Einleitung
SED-Chef Erich Honecker und die Mehrheit des Politbüros verknüpften das Ende der Wirtschaftsreformen 1970 und eine ordnungspolitische Rückbesinnung auf das System der Wirtschaftsplanung der 1950er-Jahre mit einer neuen Dimension der Sozialpolitik.
Kritische Kommentare über die Dimension und Schwerpunkte der Sozialpolitik setzen verstärkt seit Mitte der 1970er-Jahre ein. Hauptsächlich meldete die zentrale Planungsbehörde grundsätzliche Vorbehalte an. Sie hielt den vom Politbüro beschlossenen Umfang des Sozialpakets aufgrund der hierfür notwendigen wirtschaftlichen Leistungssteigerungen von vornherein nicht für realistisch. Insbesondere hielt SPK-Chef Gerhard Schürer die von Honecker hartnäckig verteidigte Preispolitik volkswirtschaftlich für unsinnig und unrealistisch.
Preispolitik als Teil der Sozialpolitik
Die SED-Führung verfolgte mit politisch-ideologischen Prämissen eine staatlich regulierte Verbraucherpreispolitik, die sie als Teil ihrer Sozialpolitik begriff.
"Konsumgüter" zunächst für den Zeitraum des Fünfjahrplans 1971/75 ausdrücklich verbot.
Nach den Tendenzen der Dezentralisierung in den 1960er-Jahren lagen die Kompetenzen für die Ausarbeitung und Bestätigung der Verbraucherpreise seit August 1971 wieder beim Leiter des Amtes für Preise,
Walter Halbritter, 1989. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-0725-302, Foto: Elke Schöps)
Walter Halbritter, 1989. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-0725-302, Foto: Elke Schöps)
Walter Halbritter. Da die Verbraucherpreise als Teil der Wirtschaftsplanung aufgefasst wurden, hatte die Staatliche Plankommission (SPK) ausgehend von konstanten Preisen und dem Bedarf der Bevölkerung für die als zentral angesehenen Konsumgüter konkrete Preisvorgaben zu planen. Aus diesem Grund waren enge Absprachen zwischen dem Amt für Preise und der entsprechenden Abteilung der SPK zur Preisgestaltung notwendig.
Im sensiblen Bereich der Nahrungs- und Genussmittel sowie auch der industriellen Verbrauchswaren, die als entscheidend für den Lebensstandard der Bevölkerung galten, entschied letztlich das Politbüro über die Höhe der Verbraucherpreise. Die Regeln zu deren Festsetzung, die in den Jahren 1971/72 definiert worden waren, wiesen allerdings erhebliche Unschärfen auf, die den beteiligten Instanzen – Ministerien, Amt für Preise, SPK, Generaldirektoren der Kombinate – Spielräume eröffneten, die zu schleichenden Preissteigerungen für industrielle Verbrauchswaren, insbesondere für technische Konsumgüter und Textilwaren führten.
Propagandagrafik der DDR-Presseagentur ADN, 3. Juli 1971: "Auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempo der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität ist im Fünfjahrplanzeitraum das materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes weiter zu erhöhen. zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern ist bei der Entwicklung des Warenfonds um durchschnittlich jährlich 4 bis 4,2 Prozent, eine wertmäßiger Struktur zu gewährleisten." (© Bundesarchiv, Bild 183-K0703-0001-001 / Grafik: o.A.)
Propagandagrafik der DDR-Presseagentur ADN, 3. Juli 1971: "Auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempo der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität ist im Fünfjahrplanzeitraum das materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes weiter zu erhöhen. zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern ist bei der Entwicklung des Warenfonds um durchschnittlich jährlich 4 bis 4,2 Prozent, eine wertmäßiger Struktur zu gewährleisten." (© Bundesarchiv, Bild 183-K0703-0001-001 / Grafik: o.A.)
Honecker brachte dann die Grundsätze der Verbraucherpreispolitik auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED am 16./17. Dezember 1971 auf folgende Formel: Die Verbraucherpreise für auf dem Markt befindliche Erzeugnisse sind nicht zu erhöhen. Höhere Verbraucherpreise für neue Erzeugnisse der Konsumgüterindustrie können nur dann genehmigt werden, wenn größerer Komfort, längere Lebensdauer, geringerer Pflege- und Bedienungsaufwand oder verbesserte Gebrauchseigenschaften zu erwarten waren.
Erste Preisexperimente
Honecker hatte sich lange Zeit strikt geweigert, die auch von führenden Ökonomen der DDR geforderten Preissteigerungen vorzunehmen, und darauf beharrt, die kostspielige Subventionspolitik trotz der immer drängender werdenden außenwirtschaftlichen Belastungen fortzuführen.
Am 28. Juni 1977 stimmte das Politbüro einer Vorlage zu, die eine Reduzierung der Rohkaffeeimporte vorsah, für die hohe Devisenbeträge aufgebracht werden mussten.
Da sowohl aus den SED-Bezirksorganisationen als auch von Bezirksdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besorgniserregende Meldungen über Unruhe und Missstimmungen in der Bevölkerung – ausgelöst durch flächendeckende Gerüchte über bevorstehende Preissteigerungen bei Nahrungs- und Genussmitteln – an Honecker herangetragen wurden, ließ der SED-Chef am 28. September 1977 ein Fernschreiben an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen versenden, um die Lage zu beruhigen. Darin dementierte er bevorstehende Preiserhöhungen und verteidigte nochmals die bisher geltenden Grundsätze der Preispolitik: "Das Zentralkomitee hat von Parteiorganisationen aus einigen Bezirken Informationen über Gerüchte zu Preiserhöhungen erhalten. Es gibt Diskussionen, dass in der DDR Erhöhungen der Verbraucherpreise bevorstünden. Genannt werden dabei solche Positionen wie Mehl, Zucker, Spirituosen, Zigaretten, Kakaoerzeugnisse sowie Bettwäsche und andere Baumwollerzeugnisse ... Wir möchten nochmals ausdrücklich betonen, dass mit Ausnahme der Veränderungen, die im Zusammenhang mit der Kaffeefrage erforderlich waren, wir nach wie vor entsprechend den Beschlüssen des IX. Parteitages die Preisstabilität auch weiterhin gewährleisten. Die Einzelhandelsverkaufspreise für Nahrungs- und Genußmittel, industrielle Konsumgüter, Mieten, Verkehrstarife und Dienstleistungen bleiben stabil. Wie bisher werden die im Volkswirtschaftsplan vorgesehenen Waren für die Bevölkerung in allen Preisgruppen angeboten. Wir bitten die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen, Maßnahmen einzuleiten, damit die Kreisleitungen und Grundorganisationen überall in der mündlichen Argumentation solchen Gerüchten entschieden entgegentreten, weil sie jeder Grundlage entbehren."
Auf der 7. Tagung des Zentralkomitees im November 1977 bekräftigte die SED-Führung "im Zusammenhang mit aufgetretenen Gerüchten über bevorstehende Preiserhöhungen", dass die Partei "trotz der weiter wachsenden außenwirtschaftlichen Belastungen" nach wie vor die stabilen Verbraucherpreise und Tarife sowie die niedrigen Mietpreise gewährleisten werde.
Der Preisexperiment vom Sommer 1979
Gerhard Schürer, 1982. (© Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1982-1123-416, Fotograf: o.A.)
Gerhard Schürer, 1982. (© Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1982-1123-416, Fotograf: o.A.)
Bislang waren alle von Fachleuten wie Gerhard Schürer oder Walter Halbritter erhobenen Forderungen nach prinzipiellen Änderungen der Preispolitik beim SED-Chef auf taube Ohren gestoßen. Erst unter dem Druck verschärfter Zahlungsprobleme und drastischer Preissteigerungen in Polen und Ungarn deutete Honecker während einer Beratung im "kleinen Kreis" am 22. Juni 1979 erstmals Korrekturen in der Preisentwicklung im Inland an. "Wir können", so erklärte er den verblüfften Politbüromitgliedern, "in einer Welt nicht Wunderland mit gleichen Preisen bleiben."
Bereits im Mai 1979 erhielten Schürer und Halbritter von ZK-Wirtschaftssekretär
Günter Mittag, 1976. (© Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R0430-304 / Fotograf: o.A.)
Günter Mittag, 1976. (© Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R0430-304 / Fotograf: o.A.)
Günter Mittag den Auftrag, detaillierte Vorschläge für eine Erhöhung der Verbraucherpreise zu entwerfen.
Wie Honecker dem Politbüro Ende November 1979 berichtete, hatten die Überlegungen zu Preissteigerungen für eine breite Palette von Konsumgütern im Mai begonnen. Als hauptsächliche Motive nannte er die negative Zahlungsbilanz und die Preisentwicklung in den osteuropäischen Ländern: "Im Mai diesen Jahres ... wurde durch den Vorsitzenden des Ministerrates angeregt zu prüfen, eine ganze Reihe Fragen zu lösen durch Preisveränderungen; von Genossen Schürer ebenfalls. Wir haben gesagt, dass man an diesem Problem arbeiten soll vom Standpunkt der Verringerung der NSW-Importe und der Erhöhung der Exporte, um das Bargeldproblem in die Hand zu bekommen. Die letzte Frage ist die entscheidende Frage. Ausgelöst war die Frage damals von den Preissteigerungen in anderen Ländern und den sogenannten Abkäufen. ... Wir haben dazu im Politbüro Stellung genommen. ... Die Meinung war so: Nachdem in den anderen Ländern das vorgenommen wurde, müssen wir das auch machen."
Selbst der SED-Chef schreckte jetzt nicht mehr vor dem brisanten Thema Preiserhöhung zurück. Während der Beratung bei Honecker zum Volkswirtschaftsplan 1980 am 4. Juli 1979, zu der Mittag, Schürer und der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, geladen waren, sprach der Generalsekretär ausdrücklich von notwendigen Preissteigerungen: "Wir stehen vor Preiskorrekturen, umfassend. Es kommt der Moment, wo wir es öffentlich machen müssen. 1980 werden wir einiges formulieren."
Unter Federführung Gerhard Schürers, Walter Halbritters sowie des Finanzministers Siegfried Böhm konkretisierten sich die bislang vagen Vorstellungen zu detaillierten Listen mit Produkten und Dienstleistungen, für die eine deutlich Erhöhung der Verbraucherpreise vorgeschlagen wurde. Allerdings gingen die Vorschläge weit über den Umfang der Produkte hinaus, die Honecker Anfang Juli 1979 erwähnt und befürwortet hatte. Verschont wurden in dieser Variante auch nicht die Preise für Grundnahrungsmittel, an deren Stabilität bislang aufgrund politischer Prämissen kein Wirtschaftsfunktionär zu rütteln wagte. In einer Information der MfS-Hauptabteilung XVIII vom 7. August 1979 hieß es dazu: "In der Zeit bis zum 24.7.1979 und danach wurden auf Verlangen des Genossen Dr. Mittag weitere Erzeugnisse und Leistungen in die Vorschläge für Verbraucherpreiserhöhungen einbezogen. Zum Zeitpunkt der vorgesehenen Konsultationen hatten die Vorschläge für preiserhöhende Maßnahmen den Auftrag des Generalsekretärs weit übertroffen. Aufgrund dieser Tatsache wurde vom Genossen Dr. Mittag festgelegt, dass der Genosse Halbritter den Genossen Stoph nicht über den Stand der Ausarbeitung zu dem vom Generalsekretär erteilten Auftrag informiert. Er hatte entschieden, dass Genosse Halbritter an diesem Tage nicht erreichbar sein darf. Ende Juli 1979 umfassten die gemeinsam von den Genossen Schürer, Halbritter, Böhm und weiteren Genossen ausgearbeiteten Vorschläge für Verbraucherpreismaßnahmen 22 Mrd. M[ark] bei gleichzeitiger Gewährung von Ausgleichsmaßnahmen in Höhe von 6 Mrd. M."
Über den Wertumfang und die Reichweite der Preiserhöhungen kam es zwischen Mittag, Schürer, Böhm und Halbritter zu heftigen Auseinandersetzungen. Halbritter hielt Preiserhöhungen in einem Umfang von 22 Milliarden Mark politisch nicht für realisierbar. Die vorgesehenen Maßnahmen würden seiner Meinung nach zwar eine günstigere Verbrauchsstruktur, eine Verbesserung der Zahlungsbilanz, eine Verminderung von Subventionen für Verbraucherpreise und ein sparsameres Wirtschaften sowie einen rationelleren Verbrauch durch die Bevölkerung stimulieren, aber generell keine grundsätzliche Lösung der anstehenden Probleme zum Volkswirtschaftsplan 1980 bringen. Er brachte deshalb eine moderate Variante ins Gespräch, die Verbraucherpreiserhöhungen im Wert von 7,2 Milliarden Mark bei 1,8 Milliarden für Ausgleichsmaßnahmen vorsah. Mittag dagegen hielt diese Variante für weitgehend wirkungslos. In einer internen Beratung am 4. August bezeichnete er das von Halbritter ausgearbeitete Material in deutlicher Anspielung auf dessen Namen als "eine Halbheit". Nur Vorschläge, die auf die Zahlungsbilanz wirken, seien von Bedeutung. "Deshalb soll das Material vom Genossen Halbritter nicht weitergegeben werden. Genosse Mittag hat weiter mitteilen lassen, dass mit der Vorwegnahme von Teilmaßnahmen die Probleme nicht gelöst werden. Wir würden uns nur die Lösung für die Zukunft verbauen. Preiserhöhungen ohne Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz muß man als Preisspielerei bezeichnen."
Eine Diskussion zwischen Schürer und Mittag am folgenden Tag darüber, welche Variante dem Generalsekretär nun vorgelegt werden solle, brachte zunächst keine Einigung. Schürer hatte vorgeschlagen: "Vor dem 30. Jahrestag der Republik sollte man die Positionen, die im Material des Genossen Halbritter enthalten sind, voll in Kraft setzen, aber ohne die Preiserhöhungen für Edelfleisch und spezielle Wurstsorten. Bei Fleischpreiserhöhungen müssen sofort die in der großen Variante enthaltene Erhöhung in Kraft treten. Bei Vergaserkraftstoff [VK] muß sofort eine Preiserhöhung um 131 % erfolgen, also nicht wie im Material des Genossen Halbritter vorgeschlagen, bei VK 94 vom jetzigen Preis 1,65 M auf 2,70 M, sondern auf 3,70 M. In der großen Variante bisher vorgesehene Preiserhöhungen für Brot und Nährmittel um 100 % soll auf 50 % formuliert werden. Bei Fisch nicht 150 %, sondern nur 80 % und bei Kartoffeln nicht 150 %, sondern ebenfalls nur 80 %. Das ist eine Frage der Taktik, damit die Preiserhöhungen nicht so hoch ausgewiesen werden und außerdem aus diesen Preiserhöhungen keine Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz eintreten."
Mittag setzte schließlich mit seiner Autorität als Wirtschaftssekretär die "große Variante" durch. Als ausschlaggebendes Argument diente das Zahlungsbilanzdefizit, das zwischen 1971 und 1979 von rund zwei Milliarden auf über 22 Milliarden Valutamark (VM) angestiegen war.
Allerdings war mit den Preissteigerungen nach den Kalkulationen von Schürer, Böhm und Halbritter ein Rückgang des Realeinkommens pro Kopf der Bevölkerung um fünf bis zehn Prozent verbunden.
Nach mehreren Beratungen legte Schürer am 6. August 1979 dem Generalsekretär eine Variante vor, die Preiserhöhungen von insgesamt 21 Milliarden DDR-Mark vorsah.
Die drei Wirtschaftsfunktionäre waren sich über die politische Sprengkraft der vorgeschlagenen Preiserhöhungen für Lebensmittel und Kraftstoffe vollkommen im Klaren. Tatsächlich übertraf die Höhe der Steigerungen alles, was bislang in Polen und Ungarn durch die Staatsparteien praktiziert worden war.
Tab. 1: Geplante Preiserhöhungen für ausgewählte Erzeugnisse und Waren des Grundbedarfs | |||||||
Erzeugnis | Steigerung in Prozent | ||||||
Koks | 100 | ||||||
Fleisch, Fleisch- und Wurstwaren | 70 | ||||||
Fisch und Fischwaren | 80 | ||||||
Kaffee | 80 | ||||||
Baumwollerzeugnisse | 25 | ||||||
Schuhe | 40 | ||||||
Wein und Sekt | 35 | ||||||
Spirituosen und ausgewählte Biere | 50 | ||||||
Brot und Brötchen | 50 | ||||||
Haferflocken, Graupen, Gries | 50 | ||||||
Mehl | 50 | ||||||
Teigwaren | 50 | ||||||
Kartoffeln | 80 | ||||||
Butter | 25 | ||||||
Käse | 10 | ||||||
Zucker | 40 | ||||||
Zuckerwaren | 33 |
Honecker war, glaubt man der MfS-Information vom 30. August 1979, die vermutlich auf Mitteilungen von Walter Halbritter beruhte, angesichts des immensen Umfangs der empfohlenen Preiserhöhungen zunächst schockiert.
Die von Honecker erwähnte Beratung im "kleinen Kreis" hatte am 16. August stattgefunden. Neben Mittag, Stoph und Schürer hatten damals die ZK-Sekretäre für Handel, Versorgung und Außenhandel, Werner Jarowinsky, und für Landwirtschaft, Gerhard Grüneberg, der Staatssekretär in der SPK, Heinz Klopfer und der Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen, Günter Ehrensperger die Vorschläge zu den neuen Verbraucherpreisen verhandelt.
Das Politbüro behandelte die Preispolitik am 21. August 1979 im Kontext des Volkswirtschaftsplans für 1980.
Seitdem entwickelten sich die Preisvorstellungen in einer Art Selbstlauf. Eine Woche später wurden Honecker im ZK-Gebäude Erzeugnisse mit neuer Verpackung vorgestellt, für die Preiserhöhungen in Betracht kamen. Im Ergebnis dieser Ausstellung erhielt das Amt für Preise den Auftrag, unverzüglich die neuen Preise zu bestätigen. Einzelne Industrieministerien beriefen sich dabei auf die Zustimmung Honeckers während seines Rundgangs am 28. August. Den Ministern hatte Honecker an diesem Tag die Orientierung gegeben, für Waren, die sich durch veränderte Gebrauchswerteigenschaften oder durch eine "Niveauverbesserung" (schöneres Aussehen, attraktivere Verpackung) auszeichnen, deutlich höhere Preise festzusetzen.
Konkrete Beschlüsse des Politbüros, des Sekretariats des ZK bzw. des Ministerrats lagen scheinbar nicht vor. Die Minister beriefen sich auf persönliche Anordnungen des Generalsekretärs bzw. des Wirtschaftssekretärs, wie es in einer geheimen MfS-Mitteilung für Mielke vom 6. September 1979 hieß: "Im Informationsaufkommen von IM [inoffiziellen Mitarbeitern des MfS], die leitende oder mittlere leitende Funktionen in Industrieministerien, Kombinaten und Kombinatsbetrieben inne haben bzw. die in Querschnittsbereichen dieser Einrichtungen beschäftigt sind, spiegeln sich zunehmend Probleme wider, die im Zusammenhang mit den inoffiziell bekannt gewordenen Maßnahmen auf dem Gebiet der Verbraucherpreise, über die bereits berichtet wurde, in Verbindung zu bringen sind. ... In den Ministerien eingeleitete Schritte werden unter Berufung auf Festlegungen der Parteiführung allgemein oder Entscheidungen des Generalsekretärs bzw. des Genossen Mittag durchgeführt."
Mit äußerster Skepsis verfolgte die MfS-Hauptabteilung XVIII, die zentrale volkswirtschaftliche Bereiche "operativ" abzusichern hatte, die Preisexperimente. Ihr Leiter, Generalmajor Alfred Kleine, würdigte zwar durchaus die ökonomischen Effekte der Preiskorrekturen, sorgte sich aber vor allem über deren politische Sprengkraft. In einer Stellungnahme vom 7. August 1979 kam Kleine zu der Überzeugung, dass die geplanten Preiserhöhungen unweigerlich zu Einbußen im Realeinkommen der Bevölkerung und damit zur Schwächung der politischen Moral und Leistungsbereitschaft der Werktätigen führen würden: "Die Durchführung dieses Vorschlages würde in der Bevölkerung der DDR ... eine Schockwirkung auslösen. Es muß mit negativen Auswirkungen auf die politische Moral und den Leistungswillen breiter Schichten der Werktätigen gerechnet werden, wodurch eine Reihe von Problemen unserer Volkswirtschaft 1980 zusätzlich verschärft werden können. Die Erfolge unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag würden in Zweifel gezogen. Die politische Stimmung im Volk würde sich unter dem Einfluß der BRD-Massenmedien erheblich verschlechtern."
Das abrupte Ende des Preisexperiments
Mitte September 1979 sorgte sich Hauptabteilungsleiter Kleine vor allem über die unkoordinierten und chaotischen Arbeiten an neuen Preisen für einzelne Erzeugnisse in den Industrieministerien, bei denen "ungenügend von den zu erwartenden Reaktionen in Teilen der Bevölkerung ausgegangen wird. Diskussionen sind zu erwarten bei solchen Arbeitern, die traditionelle Produkte mit neuen Preisaufdrucken versehen (z.B. Untertrikotagen: Preisverdopplung) oder neue Etikette und Flaschen für alte Erzeugnisse verwenden (Spirituosen/Wein)."
Die HA XVIII informierte Minister Mielke Anfang November 1979 noch einmal eindringlich über die besorgniserregende Stimmung, die der tatsächliche bzw. zu erwartende Preisauftrieb in der Bevölkerung verursacht habe: "Aus dem bisherigen Verlauf der Arbeiten zur Realisierung der Wertzuwachsmaßnahmen ist erkennbar, dass infolge des Fehlens einer durchgängig einheitlichen Orientierung Entscheidungsunsicherheiten, die Einleitung/Rücknahme von Maßnahmen und andere Erscheinungen für ein der Zielstellung abträgliches Durcheinander eingetreten sind. Vom sicherheitspolitischen Standpunkt ist zu beachten, dass das Ausmaß, welches die Diskussionen und negativen Stimmungen unter Teilen der Bevölkerung angenommen hat, entscheidend den Spielraum für die weitere Realisierung der Wertzuwachsmaßnahmen bestimmt."
Vieles spricht dafür, dass Mielke den Generalsekretär über die besorgniserregenden Stimmungsberichte informierte und von weiteren Maßnahmen abriet. Honecker ließ aus diesem Grund Ende Oktober 1979 die Preisexperimente in zentralen Bereichen abbrechen. In einer internen Beratung am 29. Oktober, an der die Politbüro-Mitglieder Mittag und Jarowinsky sowie Amtsleiter Halbritter teilnahmen, erklärte Honecker den Versuch, höhere Verbraucherpreise auf breiter Front durchzusetzen, für gescheitert: "Es ist notwendig, einige Sachen, die bei den Preisen nicht so gehen, zu korrigieren. Eine einfache Preisverdopplung bei neuen Waren geht nicht. Wir befinden uns in der Vorbereitung des X. Parteitages. Die Vorbereitung geht nicht mit einer breiten Stimmung des Mißmutes. Bei unseren Richtlinien sind die Erfahrungen auszuwerten, dass unsere Menschen noch nicht alles verstehen. Das Schlimmste wäre, wenn die Partei das nicht erklären kann. Deshalb ist die Verbraucherpreispolitik so zu machen, dass die richtige Stimmung zur Vorbereitung des Parteitages bleibt. Die Preisfrage und die Politik auf diesem Gebiet kann man nicht nur als Planungs- und Bilanzfrage betrachten, sondern die Preisfragen haben eine gesellschaftliche Bedeutung. Man kann nicht über Preisfragen im Innern Dinge lösen, die uns auf dem Außenmarkt Probleme bringen. Die Preisfragen haben die Aufgabe, im Innern ein richtiges Verhältnis zwischen Kauffonds und Warenfonds herzustellen, innere Kaufkraft abzuschöpfen und die Mark der DDR dadurch zu stabilisieren. Die Lösung der Probleme der Zahlungsbilanz geht nur über höhere Leistungen und Änderung der Export- und Importstruktur."
Damit hatte Honecker dem Konzept seines Wirtschaftssekretärs, über deutliche Preisanhebungen im Inland auch eine Verbesserung der Zahlungsbilanz im Devisengeschäft mit den westlichen Industrieländern zu erreichen, eine deutliche Absage erteilt. Die Rückkehr zur alten Preispolitik bedeutete nach Ansicht Honeckers freilich nicht, dass auf Preissteigerungen künftig verzichtet werden könne. Für neue Erzeugnisse sollten entsprechend der Qualität auch höhere Preise festgesetzt werden. Generell sei der Schwerpunkt auf obere Preisgruppen zu legen: "Es kommt darauf an, sukzessive die Fragen zu lösen, die Preisgruppen zu verändern und auch ihre Anteile zu verändern, so dass wir innerhalb der Preisgruppen zu einer neuen inhaltlichen Qualität kommen, wobei die obere Preisgruppe die neuen Erzeugnisse beinhalten muss. Es ist eine Übersicht herzustellen, welche neuen Preise zu welchem Zeitpunkt auf die Bevölkerung wirken, und welche Konzentrationen es dabei bei bestimmten Sortimenten gibt. Das brauchen wir, um nicht überrascht zu werden. Gleichzeitig ist dazu eine gründliche Parteiinformation durchzuführen." Der schleichende Preisauftrieb wurde nun zur Grundlage der Plankonzeptionen. Insbesondere bei Textilien, Schuhen und "Gütern mit hohem Gebrauchswert" wurde permanent an der Preisschraube gedreht. Aber auch die gezielt vorgenommen Aktionen zur Steigerung des Preisniveaus, die keineswegs nur wirklich hochwertige Produkte betrafen, reichten nicht aus, um das Warenangebot mit der Kaufkraft tatsächlich in Einklang zu bringen.
Im Unterschied zu bisherigen Annahmen
Am 5. November 1979 erteilte der SED-Chef Halbritter persönlich den Auftrag, die überhöhten Endverbraucherpreise für bestimmte Erzeugnisse, die intern als "Skandalpositionen" bezeichnet wurden, umgehend zu korrigieren.
Damit hatte Honecker persönlich das Preisexperiment administrativ beendet. Die ursprünglich geplanten Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel waren schon zuvor in der Schreibtischschublade Schürers abgelegt worden. In der gleichen Weise wurden die anvisierten drastischen Preiserhöhungen für Benzin und Diesel – die Preise für Kraftstoffe sollten um mehr als 150 Prozent steigen – vorerst auf Eis gelegt. Schließlich verpflichtete Honecker am 5. November Halbritter bis auf Widerruf dazu, bei Preisfragen einzig und allein Weisungen und Anordnungen des Generalsekretärs zu befolgen – ein wohl einzigartiger Vorgang. Halbritter selbst deutete dies zurecht als Zeichen des Misstrauens gegenüber dem Vorsitzenden des Ministerrats Willi Stoph, der formal Halbritters Vorgesetzter war: "Genosse Halbritter berichtete, dass er in den letzten Beratungen beim Generalsekretär ein zunehmend erkennbares Mißtrauen des Genossen Honecker gegenüber Genossen Stoph festgestellt hat."
Die HA XVIII des MfS schätzte ein, dass die angeordneten Preiskorrekturen "aus Sorge um die Auswirkungen auf die Bevölkerung mit großer Erleichterung aufgenommen und dementsprechend zügig umgesetzt werden".
Erwartungsgemäß befand sich im Spätherbst 1979 der Leiter des Amtes für Preise in Erklärungsnot. Er musste sich für Maßnahmen rechtfertigen, die er offenbar nicht direkt beeinflussen konnte. Halbritter verwies auf den Wirtschaftssekretär und dessen ZK-Abteilung Planung und Finanzen als die vermeintlich Schuldigen für die Preispolitik der vergangenen Monate. Auf eine entsprechende Frage des Vorsitzenden des Ministerrates antworte der eigentlich dafür zuständige der Leiter des Amtes für Preise am 7. November 1979: "Dazu erklärte Genosse Halbritter, dass das Amt für Preise und somit er aus dieser Sache ausgeschaltet worden war. Der Genosse Dr. Mittag und die Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED haben anlässlich der Ausstellungen über neue und weiterentwickelte Erzeugnisse im August die jetzt zu korrigierenden Entscheidungen organisiert und getroffen. Dem Genossen Halbritter wurde angedroht, diese Entscheidungen im Amt für Preise konsequent durchzusetzen, ansonsten wurden disziplinarische Maßnahmen angekündigt."
Während intern weiterhin über Preissteigerungen bei hochwertigen Konsumgütern intensiv nachgedacht wurde, wollte Honecker sich auf neue Experimente bei Benzin, Lebensmitteln, Dienstleistungen und Mieten nicht mehr einlassen. Den Wortwechsel während einer internen Beratung über die künftige Preispolitik am 19. November 1979 im Büro Honeckers, an der Werner Jarowinsky, Günter Mittag, Joachim Herrmann, Horst Dohlus und Walter Halbritter teilnahmen, überlieferte das MfS wie folgt: "Genosse Honecker gab bekannt, dass die OPEC-Länder eine weitere Erdölpreiserhöhung vorbereiten. Zum Genossen Halbritter gewandt stellte er die Frage, was zu tun sei. Genosse Halbritter schlug vor, die Verbraucherpreise für Vergaserkraftstoffe bei uns zu erhöhen. Das wurde jedoch vom Genossen Honecker kategorisch abgelehnt. Er erklärte, dass gegenwärtig keine generellen Preisveränderungen durchgeführt werden."
Wie immer in derartigen prekären Situationen, in denen die Glaubwürdigkeit der SED ernsthaft Schaden nahm, suchte der Generalsekretär nach Sündenböcken. Hierfür kamen in erster Linie der zuständige Finanzminister Siegfried Böhm und der Leiter des Amtes für Preise Walter Halbritter infrage. Halbritter kam noch glimpflich davon. Er stand im Spätherbst 1979 zwar in Zentrum parteiinterner Anfeindungen, musste jedoch nicht mit einer Parteistrafe oder sogar dem Verlust des Amtes rechnen. Er gehörte zudem zu jenen Skeptikern, die mit der von Mittag und Schürer ausgehandelten Ausweitung der Preiserhöhungen auf Grundnahrungsmittel nicht einverstanden gewesen waren. Während einer Festveranstaltung anlässlich des 62. Jahrestages der Oktoberrevolution am 7. November 1979 in Berlin stand Halbritter im Mittelpunkt der Gespräche, die um das gerade misslungene Preisexperiment kreisten. Ein Informant berichtete dem MfS über "besorgte Anfragen" verschiedener Funktionäre zur Preispolitik an Halbritter: "Anlässlich der Festveranstaltung nahmen mehrere Persönlichkeiten der Partei- und Staatsführung die Gelegenheit wahr, mit dem Genossen Halbritter über anstehende Preisprobleme und -diskussionen zu sprechen bzw. darüber ihre Meinung mitzuteilen. Gen. Halbritter schätzte ein, dass ein Teil der Persönlichkeiten ernsthaft bemüht war, genauere Informationen über den gegenwärtigen Stand der Preispolitik von ihm in Erfahrung zu bringen. Von einer weiteren Anzahl dieser Persönlichkeiten wurde er nach seinen Worten im wahrsten Sinne des Wortes angenölt."
Der Vermerk eines Inoffiziellen Mitarbeiters aus dem Führungszirkel der Staatlichen Plankommission über die persönlichen Gespräche während der Festveranstaltung dokumentiert einerseits die tiefe Zerrissenheit, die innerhalb des Politbüros über die Frage der Stabilität der Verbraucherpreise bestand. Anderseits herrschten selbst bei den Befürwortern der Preiserhöhungen Unsicherheit und Skepsis über die Folgen derartiger Anordnungen in der Bevölkerung. Generell Klarheit herrschte über eine Tatsache, die am Ende der 1970er-Jahre nun nicht mehr einfach ignoriert werden konnte: Die der Bevölkerung gewährten sozialpolitischen Vergünstigungen, nicht zuletzt das Festschreiben von Verbraucherpreisen und Mieten, die wachsenden Ansprüche an die Versorgung mit Konsumgütern und Nahrungsmitteln sowie die höheren Rohstoffkosten, denen innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zunächst keine höheren Exportpreise für Fertigwaren folgen durften, waren durch die Leistungen der DDR-Volkswirtschaft nicht zu finanzieren. Doch wie man aus diesem Dilemma herauskommen konnte, darüber gab es nach dem missglückten Preisexperiment keine konkreten Vorstellungen.
Resümee
Wie aus den bislang zugänglichen Archivdokumenten hervorgeht, hatten im Sommer 1979 hauptsächlich Gerhard Schürer und Günter Mittag die Anhebung der Verbraucherpreise aus ökonomischen Gründen vorangetrieben. Beide vereinte zu dieser Zeit der Gedanke, zwei Probleme der Binnen- und Außenwirtschaft wenn nicht zu lösen, so doch abzumildern: Binnenwirtschaftlich überstieg die Nachfrage das Einzelhandelsangebot; die stabilen Verbraucherpreise des Grundbedarfs erhöhten den Anteil der Subventionen im Staatsbudget. Außenwirtschaftlich schlugen die Kostensteigerungen auf den Weltmärkten für Rohstoffe auf die Binnenwirtschaft durch; das verschärfte die ohnehin angespannte Zahlungsbilanz gegenüber dem westlichen Ausland. Bei ihren Vorschlägen konnten Schürer und Mittag auf die Unterstützung des Finanzministers Siegfried Böhm zählen, der die Erhöhung der Verbraucherpreise als Voraussetzung für einen einigermaßen ausgeglichenen Staatshaushalt betrachtete. Walter Halbritter war dagegen für eine moderatere Variante der Preissteigerungen eingetreten, obgleich er ebenfalls eine Anhebung der Verbraucherpreise für unvermeidlich hielt. Vieles spricht dafür, dass das Preisexperiment nicht, wie bislang angenommen, hinter dem Rücken des Generalsekretärs, sondern mit dessen stillschweigender Duldung durchgeführt wurde. Erst nachdem die ersten Preissteigerungen im September/Oktober 1979 zu flächendeckenden Spekulationen und Hamsterkäufen in der Bevölkerung und zu dramatischen Lageeinschätzungen des MfS geführt hatten, zog Honecker schließlich die Notbremse und ließ die begonnene Preiserhöhung rückgängig machen.
Nach dem Scheitern des Experiments und der Intervention Honeckers gehörte auch Günter Mittag zu den erklärten Gegnern allgemeiner Preiserhöhungen für Erzeugnisse des Grundbedarfs. Stärker als je zuvor rangierte politischer Machterhalt vor wirtschaftlichem Sachverstand. Vor dem Hintergrund der Streikwelle in Polen im Sommer 1980, die durch drastische Preiserhöhungen ausgelöst worden war, folgte die Mehrheit des Politbüros dem politischen Kalkül, trotz dringender wirtschaftlicher Erfordernisse eine Gefährdung der eigenen Macht unter allen Umständen zu vermeiden. Generell konnten sich jene Wirtschaftsfunktionäre, die Verbraucherpreise nicht nur als Teil der Sozialpolitik, sondern ebenso als ein Instrument der Wirtschaftspolitik betrachteten, bis zuletzt nicht durchsetzen.