Territoriale Neuordnung in Osteuropa
Nach der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands sahen sich die Alliierten nicht nur mit der Aufgabe konfrontiert, eine Nachkriegsordnung für die Besiegten zu erstellen, sondern sie mussten sich auch um eine große Anzahl an Opfern des Dritten Reiches kümmern: Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager, Kriegsgefangene und Millionen Zwangs- beziehungsweise Ostarbeiter. Bereits während des Krieges gründeten die Alliierten die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Sie sollte die Aufgabe übernehmen, die sogenannten Displaced Persons (DP) in Lagern zu sammeln, zu registrieren und zu versorgen, um sie schließlich in ihre Heimatstaaten zu repatriieren.
Unter den DPs gab es aber mehrere Zehntausende, die eine Heimkehr aus diversen Gründen verweigerten. Am Beispiel der ukrainischen DPs kann gezeigt werden, wie heterogen ihre Motive hierfür waren. Mitglieder der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) etwa hatten nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion gehofft, einen eigenen Staat gründen zu können und deshalb aktiv den Vormarsch der Wehrmacht gegen die Rote Armee unterstützt. Zentral ist hier vor allem die Person Stepan Banderas. Bandera gehörte dem radikalen, faschistischen Flügel der OUN, auch OUN-B genannt, an. Mittels deutscher Hilfen hob sie die militärischen Einheiten "Roland" und "Nachtigall" aus, die sich am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligen sollten, ihre Aktionen aber auch gegen die Polen richteten. Die OUN-B sah die Truppen als Voraussetzung für eine unabhängige Ukraine, die schließlich am 30. Juni 1941 Yaroslav Stets’ko unter Billigung Banderas in Lemberg ausrief. Die Deutschen hatten jedoch kein Interesse an einer eigenständigen Ukraine: Führende Köpfe der OUN wie Bandera wurden Anfang Juli 1941 verhaftet und in Lagern interniert.
Die Mehrzahl der sogenannten Repatriierungsverweigerer hatte jedoch ein ganz anderes Problem: Das Jalta-Abkommen zementierte die Verschiebung der Grenze der Sowjetunion nach Westen auf Kosten polnischen Territoriums. Das hatte zur Folge, dass Polen und Ukrainer auf einmal Sowjetbürger wurden, wenn sie in ihre Heimatorte zurückkehrten. Die UNRRA-Statuten und das SHAEF-Memorandum Nr. 39 ließen zudem eine nationale Definition "Ukrainer" nicht zu, da die Ukraine als Staat nicht existierte.
Diejenigen, die in ihre Heimat zurück wollten, die nun auf sowjetischem Gebiet lag, "[...] wußten, daß die sowjetische Führung ihre in Deutschland geleistete Zwangsarbeit als 'Arbeit für den Feind' werten würde und befürchteten für sich das Schlimmste."
Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Strategien Ukrainer entwickelten, um der Repatriierung zu entgehen. Vor allem ist das Ringen um Anerkennung als eigene, ukrainische Nationalität zu nennen, um als "Staatenlose" laut UNRRA-Statuten Anspruch auf Unterstützung zur Emigration in Drittländer zu erhalten. Da den Ukrainern aber die internationale Lobby größerer Diaspora-Gemeinden fehlte, waren sie darauf angewiesen, sich selbst zu helfen. Herausgestellt werden soll die zentrale Rolle der Tsentral'ne Predstavnytstvo Ukraiins'koi Emihratsii (TsPUE),
Zudem wird anhand des Ukrainian Labor Camp in Gießen der Alltag in einem ukrainischen DP-Camp unter der Aufsicht der International Refugee Organization (IRO) dargestellt. Anhand von teilweise unbearbeiteten Aktenbeständen aus Archiven und von Privatpersonen (Mikrofiche aus dem Staatsarchiv Darmstadt, Akten aus der Ukrainischen Freien Universität (UFU) München, Familienalbum Kurdydyk) soll gezeigt werden, wie sich die TsPUE bemühte, ihre Landsleute für eine Aufnahme in Drittländer zu qualifizieren. Während der erste Teil eine Makroperspektive auf die ukrainischen DPs als "moving actors" bietet, zeigt der zweite Teil eine Mikroperspektive.
I. Das Ringen um Anerkennung als Nationalität: Ukrainische DPs zwischen 1945-1947
Noch vor Ende des Krieges formierten die Ukrainer eigene Gemeinschaften und Selbsthilfe-Komitees in den befreiten Gebieten und baten die Westalliierten um Unterstützung für ihre Interessen. So wollten sie den sowjetischen Repatriierungsoffizieren selbst die Namen derjenigen Ukrainer übermitteln, die eine Rückkehr in die Heimat wünschten. Zu begründen ist dieser Wunsch mit der Furcht, von den Sowjets als Kollaborateure betrachtet und Repressalien ausgesetzt zu werden.
Doch die Besatzungsmächte waren, bis auf Einzelfälle bei den US-Amerikanern, den ukrainischen DPs gegenüber wenig aufgeschlossen. Bittschriften blieben unbeantwortet. Im Gegenteil, die Militärs verfolgten weiterhin die Strategie der Zwangsrepatriierung, ganz im Sinne des SHAEF-Memorandums "regardless of their individual wishes".
Um gegenüber den Militärbehörden mit einer Stimme sprechen zu können, planten führende Köpfe der ukrainischen DPs, allen voran Vasyl‘ Mudryj,
Vorsitzender wurde der Westukrainer Mudryj, mit Mykhailo Vetukhi wurde ein Ostukrainer Vizepräsident, um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessenlagen der DPs aus der Ost- und Westukraine zu ermöglichen.
Die TsPUE finanzierte sich vor allem aus Spenden der Diaspora in Kanada oder den USA und organisierte sich in mehreren Arbeitsgruppen, die Programme für die ukrainischen DPs entwickelten. Es gab solche, die sich mit den Themen Arbeit und Beruf, Rechtshilfe, Fürsorge, Finanzen, Jugend und Frauen beschäftigten. Ein Bereich kümmerte sich um Bildung und Kultur und sollte vor allem das ukrainische Identitätsgefühl stärken. Damit setzte sich die TsPUE allerdings über UNRRA-Vorgaben hinweg, die zwar Allgemeinbildung vorsahen, aber keine geschichtspolitische Indoktrinierung, die gegen einen beteiligten Staat, hier die UdSSR, zielte.
Wolfgang Jacobmeyer hält daher auch fest, dass sich in der TsPUE vor allem die Verweigerer einer Rückkehr sammelten.
Das konsequente Auftreten der TsPUE gegen die Repatriierung und ihre gleichzeitig sehr effektive Selbsthilfe stellten die Besatzungsbehörden und die UNRRA zunehmend vor Probleme. Sie begannen, die Ukrainer in separate Lager zu überführen, übten sie doch auf andere Nationalitäten wie die Polen einen "schlechten Einfluss" aus.
Da die Besatzungsmächte und die UNRRA nach wie vor nicht bereit waren, eine ukrainische Nationalität anzuerkennen, wurde für sie ab August 1946 das Label "undetermined" verwendet.
II. Das Ukrainische Arbeiterlager in Gießen (1948-1949)
Um die Kosten für den Unterhalt der DP-Lager zu senken, hatte die UNRRA bereits seit 1946 begonnen, DPs in Arbeitsverhältnisse zu vermitteln. Dafür richtete sie sogenannte "Arbeiterlager"
Den Aufbau des Lagers koordinierte ein gewisser Herr Stepanenko,
Die Vorarbeiten im Dezember 1947 waren erfolgreich, sodass das Lager schon im Januar 1948 eröffnet werden konnte. Es wurde von der Labor Service Company in Gießen in der Licher Straße verwaltet. Die Gebäude beziehungsweise Baracken des Lagers befanden sich etwa acht Kilometer östlich des Stadtzentrums.
Die ersten ukrainischen DPs trafen am 23. Januar 1948 in Gießen ein. Sie kamen aus verschiedenen DP-Lagern der US-amerikanischen Besatzungszone, etwa aus Aschaffenburg, Cornberg, Mainz-Kastell oder Korbach. Die Arbeitergruppen wohnten zuerst in Holzbaracken. In wenigen Wochen richteten sie ein Kanalisationssystem sowie Wasser- und Stromleitungen ein und sanierten einige Wohnräume. Schon im April 1948 wohnten 217 Personen
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers wurden in 20 "englischen Baracken", sogenannten "Nissenhütten", und in 4 Holzbaracken untergebracht. In einer Metallbaracke wohnten 28 Personen, überwiegend alleinstehende Männer und in kleinerer Zahl Frauen. In den Holzbaracken lebten Familien. Diese Unterkünfte waren zwar größer, bestanden aus je 23 Zimmern, boten aber normalerweise nur 40 Personen Platz. Tatsächlich wurden diese Räume durchschnittlich mit 50-70 Einwohnern belegt.
Mit der US-Armee wurden die Regeln für das Ukrainian Labor Camp festgelegt. Im Lager durften Personen wohnen, die im US-Depot arbeiteten.
Alltag im Arbeiterlager
Metal- und Holzbaracken des Lagers (© Familienalbum Kurdydyk)
Metal- und Holzbaracken des Lagers (© Familienalbum Kurdydyk)
Der Lager-Alltag verlief nicht problemlos. Es gab eine Reihe von Schwierigkeiten wie beispielsweise fehlendes Baumaterial, Verpflegungs- und Disziplinmängel. Problematisch war auch die ungleiche Behandlung der ukrainischen und nicht-ukrainischen Mitarbeiter des US-Depots durch die US-Amerikaner. Die ukrainischen Arbeiter bekamen für ihre Arbeit eine normale Tagesration von 2.500 Kilokalorien. Im Gegensatz dazu erhielten die polnischen und baltischen DPs
Auf Anweisung der US-Militärverwaltung übernahm hauptsächlich die IRO-Verwaltung in Fulda die Versorgung des ukrainischen DP-Camps in Gießen, stattete das Lager mit Lebensmitteln und Materialien aus. Die Ausgabe von Heizmaterial, warmen Bettdecken und warmer Kleidung wurde jedoch stark begrenzt. Aus Sicht der Verwaltung des Arbeiterlagers in Gießen erhöhte die IRO die Hilfsrationen deshalb nicht, weil sie kein wirkliches Interesse am Aufbau des Lagers hatte.
Die Verwaltung des ukrainischen Arbeiterlagers Gießen war mit dem Vertrag zwischen dem TsPUE und der IRO unzufrieden. Das Abkommen war ohne Wissen über ähnliche Verträge mit anderen DP-Nationalitäten unterschrieben worden. Sie wollte die Konditionen neu verhandeln, da ansonsten kein ukrainischer Arbeiter mehr nach Gießen kommen würde. In späteren "Sonderverhandlungen" mit den US-Amerikanern verpflichtete dich die IRO gegenüber den Ukrainern, 300 bis 500 Arbeitsplätze im US-Depot anzubieten, je nachdem, wie viele Arbeiter die TsPUE stellen konnte. Dann sollten sie einerseits bessere Verpflegung erhalten und andererseits eine selbstständige Arbeitsgruppe mit einem eigenen, ukrainischen Leiter bilden können, der wiederum die ukrainischen Interessen statt der TsPUE gegenüber den lokalen DP- und US-Behörden vertreten sollte.
Die ukrainischen LKW-Fahrer aus dem US-Depot, Gießen, 1948 (© Familienalbum Kurdydyk)
Die ukrainischen LKW-Fahrer aus dem US-Depot, Gießen, 1948 (© Familienalbum Kurdydyk)
Im April 1948 umfasste der ukrainische Arbeiteranteil im US-Depot nur zehn Personen.
Die Schwierigkeiten mit der IRO zeigten sich auch in anderen Bereichen. So sollte sie alle zwei Wochen für Ukrainer den Besuch eines "Wanderkinos" in Gießen unterstützen, was aber mit dem Hinweis verweigert wurde, dass im "Arbeiterlager" weniger als 200 Personen wohnten. Und obwohl die Verwaltung des Lagers sogar versprach, einen doppelten Preis für die Kinotickets zu zahlen, blieb die Antwort der IRO negativ.
Lager-Referent für Kulturangelegenheiten Kurdydyk (© Familienalbum Kurdydyk)
Lager-Referent für Kulturangelegenheiten Kurdydyk (© Familienalbum Kurdydyk)
Bezüglich des Kulturlebens und anderer Dienstleistungsaktivitäten waren der Direktor des Lagers und der zuständige Kulturreferent ideenreich. Sie sammelten Bücher für eine kleine Bibliothek und gründeten einen "Arbeiterklub", um dort Konzerte, Theaterstücke und andere Veranstaltungen aufzuführen. Des Weiteren wurden Rundfunkempfänger angeschafft sowie ein Friseur und eine Schneiderei eröffnet.
Es muss unterstrichen werden, dass Unverheiratete und Männer, deren Familien in anderen DP-Lagern blieben, bevorzugt zum Arbeitseinsatz nach Gießen kommen durften, Verwandte wurden nur in begrenzter Zahl im Lager aufgenommen. Denn die Lager dienten in erster Linie dafür, die Arbeitskraft der meist männlichen Ukrainer zu nutzen und somit ihre Chancen auf die Aufnahme in das Resettlement-Programm der IRO zu erhöhen.
Die Einwanderungsbestimmungen potenzieller Aufnahmestaaten, vor allem Kanadas und Australiens, änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aufgrund fehlender Arbeitskräfte. Diese hoffte man auch in den DP-Camps Europas zu finden. Mitunter waren die neuen Einwanderungsprogramme zunächst unter anderem gegenüber Ukrainern sehr restriktiv. Über letztere wurde in innergesellschaftlichen Debatten zum Beispiel die Besorgnis geäußert, sie könnten sowjetische Propaganda transportieren. Balten waren dagegen beliebt, aufgrund ihres vermeintlich höheren Bildungsgrades und ihres westeuropäischen Aussehens.
Ende 1949 wurde das ukrainische Arbeiterlager in Gießen aufgelöst. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner wanderten nach Übersee aus, während die wenigen Zurückgebliebenen, wie Kranke, Behinderte oder ältere Bewohner, in bayerische DP-Camps umgesiedelt wurden.
Fazit
Betrachtet man die Geschichte der ukrainischen DPs zwischen 1945 und 1949, lässt sich die Beschreibung der DPs als "moving actors" anhand vieler Faktoren belegen. Es gelang ihnen – trotz fehlender beziehungsweise geringer Lobby – die Weltgemeinschaft auf ihre Lage aufmerksam zu machen und sie für ihre Interessen zu sensibilisieren. Ausgangspunkt hierbei waren vor allem die bayrischen DP-Camps. Von hier aus organisierten führende Köpfe den Widerstand gegen die Repatriierung. Gegenüber den Besatzungsmächten und der UNRRA gelang dies bis November 1945 häufig nur durch die Leugnung der eigenen Herkunft. Innerhalb der DP-Lager wurde jedoch bereits früh eine eigene, ukrainische Nationalität und also auch Identität betont. Diese Abgrenzung war zugleich eine Sammelbewegung, in deren Folge ukrainische DPs in Lager übersiedelten, in denen sich bereits größere Gruppen ihrer "Landsleute" niedergelassen hatten. Deren Selbstbewusstsein wurde dadurch gestärkt und führte schließlich zur Gründung der TsPUE, die nicht nur mit einer Stimme nach außen sprach, sondern auch weiterhin homogenisierend nach innen wirken sollte.
Die Aktivitäten der TsPUE waren bereits seit ihrer Gründung davon geprägt, die DPs durch Arbeitseinsätze unentbehrlich zu machen, um sie vor den Rücktransporten zu bewahren. Als die UNRRA ab 1946 und später die mit wesentlich weniger Budget ausgestattete IRO auf Druck der Besatzungsmächte dazu übergingen, einen Teil der Kosten für die DPs durch diese selbst erwirtschaften zu lassen, konnte die TsPUE diese Forderung schnell umsetzen. Die Bereitschaft unter den Ukrainern, sich dieser "Zwangsmaßnahme" zu unterwerfen, war höher als bei anderen DP-Nationalitäten, da sie hofften, so für sich zu werben und Vorbehalte abbauen zu können. Daher war die TsPUE bestrebt, die ukrainischen DPs in eigenen Arbeiterlagern wie in Gießen zum einen weiter auszubilden, zum anderen deren "Tüchtigkeit" anzupreisen. Vor allem ihre Arbeitskraft und ihr Arbeitswille führten schließlich dazu, dass Kanada und dann Australien größere Kontingente an ukrainischen DPs anwarben. Bis heute gibt es in diesen beiden und auch anderen Staaten viele Zeugnisse der ukrainischen Auswanderung aus den DP-Camps in die Welt. Der Artikel präsentiert einen Teil der Rechercheergebnisse des studentischen Projektes "Displaced Persons in Mittelhessen 1945-60. Miteinander, Nebeneinander oder Gegeneinander?" Es wurde in das Förderprogramm der Geschichtswerkstatt Europa für die Erforschung der Nachkriegsgeschichte Europas aufgenommen und mittels der Gelder der Stiftung EVZ im Laufe des Jahres 2012 realisiert.
Zitierweise: Nazarii Gutsul und Sebastian Müller, Ukrainische Displaced Persons in Deutschland. Selbsthilfe als Mittel im Kampf um die Anerkennung als eigene Nationalität, in Deutschland Archiv, 30.6.2014, http://www.bpb.de/187210