Zwischen "Störfreimachung" und Rückkehr zum Tagesgeschäft
Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Mauerbau (1961–1969)
Peter E. Fäßler
/ 23 Minuten zu lesen
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Eigentlich war nach dem Mauerbau mit negativen Auswirkungen für den deutsch-deutschen Handel zu rechnen. Aber abgesehen von kurzfristigen Irritationen kehrte man rasch zum Tagesgeschäft zurück.
I. Einleitung
Große Hoffnungen setzte das SED-Politbüro in die Berliner Mauer. Sie sollte zwei wesentliche Voraussetzungen gewährleisten, damit das sozialistische Modell endlich seine wahren Vorzüge entfalten und im Systemwettbewerb den demokratisch-marktwirtschaftlichen Gegenentwurf, sprich die Bundesrepublik, überflügeln könnte. Erstens würde die Mauer gut ausgebildeten Arbeitskräften den Weg nach Westdeutschland versperren, wo sie bislang in großer Zahl das Wirtschaftspotential des "Klassenfeindes" gestärkt hatten. Künftig blieben sie den volkseigenen Betrieben erhalten und forcierten den ökonomisch-technologischen Fortschritt der DDR-Volkswirtschaft. Zweitens erlaubte das Bauwerk eine effektivere Kontrolle und Reduzierung unliebsamer Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten auf kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene. Denn sowohl die über 60.000 DDR-Pendler, die in West-Berlin tagtäglich ihrer Arbeit nachgingen, als auch die mannigfachen Bande zwischen Kirchengemeinden, Sportvereinen, Kulturorganisationen, Wissenschaftsverbänden, Familien und Freunden waren den SED-Oberen ein Dorn im Auge, fürchteten sie doch die "zersetzende Wirkung" von Demokratie und Marktwirtschaft auf das sozialistische Bewusstsein.
Bekanntlich erfüllte die Berliner Mauer hinsichtlich der benannten Punkte die in sie gesetzten Erwartungen. Der demografische Aderlass versiegte und auch die gesellschaftlichen West-Ost-Beziehungen dünnten in den 1960er-Jahren merklich aus. Allerdings gelang es trotz der umfassenden Abschottung nicht, zwei bedeutsame westdeutsche Einflussfaktoren auf die eigene Bevölkerung auszuschalten. Zum einen blieben die bundesrepublikanischen Medien in den ostdeutschen Wohnstuben dauerhaft präsent, vor allem der Rundfunk, in zunehmendem Maße aber auch das Fernsehen. Sämtliche Bemühungen, dieser medialen Infiltration Herr zu werden, schlugen fehl und zeigten damit der Partei die Grenzen ihrer Herrschaftsdurchsetzung auf.
Zum anderen entwickelten sich auch die Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik in mittelfristiger Perspektive weitgehend ungestört, sieht man einmal von einem
kurzfristigen Rückgang des Handelsvolumens während der Jahre 1961 und 1962 ab (Abbildung 1). Dieser Befund überrascht, weil Parteiführung wie Regierung im Rahmen der sogenannten "Störfreimachung" nachdrücklich eine außenwirtschaftliche Neuausrichtung verkündet hatten, die im Kern eine Abkehr vom kapitalistischen Westen und eine verstärkte Hinwendung zum sozialistischen Osten beinhaltete. Auf diese Weise gedachte man künftigen Wirtschaftssanktionen und politischen Erpressungsversuchen jegliche Grundlage zu entziehen.
Wieso aber folgten den Worten nicht die entsprechenden Taten? Schließlich lag im Gegensatz zur westmedialen Durchdringung der DDR die Gestaltungskompetenz auf dem Gebiet der Außenwirtschaft doch in den Händen von Partei und Staat. Fehlte es an der politischen Entschlossenheit für einen konsequenten Abschottungskurs, weil dieser sehr teuer zu stehen kommen würde oder sich aus wirtschaftlich-technischen Gründen in Teilen als undurchführbar erweisen könnte? Missachteten Funktionseliten in Ministerialbürokratie und Außenhandelsbetrieben vorsätzlich die parteiamtlichen Anweisungen? Beiden Fragen liegt die Vermutung zugrunde, dass Sachzwänge oder gesellschaftlicher Eigensinn der außenwirtschaftlichen Gestaltungskompetenz engere Grenzen steckten, als es auf den ersten Blick zu erwarten wäre.
Ein dritter Erklärungsansatz bietet sich an. Womöglich hatte es frühzeitig aus Bonn Hinweise gegeben, dass die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten überhaupt keine Wirtschaftssanktionen planten. In diesem Falle hätte sich eine kostspielige Umsteuerung des Außenhandels erübrigt. Sollte sich diese Argumentation als stichhaltig erweisen, bliebe zu klären, weshalb Bonn auf wirtschaftliche Strafmaßnahmen verzichtete. Wollte man wegen des isolierten West-Berlins eine Kriseneskalation vermeiden? Oder zweifelten der Kanzler und seine Minister grundsätzlich an der Wirksamkeit eines Lieferboykotts?
Offenkundig standen im Sommer 1961 die wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen hüben wie drüben vor einer überaus komplexen Entscheidungssituation. Die Entscheidungsabläufe jener Monate stellen gewissermaßen ein Lehrstück über das Spannungsverhältnis von politischer und ökonomischer Eigenlogik, daraus abgeleiteten Eigeninteressen und politischem Durchsetzungsvermögen in unterschiedlichen Herrschaftssystemen dar. Erweitert man das Blickfeld auf die Fortentwicklung der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen während der Jahre nach dem Mauerbau, so treten zwei strukturelle Schwächen der DDR-Wirtschaft offen zu Tage, die später in der Außenwirtschaftskrise der Ära Honecker eine wesentliche Rolle spielten: unzureichende Innovationsdynamik und, damit zusammenhängend, mangelnde Anpassungsfähigkeit an den ökonomischen Strukturwandel.
Beide Aspekte, das Lehrstück vom Sommer 1961 sowie die in den 1960er-Jahren erkennbare ökonomische Strukturschwäche verdienen eine ausführlichere Analyse und werden im Folgenden vorgestellt.
II. Verlässlich, stetig, behäbig: Die organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Struktur der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
Die Wirtschaftsbeziehungen bildeten eine der wenigen konstanten und verlässlichen Größen im Verhältnis beider deutscher Staaten seit 1949. Dies erklärt sich aus dem großen, wenn auch unterschiedlich gelagerten Interesse, welches Ost-Berlin und Bonn mit einem Warenaustausch verbanden. So schätzten SED-Wirtschaftsfunktionäre die Möglichkeit, Engpassgüter zu günstigen Konditionen beziehen und umgekehrt auf dem Weltmarkt schwer absetzbare Produkte in Westdeutschland gewinnbringend verkaufen zu können. Hingegen sprachen aus Sicht der Bundesregierung nur wenige ökonomische Argumente für die Beibehaltung oder gar den Ausbau des deutsch-deutschen Handels. Hierzu zählten etwa die DDR-Braunkohlelieferungen ins Zonenrandgebiet oder die Lebensmittelversorgung West-Berlins aus dem Umland. Mehr noch aber gaben politische Erwägungen den Ausschlag für ein Festhalten am Warenaustausch über die innerdeutsche Grenze hinweg. Seine Funktion als deutschlandpolitische Klammer bzw. Brücke – auch mit Blick auf eine mittelfristig erwartete Wiedervereinigung – sowie seine Qualität als Verhandlungspfund im Kontext der Berlinfrage galten als überzeugende Gründe.
Das handelstechnische Regelwerk war im Berliner Abkommen vom 20. September 1951 festgeschrieben und am 16. August 1960 modifiziert worden. Darin verständigten sich beide Seiten über Art und Menge der auszutauschenden Waren bzw. Dienstleistungen. Anpassungen an geänderte Rahmenbedingungen, kurzfristige Entwicklungen und aktuelle Fragen diskutierten die Verhandlungsdelegationen in 14-täglichen Routinebesprechungen, bei denen bisweilen auch allgemeinpolitische Anliegen auf der Tagesordnung standen. Der Güteraustausch wurde im Clearingverfahren über die Deutsche Bundesbank und die Deutsche Notenbank abgerechnet. Da beide Währungen nicht konvertibel waren, musste eine sogenannte "Verrechnungseinheit" (VE) eingeführt werden. Aus Gründen der politischen Imagepflege galt das Verhältnis von 1 DM-West = 1 VE = 1 DM-Ost, auch wenn diese Parität eine Überbewertung der DM-Ost bedeutete. Weil aber dem deutsch-deutschen Handel die in der Bundesrepublik geltenden Marktpreise zugrunde lagen, entsprach die VE hinsichtlich ihres tatsächlichen Wertes dem der DM-West. Mittels eines zinslosen Überziehungskredits ("Swing") konnten beide Seiten etwaige Negativsalden in ihren Handelsbilanzen ausgleichen.
Im Zeitraum von 1950 bis 1960 wuchs das Handelsvolumen von, gemessen am Vorkriegsstand, bescheidenen 671 Millionen VE auf zwei Milliarden VE. Der auf den ersten Blick beeindruckende Anstieg um rund 210 Prozent liegt deutlich unter den Vergleichswerten für den bundesdeutschen Außenhandel (+395 %) und für den DDR-Außenhandel (+401 %). Daher widerspiegeln die Zahlen weniger die wachsende (Re-)Integration als vielmehr das Auseinanderdriften beider deutscher Staaten auf ökonomischem Felde. Eine genauere, hier nicht weiter auszuführende Analyse würde aufzeigen, dass der politisch motivierten West- bzw. Ostintegration beider Staaten erheblicher Anteil an dieser Entfremdung zukam.
Allerdings resultierte dieser Trend keineswegs nur aus den außenpolitischen Richtungsentscheidungen. Die geringe Entwicklungsdynamik des deutsch-deutschen Handels lag nach selbstkritischer Einschätzung zahlreicher DDR-Außenhändler und Vertreter der DDR-Ministerialbürokratie vor allem an den unzureichenden Produktions- und damit Lieferkapazitäten der volkseigenen Industrie, an Qualitätsmängeln ihrer Produkte, an Schwächen beim Service und Kundendienst sowie am wachsenden technologischen Rückstand wichtiger Schlüsselbranchen. Beispielsweise verloren ehedem konkurrenzfähige Branchen wie die Elektrotechnik oder der Büromaschinenbau peu à peu Marktanteile im Westen.
Der prozentuale Anteil von Maschinenbau-erzeugnissen an den gesamten DDR-Lieferungen in die Bundesrepublik sank von 18 Prozent im Jahr 1953 auf zehn Prozent im Jahr 1958. Kompensiert wurde dieser Rückgang durch Zuwächse bei Grund- und Rohstoffen. Insbesondere die Braunkohle trug mit mehr als einem Viertel des Gesamtwertes aller DDR-Lieferungen wesentlich zu einer halbwegs ausgeglichenen Handelsbilanz bei. Allerdings bahnte sich in der Bundesrepublik bereits der energiewirtschaftliche Strukturwandel von den Primärenergieträgern Braun-/Steinkohle zum Mineralöl ab. Folglich wandelte sich die Braunkohle vom Verkaufsschlager zum Ladenhüter.
Der allgemeine Trend zum technisch anspruchsloseren, damit weniger profitablen Güterspektrum rückte die DDR in eine zunehmend inferiore Position. Umgekehrt verfügte die Bundesrepublik insbesondere bei Spezialstählen, nahtlosen Rohren und hochwertigen Maschinen über eine außerordentlich starke Verhandlungsbasis. Angesichts der für die DDR so misslichen Situation bestand zwischen politischer, administrativer und operativer Ebene, sprich zwischen Partei, Außenhandelsministerium und Außenhandelsunternehmen ein tiefer Dissenz bezüglich der Frage, wie künftig vorzugehen wäre. Einerseits schätzten vor allem Wirtschaftsfunktionäre die hochwertigen Lieferungen aus Westdeutschland, für die keine Devisen aufgebracht werden mussten. Unterstützt wurden sie in ihrer Haltung von zahlreichen Betriebsleitern und Ingenieuren, die aus positionsbezogenem Eigeninteresse an den bewährten Geschäftskontakten in die Bundesrepublik festhalten wollten. Andererseits warnten ideologische Puristen stets vor einer wirtschaftlich-technologischen Abhängigkeit, Vertreter der Sicherheitsorgane sorgten sich vor Diversion und Sabotage.
III. Kündigung – Störfreimachung – Mauerbau. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen im Kontext der zweiten Berlinkrise
Die Überzeugung, dass die DDR sich aus einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zur Bundesrepublik befreien müsste, lässt sich bis in die Anfänge der deutsch-deutschen Geschichte zurückverfolgen. Aber erst im Januar 1961 erlangte sie politische Handlungsmacht in Gestalt des Beschlusses der Staatlichen Plankommission "über die Sicherung der Wirtschaft der DDR gegen willkürliche Störmaßnahmen militaristischer Kreise in Westdeutschland vom 4. Januar 1961".
Den maßgeblichen Impuls für diese weitreichende Entscheidung gab die Kündigung des Berliner Abkommens durch die Bundesregierung am 30. September 1960. Sie sollte zum 1. Januar 1961 in Kraft treten. Vor allem Kanzler Konrad Adenauer und Außenminister Heinrich von Brentano hatten gegen den Widerstand von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard diesen sehr energischen Schritt beschlossen, in Reaktion auf das vom 1. bis 4. September 1960 verhängte Besuchsverbot für Bundesbürger in Ost-Berlin. Das Einreiseverbot wollte das SED-Politbüro als Sanktion für die zeitgleich in West-Berlin abgehaltene Jahrestagung des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen sowie für den vom Bund der Vertriebenen organisierten "Tag der Heimat" verstanden wissen. Die sich wechselseitig hochschaukelnde Konfrontation führte schließlich zur Kündigung des Berliner Abkommens.
Auch wenn ein tatsächlicher Handelsabbruch nach zähem Ringen in letzter Minute noch abgewendet worden war, blieb SED-Chef Walter Ulbricht misstrauisch und nahm den Vorgang als willkommenen Anlass, seine latenten Sorgen vor westdeutschen Erpressungsversuchen in das konkrete Programm der "Störfreimachung" münden zu lassen. Bestärkt fühlte er sich in seinem Argwohn durch eine neue Regelung, welche die Bundesregierung ungeachtet allen Protests des ostdeutschen Delegationsleiters verabschiedet hatte. Die ab Januar 1961 geltende Widerrufklausel sah vor, dass im Falle politischer Unbotmäßigkeiten der DDR einzelne Lieferverträge kurzfristig außer Kraft gesetzt werden konnten. Damit verfügte Bonn über ein sehr fein justierbares Sanktionsinstrument, ohne das Berliner Abkommen gleich als Ganzes in Frage zu stellen. Die Parteiführung interpretierte die Widerrufklausel als einen untrüglichen Hinweis auf unlautere Absichten der Bundesregierung, sprich die Behinderung des wirtschaftlich-technologischen Fortschritts in der DDR.
Eben diesem Ansinnen sollte die Störfreimachung entgegenwirken. Dabei stand keineswegs das Ende der deutsch-deutschen Handelsbeziehungen zur Debatte. Vielmehr strebte man ihre Ausgestaltung in einer Weise an, die keine ernsthaften Beeinträchtigungen des Produktionsablaufes durch westdeutsche Akteure mehr zuließ. Konkret galt es, aus der Bundesrepublik bezogene Waren mit hohem Störpotential für die volkseigene Industrie ganz oder teilweise zu substituieren, was auf drei Wege vorstellbar war: Einsparung – Ersatz – Verlagerung.
Oberste Priorität wurde der Einsparung beigemessen. Falls sie sich nicht realisieren ließe, suchte man nach Möglichkeiten, das entsprechende Produkt selbst herzustellen oder ein Funktionsäquivalent zu entwickeln. Erwies sich auch dieser Weg als nicht gangbar, setzte man auf die Verlagerung der Bezugsquelle. Vorrangig wünschte man Lieferanten aus der Sowjetunion zu gewinnen, aber auch Betriebe aus anderen sozialistischen Staaten kamen in Frage. Nur wenn Hersteller aus verbündeten Ländern wegen technischer oder kapazitärer Überforderung abwinkten, durften potentielle Vertragspartner in neutralen oder gar in NATO-Staaten angesprochen werden.
Die Störfreimachung erfasste neben materiellen Produkten auch immaterielle Güter. Bei Lizenzen, Patenten und Warenzeichen untersagte das Politbüro jedwede Form bislang praktizierter Kooperationen. Das betraf beispielsweise den VEB Filmfabrik Wolfen, der gemeinsam mit der Agfa AG Leverkusen Fotofilme unter dem Label "Agfa" auf Drittmärkten vertrieb. Nutzungskonflikte um bestimmte Firmennamen galt es rasch zu lösen. Im prominenten Fall "Deutsche Lufthansa" musste man nach langjährigem Streit 1963 Firmenname und -logo dem in Köln ansässigen Unternehmen zugestehen und fortan unter dem Namen Interflug GmbH den Flugverkehr aufrechterhalten. Schließlich sollte die konsequente Umstellung der technischen Normierung vom deutschen System (DIN) auf das sowjetische System (GOST) bzw. die ostdeutsche Variante TGL vorangetrieben werden, ein Vorhaben, das sich bereits etliche Jahre hingezogen hatte.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche außenwirtschaftliche Neuausrichtung organisatorisch sehr aufwändig und finanziell kostspielig war. André Steiner zufolge floss allein im Jahr 1962 knapp ein Drittel der für Forschung und Entwicklung eingeplanten Gelder in die verschiedenen Maßnahmen. Insgesamt dürften sich die Ausgaben für die "Störfreimachung" auf rund eine Milliarde MDN belaufen haben.
Wenn so viel Geld in die Hand genommen wurde, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Erfolgsbilanz. Zahlreiche Berichte an die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKSK) belegen, dass die Umsetzung der Störfreimachung ausgesprochen schleppend verlief. Diesen Eindruck bestätigt auch der Bericht einer vom Politbüro eingesetzten Untersuchungskommission, dem die Überprüfung von über 40 VEB aus den Bereichen Chemie, Maschinenbau, Leicht- und Rundfunkindustrie zugrunde lag. Im Wesentlichen verzeichnen die Quellen vier neuralgische Punkte:
Fehlendes technisches know how:
Oftmals scheiterte die eigene Herstellung des zu substituierenden Produktes oder eines funktionsäquivalenten Ersatzproduktes an unzulänglichen technischen Kenntnissen.
Engpässe bei Ressourcen bzw. Produktionskapazitäten:
Selbst wenn das erforderliche Expertenwissen vorhanden war, verhinderten Engpässe bei Material und Produktion einen vollständigen Verzicht auf bestimmte Westimporte. Das betraf indirekt auch die Versorgungslage in der Sowjetunion, die zahlreiche Anfragen nach kompensatorischen Lieferungen abschlägig beschied.
Mangelhafte Planung, Koordinierung und Umsetzung:
Schwächen auf der organisatorischen Ebene sind in großer Zahl dokumentiert, ebenso die dadurch hervorgerufenen massiven Reibungsverluste. Stellvertretend für zahlreiche andere Beispiele sei folgender Fall geschildert: Dem VEB Karl Liebknecht/Magdeburg gelang es auftragsgemäß, im Jahr 1961 westdeutsche Kurbelwellen durch Eigenproduktion zu ersetzen; die für die Herstellung notwendigen Manometer aber mussten aus der Bundesrepublik bezogen werden. Damit wurde das Ziel einer Störfreimachung eindeutig verfehlt. Ironie der Geschichte: die Manometer waren bis 1960 in der DDR selbst hergestellt worden, aufgrund einer Planumstellung hatte man aber die Produktion aufgegeben.
"Eigensinn" auf der operativen Ebene:
Es ist eine triviale Einsicht, dass eine Reform nicht jenen Gruppen überlassen werden sollte, die von ihr eher Nachteile zu erwarten haben. Zu groß ist das Risiko, dass sie das Projekt stillschweigend im Sande verlaufen lassen. Die zahlreichen Klagen von Parteikontrolleuren über die "Westkrankheit" der technischen und ökonomischen Funktionseliten, welche lieber an bewährten Geschäftspartnern in der Bundesrepublik festhalten, als die mühselige und kostspielige Suche nach Ersatzlösungen oder nach zuverlässigen Lieferanten aus den sozialistischen Staaten auf sich nehmen würden, dürfen als Beleg für diese Einsicht gelten. Die Beobachtung war plausibel, entsprach sie doch den Eigeninteressen von Außenhändlern und Ingenieuren. Ihr wichtigstes Anliegen bestand in der Erfüllung der Planvorgaben, was am ehesten in Kooperation mit bewährten Partner und vertrauten Qualitätsprodukten gelang. Der politisch-ideologische Hintergrund spielte bei derartigen Erwägungen eine nachrangige Rolle. Dies umso mehr, als gegenüber den sozialistischen Betrieben in den "Bruderländer" erhebliche Vorbehalte hinsichtlich Lieferfähigkeit, -willigkeit, Vertragstreue und Produktqualität verbreitet waren.
Trotz massiver Probleme erzielte die Störfreimachung nachweisbare Effekte, in einzelnen Industriezweigen sogar sehr beachtliche. Beispielsweise betrug der Umsatzrückgang im deutsch-deutschen Handel während der Jahre 1960–1962 bei der Elektrotechnik rund 62 Prozent, gefolgt vom Maschinen- und Fahrzeugbau (–54 %) und Feinmechanik/Optik (–46,2 %). Ob damit die Branchen tatsächlich als "störfrei" angesehen werden konnten und in diesem Sinne die Kampagne ihr Ziel erreichte, lässt sich schwer einschätzen. Diesbezügliche in den Kontrollberichten enthaltene Erfolgsmeldungen sind mit Vorsicht zu interpretieren, handelt es sich doch um kaum überprüfbare Selbstauskünfte der einzelnen Industriezweige. Außerdem wurde die gesamte Aktion keinem "Stresstest" seitens der Bundesregierung unterzogen.
Selbstverständlich beriet das Bundeskabinett nach dem 13. August 1961 ausführlich über die Frage, ob es auf den Mauerbau mit Wirtschaftssanktionen reagieren sollte. In der Vergangenheit hatten sich Bundeskanzler und Außenminister mit ihrer restriktiven handelspolitischen Linie mehrfach gegen den Bundeswirtschaftsminister durchzusetzen vermocht. Daher überrascht es, dass ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Berlinkrise und damit der deutschlandpolitischen Konfrontation Wirtschaftssanktionen keine nennenswerte Rolle in den Planungen spielten. Ludwig Erhard leistete offenkundig erfolgreiche Überzeugungsarbeit für seine auch in Krisenzeiten kooperativere Linie gegenüber der DDR. Drei Hauptargumente dürften seine kabinettsinternen Kontrahenten zur Einsicht gebracht haben:
Erstens lehrte die Erfahrung der fehlgeschlagenen Kündigungsepisode vom Herbst 1960, dass der innerdeutsche Handel seine Funktion als politisch-ökonomisches Druckmittel weitgehend verloren hatte. Umgekehrt wurde ein Schuh daraus: Völlig zu Recht argumentierte Erhard, nur intensive Wirtschaftsbeziehungen könnten gegebenenfalls für politische Gegenleistungen genutzt werden. Der vormalige sowjetische Botschafter in Bonn, Julij A. Kwizinskij, fasste diesen Sachverhalt einmal in das anschauliche Bild vom "goldenen Angelhaken". Zweitens befürchteten alle Kabinettsmitglieder, dass Wirtschaftssanktionen die Berlinkrise weiter anheizen, den Verkehr von und nach West-Berlin gefährden und die Situation in unvorhersehbarer Weise zuspitzen könnten. Das dritte und wohl entscheidende Argument bezog sich indes auf die Haltung der westlichen Verbündeten und deren große Exportunternehmen. Weder die politischen noch die ökonomischen Akteure dieser Länder, so Erhard, hätten in der Vergangenheit Rücksicht auf die besondere deutsche Frage genommen. Im Gegenteil: wo immer sich die Gelegenheit bot, hätten westeuropäische Unternehmen profitable Geschäfte in Osteuropa und namentlich in der DDR getätigt. Es wäre daher zu befürchten, dass die Konkurrenz einen bundesdeutschen Lieferboykott umgehend unterlaufen und dauerhaft Marktanteile gewinnen würde. Tatsächlich signalisierten die Verbündeten nach dem 13. August 1961 sowohl in bilateralen Regierungskonsultationen als auch in den übergeordneten Gremien von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und NATO wenig Bereitschaft, in irgendeiner Weise ein Teilembargo gegen die DDR oder ihre sozialistischen Verbündeten zu verhängen. Insbesondere den Hinweis auf die westeuropäischen Konkurrenten griffen bundesdeutsche Wirtschaftsverbände und prominente Manager auf und unterstützten Erhards Position in der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber Adenauer.
Um nun nicht völlig untätig zu wirken, sprach die Bundesregierung in Abstimmung mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie eine Boykottempfehlung für die Leipziger Herbstmesse 1961 aus. Dem internationalen Aushängeschild der DDR wollte man wenigstens einen Kratzer versetzen. Immerhin traf der Aufruf auf beachtliche Resonanz. Statt der üblicherweise mehr als 1.000 Aussteller aus der Bundesrepublik fanden sich im Herbst 1961 gerade mal 494 Firmen auf dem Leipziger Messegelände ein. Insgesamt verzeichnete die Herbstmesse 1961 nur rund 7.700 westdeutsche Besucher gegenüber 27.800 ein Jahr zuvor. Der Einbruch war gewiss dramatisch, aber kaum nachhaltig. Ab dem Jahr 1963 erreichten die Zahlen wieder den Stand vor dem Mauerbau.
Das Politbüro hatte sehr genau die Stimmung in den westlichen Hauptstädten mit Blick auf ein drohendes Embargo studiert und war bereits im Herbst 1961 zur Einschätzung gelangt, dass weder eine geschlossene westliche Sanktionsfront noch ein Abbruch des innerdeutschen Handels zu befürchten wären. Ungerührt von der offiziell weiterhin propagierten und vorangetriebenen Störfreimachung entwickelte das Außenhandelsministerium daher um die Jahreswende 1961/62 Pläne für neue Kooperationsprojekte mit der Bundesrepublik. Beispielsweise sondierte Chefunterhändler Heinz Behrendt im Frühjahr 1962 in vertraulichen Gesprächen die Möglichkeit, außerhalb des Berliner Abkommens einen Kredit über zwei Milliarden VE mit einer Laufzeit von rund zehn Jahren zu erhalten. Die Planungen sahen vor, dass die Rückzahlung über Warenlieferungen erfolgen sollte. Zwar platzte das Geschäft wegen einer Indiskretion und weil Ulbricht ein öffentliches Schuldenstigma mehr fürchtete, als er ökonomische Vorteile aus dem Kreditgeschäfte wertschätzte. Dennoch belegt der Vorgang das anhaltend hohe Interesse des Politbüros an intensiven Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik. Selbiges gilt für die handelspolitische Direktive des Jahres 1963. Sie beinhaltete die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik, wobei eine Ausweitung von Steinkohlebezügen und der Import von Industrieanlagen als vorrangige Ziele galten.
IV. Entspannung, Deregulierung und die Mineralölfrage
Nimmt man die programmatischen Regierungserklärungen Konrad Adenauers, Ludwig Erhards und Kurt Georg Kiesingers zu Beginn ihrer jeweiligen Kanzlerschaften als Indikator, zeichnete sich ein grundlegender Leitbildwandel in der innerdeutschen Handelspolitik ab. Die "Politik der Stärke" wich mehr und mehr der Auffassung vom "Wandel durch Annäherung". Während Adenauer und Erhard sich noch recht zurückhaltend zu Initiativen bei den deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen geäußert hatten, setzte Kiesinger in seiner Antrittsrede am 13. Dezember 1966 einen unmissverständlichen Akzent. Die Große Koalition strebte nicht nur eine gezielte Förderung des Warenaustausches mit der DDR an. Sie akzeptierte auch Verhandlungen auf oberster Behördenebene, sprich Ministerien. Außerdem befürwortete sie ausdrücklich eine Ausweitung von Kreditgeschäften.
Kiesingers Ankündigung blieb keineswegs ein Lippenbekenntnis, sondern schlug sich in einem umfangreichen handelspolitischen Liberalisierungspaket nieder. Über 20 Vereinfachungen und Erleichterungen beschloss die Große Koalition für den Güter- und Dienstleistungsverkehr mit der DDR. Zu den wichtigsten Punkten zählten:
Abschaffung der Widerrufklausel:
Mit dem Verzicht auf diese von Ost-Berlin heftig kritisierte Regelung signalisierte die Bunderegierung der anderen Seite, dass sie nicht länger eine Handelspolitik der Nadelstiche zu praktizieren gedachte.
Dynamisierung des zinslosen Überziehungskredits: Die im Außenhandel übliche Anpassung von Überziehungskrediten an das jeweilige Handelsvolumen bedeutete nicht nur eine Erleichterung in der alltäglichen Praxis, sondern symbolisiert eine Angleichung an die Gepflogenheiten im Warenverkehr zwischen souveränen Staaten. Damit bereitete die Große Koalition keineswegs der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR den Boden. Vielmehr verabschiedete sie sich von den verkrampften Formalismen im Umgang mit der DDR, wie sie die Ära der Hallstein-Doktrin gekennzeichnet hatten.
Einführung einer Bundesgarantie für langfristige Investitionsgüterlieferungen: Das Pendant zur Hermesbürgschaft im Außenhandel kam vor allem der eigenen Exportindustrie zu Gute. Sie hatte schon lange über die Benachteiligung beim Industrieanlagenbau in der DDR gegenüber westeuropäischen Konkurrenten geklagt.
Gründung der Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen: Die Gesellschaft beriet Unternehmen bei der Anbahnung und Abwicklung komplexer Anlagengeschäfte mit der DDR. Sie stellte eine sinnvolle Ergänzung der Bundesgarantie dar.
Zulassung neuer Kooperationsformen: Mit dieser Entscheidung öffnete Bonn den westdeutschen Unternehmen neue Geschäftsfelder in der DDR (Joint Venture, Lizenzproduktion, Gestattungsproduktion). Zugleich beseitigte sie damit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber westeuropäischen Konkurrenten.
Parallel zu diesem Liberalisierungspaket machte sich im deutsch-deutschen Wirtschaftsdialog eine atmosphärische Entspannung breit. Galten zu Adenauers Zeiten persönliche oder schriftliche Kontakte auf den oberen Ebenen der Ministerialbürokratie wegen der vermeintlichen deutschlandpolitischen Signalwirkung als Katastrophe, sah man dies nun sehr viel gelassener. Gespräche zwischen Staatssekretären, Briefwechsel zwischen Ministern und sogar zwischen Kanzler und Ministerpräsident regten kaum noch jemanden ernstlich auf. Ein weiterer Indikator für das geänderte Klima ist in den zahlreichen Kontakten zwischen Wirtschaftsvertretern und dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel zu sehen. Manager wie Ernst Wolff Mommsen, Berthold Beitz, Carl Hundhausen, Otto Wolff von Amerongen drückten sich dort Ende der 1960er-Jahre gewissermaßen die Klinke in die Hand.
Angesichts der politisch deutlich entspannteren Atmosphäre erscheint es folgerichtig, dass ab 1963 der deutsch-deutsche Warenaustausch wieder auf den Wachstumspfad der 1950er-Jahre einschwenkte. Allerdings verlief er wie gehabt deutlich flacher als jener des bundesdeutschen Außenhandels. Legte der deutsch-deutsche Wirtschaftsaustausch zwischen 1960 und 1969 um 89 Prozent zu, stand der außenwirtschaftliche Vergleichswert bei 133 Prozent. Wie schon länger zu beobachten, verloren die traditionellen, vormals technisch hochentwickelten und profitstarken Exportbranchen Maschinenbau und Elektrotechnik gegenüber dem Westen immer weiter an Boden. Mit dem Einsetzen der mikroelektronischen Revolution verstärkte sich dieser Trend.
Bislang hatte die DDR den Absatzeinbruch durch die Steigerung ihrer Braunkohlenlieferungen auszugleichen vermocht. Der Siegeszug des Primärenergieträgers Mineralöl und seiner Derivate zwang die DDR-Außenhandelsfunktionäre allerdings für die 1960er-Jahre zu einer neuen Kompensationsstrategie. Tatsächlich gelang es, durch den Ausbau der petrochemischen Industrie und unter Ausnutzung der außerordentlich günstigen Erdölimporte aus der Sowjetunion die Lieferung mit entsprechenden Produkten in die Bundesrepublik erheblich zu steigern. Im Jahr 1963 lieferte die DDR petrochemische Erzeugnisse im Wert von 192 Millionen VE nach Westdeutschland, was beachtliche 19 Prozent der Gesamtlieferungen waren. Dabei profitierte die DDR von einer besonders vorteilhaften Marktsituation. Während nämlich die westdeutschen Erdöleinfuhren aus den USA oder dem Nahen Osten mit einem erheblichen Importzoll versehen waren, entfiel diese Abgabe auf die DDR-Kontingente. Denn bei der DDR handelte es sich nicht um Ausland im völkerrechtlichen Sinne, weshalb die Zollgesetzgebung nicht zu Anwendung kommen durfte.
Abbildung 2
Braunkohle- und Kraftstofflieferungen der DDR an die Bundesrepublik Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Eigene Darstellung.
So konnten die DDR den Verkaufspreis ihrer Mineralölprodukte um den Betrag des Importzolls anheben, ohne an Absatzchancen einzubüßen. Das erbrachte einen Mehrerlös von rund 125 Millionen VE pro Jahr. Allerdings endete diese vorteilhafte Marktlage exakt mit dem 1. Januar 1964. Im Zuge der Harmonisierung des EWG-Außenzolls war die Bundesregierung verpflichtet, zum diesem Termin ein Gesetz über die Umstellung der Abgaben auf Mineralöl zu erlassen. Es schrieb die Abschaffung des Importzolls für Mineralöl vor bei gleichzeitiger Erhebung einer Steuer in gleicher Höhe. Aus Gründen der Steuersystematik galt diese Abgabe auch für die DDR-Kontingente, der Sondergewinn entfiel. Die Folgen für die DDR-Handelsbilanz waren dramatisch: Binnen Jahresfrist sank der Absatz bei Mineralölprodukten von 191,7 Millionen VE (1963) auf gerade mal 42,5 Millionen VE., in den Jahren 1967 und 1968 stellte die DDR ihre Lieferungen sogar ganz ein. Kaum eine Maßnahme belegt eindrücklicher, dass die Integration der Bundesrepublik in die EWG zugleich eine Abkehr vom anderen Teil Deutschlands implizierte.
Die Bestürzung darüber war im Politbüro und dem Außenhandelsministerium groß, und Walter Ulbricht ging in seiner Rede auf dem VI. Parteitag 1963 auf dieses Thema ausführlich ein. In ihrer Hilflosigkeit ließen Walter Ulbricht und Erich Apel, Leiter der Staatlichen Plankommission, die Kündigung des Berliner Abkommens prüfen, verwarfen aber diesen Gedanken wieder. Stattdessen forderten sie von der Bundesregierung Kompensationszahlungen in voller Höhe. Auch wenn eine plausible Begründung fehlte, zeigte sich die Bundesregierung bereit, Ausgleichszahlungen zu leisten. Damit unterstrich sie ihr großes politisches Interesse an einer Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zur DDR. Allerdings sollten die Ausgleichszahlungen mit rund 45 Millionen VE deutlich niedriger als die geforderten 125 Millionen VE ausfallen. Die Auseinandersetzung zog sich über mehrere Jahre hin und konnte erst in den Jahren 1968/69 aus der Welt geschafft werden.
Der Streit um die Mineralölfrage zeigte erstmals die enorme Abhängigkeit der DDR von petrochemischen Roh- und Grundstoffen, um die innerdeutsche Handelsbilanz auszugleichen. Mangels geeigneter Exportgüter vermochte sie sich aus dieser Abhängigkeit nicht mehr zu lösen, was in Folge der Turbulenzen der ersten und zweiten Erdölkrise maßgeblich zu ihrem ökonomischen Niedergang beitrug.
V. Fazit
Im Kontext der zweiten Berlinkrise spielten die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in den Planungen des Politbüros wie auch der Bundesregierung eine wichtige Rolle. Beide politische Entscheidungszentren mussten dabei die Grenzen ihrer Durchsetzungsfähigkeit erkennen. So blieb in der DDR die politisch begründete Störfreimachung der Volkswirtschaft in weiten Teilen unvollendet. Das lag einerseits an Defiziten auf der Planungs-, Organisations- und Umsetzungsebene und offenbarte damit Steuerungsineffizienz. Andererseits aber ließen wirtschaftlich-technische Funktionseliten in Produktion und Außenhandel die Maßnahmen immer wieder ins Leere laufen. Allerdings verzichtete die Bundesregierung ihrerseits auf handelspolitische Boykottmaßnahmen, was nicht zuletzt der Haltung ihrer westlichen Verbündeten und deren großen Exportunternehmen geschuldet war. Vielfach beklagte Bonn deren mangelnde politische Solidarität. Sie würden ihre Exportinteressen auf Kosten der Bundesrepublik und der westdeutschen Unternehmen durchsetzen. Letztlich schwenkte die Bundesregierung auf den außenwirtschaftlichen Liberalisierungskurs ein, der die Ost-West-Beziehungen für einige Jahre prägen sollte.
Dass der Warenverkehr trotz der günstigen politischen Bedingungen dennoch hinter dem westdeutschen Außenhandelswachstum zurückblieb, lag an der immer deutlicher zu Tage tretenden Schwäche der DDR-Volkswirtschaft. Bei technologisch anspruchsvollen Gütern, darunter etliche traditionelle Exportbranchen des vormaligen Mitteldeutschlands, verlor sie mehr und mehr den Anschluss an die westliche Konkurrenz und rutschte daher in die Rolle eines Grund- und Rohstofflieferanten. Aber gerade bei den Energieträgern Braunkohle und Mineralöl, die als kompensatorische Exportprodukte fungierten, zeigte sich die Malaise. Aufgrund des zügigen Strukturwandels auf dem Energiesektor in der Bundesrepublik blieb die DDR zunehmend auf ihren Braunkohlekontingenten sitzen. Die als Ersatz vorgesehenen Mineralölprodukte, den Rohstoff bezog die DDR günstig aus der Sowjetunion, büßten sie die anfangs hervorragenden Profitmargen im Zuge der europäischen Harmonisierung der Mineralölbesteuerung ein.
Auf diese Entwicklung reagierte die SED-Führung um Ulbricht mit dem hinlänglich bekannten Vorwurf, imperialistische Kreise in der Bundesrepublik suchten gezielt den sozialistischen Fortschritt zu stören. Außerdem erhob er die Forderung nach Kompensationszahlungen für die weggebrochenen Gewinne. Beide Äußerungen sollten auch die eigene Bevölkerung über die grundsätzliche Problematik, nämlich die eigene ökonomisch-technologische Inferiorität hinwegtäuschen.
Bereits in den 1960er-Jahren schlug die DDR einen außenwirtschaftlichen Entwicklungspfad ein, der in hohem Maße vom Export petrochemischer Produkte geprägt war. Daraus erwuchs eine relative Abhängigkeit, deren verheerenden Konsequenzen sich erstmals im innerdeutschen Handel der Jahre 1964–1969 abzeichneten und in Folge der beiden Ölkrisen 1973/78 vollends herausbildeten.
Der vorstehende Beitrag ist die schriftliche Ausarbeitung eines Vortrages, gehalten auf der gemeinsam vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) und dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) veranstalteten Tagung "Nach dem Mauerbau. Geteilte Entwicklungen – bleibende Verbindungen", 28.–30. September 2011 in Berlin.
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Einwanderung war ein gesellschaftliches Phänomen in der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Wenn von den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989 die Rede ist, finden die…
Dr. rer. nat. et phil. habil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Paderborn.
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