versorgungsengpässe der DDR verschärft, da die Vorliebe der Ungarn just solchen Artikeln galt, die stark subventioniert oder Mangelware waren. Näh- und Handstrickmaschinen zählten dazu. Ihr Preis lag je nach Modell zwischen 200 und 700 DDR-Mark. In Ungarn betrug er mit 20.000–80.000 Forint beim damaligen Umrechnungskurs von 1:4 zur Ost-Mark etwa das 25-fache des DDR-Preises. Beim niedrigeren Durchschnittseinkommen der Ungarn waren solche Waren Luxusartikel. Da der Bedarf der DDR-Bevölkerung an Handstrick- und Nähmaschinen nicht gedeckt werden konnte, erwog die DDR-Zollverwaltung aufgrund "massiver Beschwerden von bezirklichen Organen für Handel und Versorgung" 1971 ein Ausfuhrverbot. Hintergrund solcher Überlegungen war auch die private Ausfuhr nach Ungarn, die durchaus ins Gewicht fiel.
Zudem zeitigte sie eine weitere Folge, die von der DDR-Führung unerwünscht war: die Einfuhr von Textilien, die westlichen Modetrends entsprachen und in der DDR-Bevölkerung sehr begehrt waren, durch Touristen aus Ungarn. Denn das, was auf DDR-Handstrickmaschinen in Ungarn hergestellt wurde, entsprang den Mustern aus bundesdeutschen Modemagazinen. Nutznießer waren Ungarn, die den Nebenverdienst bitter nötig hatten, und DDR-Touristen gleichermaßen, deren Zahl von 1970 bis 1985 von 236.000 auf 950.000 pro Jahr anstieg. Sehr beliebt bei ihnen waren die in Ungarn eigens für DDR-Touristen geschaffenen "Pullovermärkte". Dort kauften sie eben jene modische Kleidung, die es zu Hause nicht gab und die sie mangels der nach Ungarn ausgeführten Handstrickmaschinen aus DDR-Produktion nicht selbst herstellen konnten. Über den Umweg durch Ungarn gelangten DDR-Bürger an die Produkte gewissermaßen einer Mischung aus westlichen Modemagazinen und DDR-Handstrickmaschinen.
Eigeninitiative und Risikobereitschaft
Möglicherweise waren solche Textilien und die Ausfuhr der DDR-Maschinen nach Ungarn Parteiideologen ein Dorn im Auge, wurde damit doch auch westlicher Lebensstil in der DDR kultiviert. Doch könnte diese Lösung des Versorgungsproblems an modischer Bekleidung ebenso nüchtern kalkulierenden DDR-Oberen entgegengekommen sein. Geriet diese inoffizielle Arbeitsteilung denn nicht zum Vorteil der ungarischen wie der DDR-Bevölkerung und beförderte folglich deren Zufriedenheit mit den Regierungen beider Länder? Schwerer dürfte allerdings gewogen haben, dass dieser sonderbare Wirtschaftskreislauf zeigte, dass man weder in Ungarn noch in der DDR in der Lage war, modischen Trends zu folgen oder gar eigene zu entwickeln, die auf positive Resonanz stießen. Wie auch immer die politische Spitze gedacht haben mag, man schwieg dazu im Politbüro, in den Parteiinstanzen und beim MfS und ließ der Entwicklung freien Lauf.
Und das nicht ganz zu Unrecht, denn die Probleme lagen tiefer. Ihre Ursache hatten sie in der staatssozialistischen Planwirtschaft mit ihrem grundlegenden Mängeln, die in Ungarn zu einem stetig sinkenden Lebensniveau und hier wie auch in der DDR zu wachsender Unzufriedenheit führten. Der beschriebene Kreislauf von der Beschäftigung ausländischer Vertragsarbeiter in der DDR, der privaten Ausfuhr von Näh- und Strickmaschinen aus der DDR, auf denen Modetextilien westlichen Zuschnitts für Touristen aus der DDR produziert wurden, die diese wiederum in die DDR einführten, bildete eine kurios anmutende Kausalkette. Auf diesem Wege wurden Mängel der sozialistischen Wirtschaftspolitik ausgenutzt und kompensiert zugleich. Letztlich half dies, den Alltag der Bevölkerung in einem – modischen – Detail aufzuwerten, und dürfte damit die Unzufriedenheit gleichermaßen gemildert wie verstärkt haben. Denn was einerseits den ein Defizit kompensierte, machte es zugleich auch offenbar. So demonstriert dieser Kreislauf eine Entwicklung, die den Alltag und das Denken von Bürgern der DDR und Ungarns von den späten 60ern bis in die 80er-Jahre prägte. An der "Fürsorge" des kommunistischen Staates vorbei entwickelten die Bürger beider Länder Eigeninitiative, Risikobereitschaft und Verantwortung, verließen sich nicht allein auf staatliche Regulierungen und Zuteilungen, sondern waren zunehmend bereit, in privaten Belangen sowie allmählich auch in politischen Fragen ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die Ungarn waren dabei den DDR-Bürgern wegen wirtschaftlich schwierigerer und gleichzeitig politisch weniger angespannter Rahmenbedingungen einige Schritte voraus. Doch letztlich waren sie auf dem gleichen Weg.