Mutbürger
Ein Rollentausch in Leipzig: Die Stasi im Visier
Peter Wensierski
/ 6 Minuten zu lesen
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Ende der 80er Jahre wuchs das Selbstbewusstsein oppositioneller Gruppen in der DDR - auch gegenüber der Stasi. Sie verloren ihre Angst. Michael Arnold, damals 25-jähriger Student in Leipzig, spähte das MfS sogar selber aus und zeichnete heimlich seine Vernehmung auf. Sein Motto: "Die kommen dauernd zu uns, jetzt kommen wir zu ihnen!"
Leipzig, im Juli 1989. Polizei und Stasi versuchen seit Monaten, oppositionelle Gruppen einzuschüchtern, aber die Überwachungsmaßnahmen und die Übergriffe nützen nichts. Micha Arnold aus der "Initiativgruppe Leben" und seine Freundin geben nicht auf. Die Gruppe hatte sich zwei Jahre zuvor gegründet, ihre Ziele waren ökologische Verbesserungen und politische Reformen.
Sie sind es allerdings leid, dass ständig Stasimitarbeiter vor ihrer Haustür in der Zweinaundorfer Straße 20 a herumlungern. Mal versuchen es die beiden mit Galgenhumor, mal tun sie so, als gäbe es die frierenden Stasigestalten im Observationsauto nicht, mal servieren sie ihnen heißen Kaffee, und nur wenn die Kerle bis in den Hausflur vordringen, raunzen Micha und Sabine ihre Widersacher an. Doch die lästige Observation hört nicht auf. Da denkt sich Micha: "Ein Geheimdienst ist nur so lange geheim, wie man ihn nicht offenlegt." Und beschließt, den Spieß einfach umzudrehen.
So geht er von seiner Wohnung in die Stadt und betrachtet den Gebäudekomplex zwischen Beethoven- und Dimitroffstraße einmal genauer. Mehrmals in den vergangenen Jahren hat die Stasi ihn dort vernommen. Im Innenhof liegt die Untersuchungshaftanstalt. Kameras überwachen die Ein- und Ausgänge. Hohe, graublaue Tore aus Metall schirmen in der Beethovenstraße das Innere vor neugierigen Blicken der Passanten ab.
An mehreren Tagen umkreist Micha den Gebäudekomplex, mal mit seiner Tochter Johanna im Tragetuch oder im Kinderwagen, mal hat er seinen Freund Uwe dabei und diskutiert mit ihm über das Vorhaben. Micha entdeckt bald, dass sich die Untersuchungsführer der Stasi täglich zwischen 16 und 18 Uhr aus einem Nebenausgang in der Beethovenstraße herausschleichen. Er erkennt sogar einen seiner Vernehmer wieder.
Das beobachtete MfS
An einem Tag mit schönem Wetter verabredet sich Micha mit seinem Freund Rainer für den frühen Nachmittag. Die beiden gehen in der Beethovenstraße zielstrebig auf ein Wohnhaus schräg gegenüber dem Nebenausgang zu. Die Haustür steht offen, und sie steigen im Treppenhaus ganz nach oben. Die Dachbodentür ist unverschlossen. Es riecht nach Staub, das Sonnenlicht dringt durch Mauerritzen in schmalen Streifen bis auf den Bretterboden. Der Dachboden steht leer und wird auch nicht zum Wäschetrocknen verwendet. Hier stört sie wahrscheinlich niemand.
Durch kleine runde Fenster auf Bodenhöhe kann Micha die Straße und das gegenüberliegende Gebäude gut überschauen. Er nimmt eine Decke aus seiner Tasche, faltet sie über dem Taubendreck auseinander und legt sich bäuchlings darauf vor eines der kleinen Fenster. Aus seiner Tasche zieht er ein 500-Millimeter-Teleobjektiv, Lichtstärke 5,6, und setzt es auf seine Praktica-Spiegelreflexkamera. Er hat das Monsterobjektiv – rund einen halben Meter lang – eigens für diesen Zweck gekauft. Sein Freund bleibt an der Bodentür stehen und lauscht ins Treppenhaus. Als Micha sieht, dass gegenüber ein Mann aus seinem geöffneten Fenster schaut, drückt er das erste Mal auf den Auslöser. Er putzt die Glasscheibe noch etwas sauberer, stützt das schwere Objektiv besser ab.
Da zeigt sich zu Dienstschluss auch schon der erste Stasimann mit seiner Aktentasche am Nebenausgang, Micha zielt und – klick! Gleich darauf der nächste, in kurzen Hosen. Klick! Einer mit Dederon-Beutel, ein anderer auf dem Fahrrad. Klick, klick!
Viele kommen in der typischen beigefarbenen Windjacke, einige auch mit Schlips und Jackett. Hinter dem Fenstergitter eines Vernehmungszimmers zeigt sich ein Mitarbeiter, hemdsärmelig, aber ebenfalls mit Schlips – ob er gerade jemanden in die Mangel nimmt? Das Objektiv holt ihn ganz dicht heran. Im nächsten Moment geht das große Metalltor auf, und ein Lada schiebt sich durch. Fahrer und Nummernschild sind deutlich zu erkennen. Klick!
Micha muss schon bald den Film wechseln. Nach drei Stunden und mehr als hundert Aufnahmen hat er fürs Erste genug. Als wäre nichts gewesen, verlassen die beiden das Haus und machen sich auf den Heimweg. Sie sind aufgekratzt und malen sich aus, wer die Bilder zu sehen bekommen soll. Alle könnten helfen, die Vernehmer zu identifizieren und vielleicht auch herauszufinden, wo sie wohnen, wie sie heißen. Und schließlich könnte man die Bilder auch in einer Ausstellung öffentlich machen. "Die kommen dauernd zu uns, jetzt kommen wir zu ihnen!"
Zum Entwickeln gibt er einen Teil der Filme in dem Geschäft seines Vertrauens ab: Foto Korzer in der Zweinaundorfer Straße. Da hat er schon öfter entwickeln lassen, das war stets unproblematisch, selbst bei heiklen Motiven wie Bildern von verbotenen Demonstrationen.
Andere Fotogeschäfte in der Innenstadt sind angewiesen, "auffällige" Fotos zu melden. Dennoch liegt ein paar Tage später ein Brief im Postkasten der Zweinaundorfer. Absender ist die MfS-Untersuchungsabteilung mit der Aufforderung, Micha solle am nächsten Tag um acht Uhr morgens mit Personalausweis im Zimmer 111 der Dimitroffstraße 5 erscheinen. Er ist pünktlich.
Oppositionelle Lauschaktion - beim MfS
Der Vernehmungsraum: klein und eng, Neonlicht, ein strenger Geruch nach Desinfektions- oder Putzmittel. Oder riecht der Fußbodenbelag so? Ein Tisch mit Schreibmaschine, ein vergittertes Fenster, ein Holzstuhl. Oben auf dem Aktenschrank vegetiert eine anspruchslose Grünlilie vor sich hin. Sein Gegenüber, ein Oberleutnant, gibt sich korrekt.
Ihren Ausweis haben Se mit? Ja.
Die Vorladung? Nee.
Warum nicht?
Die hab ich schon weggeworfen.
Na sicher! Geht die jetzt in Ihre Sammlung ein?
Wie? Ist das eine Leihgabe? Das wär ne große Sammlung!
Dann stellt Micha dem Vernehmer eine Frage: Wie ist denn Ihr Name?
Mein Name? Schall und Rauch.
Sie sind von der Staatssicherheit?
Ja. Na, dann wollen wir mal: Wir wollen wissen, warum Sie in der Vergangenheit mehrfach vor Dienstobjekten des MfS festgestellt worden sind. Was für einen Grund hatten Sie dafür?
Wenn man Sie an Dienstobjekten des MfS sieht, dann setzt das bei uns verschiedene Überlegungen in Gang.
Ich hab einen Spaziergang durch die Stadt gemacht.
Welcher Art?
Provokation? Spionage?
Mich interessieren Menschen auf der Straße, auch die vom MfS. Ich möchte wissen, was sind das für Menschen?
Micha überlegt nur kurz: Sagen Sie bitte nicht, dass Sie mich aufgrund Ihrer Überlegungen hierherbestellt haben. Sie stellen ja viele Überlegungen über Menschen an und bestellen die nicht alle deswegen ein.
Der Vernehmer fällt ihm ins Wort: Die halten sich auch nicht alle vor Objekten des MfS auf! Schon gar nicht zu Zeiten reger Personenbewegung, wie bei Dienstschluss.
Micha bleibt ruhig, sagt: Zu der Zeit am Nachmittag hab ich die beste Möglichkeit, ins Zentrum der Stadt zu gehen.
Sein Vernehmer wird ungeduldig. Wissen Se, ich bin ein erwachsener Mensch, jetzt sagen Se mal endlich: Was bezwecken Sie damit, sich verstärkt Objekte des MfS anzusehen?
Mit anderen Worten: Sie gehen bewusst dorthin? Ich gehe überall bewusst hin.
Sie sind ja nun kein unbeschriebenes Blatt für uns. Sie waren ja schon im Januar unser Gast hier. Steht das in einem Zusammenhang? Nein!
Warum machen Sie uns denn unsere Arbeit so schwer?
Ich werde doch nicht für Ihre Arbeit bezahlt.
Machen Sie soziologische Studien? Wollen Sie unsere Leute kennenlernen? Oder wollen Sie Informationen über die Mitarbeiter ans Ausland weitergeben? Sie können den Mitarbeitern ja leicht nachgehen und sehen, wo sie wohnen, wie sie heißen. Micha bleibt trotzig: Das kann ich doch nicht beeinflussen, wenn Ihr Geheimdienst öffentlich wird! Wenn Sie mir nur vorwerfen können, dass ich an Ihren Dienstobjekten in Erscheinung trete, dann werde ich das auch in Zukunft weitermachen!
Sein Vernehmer beugt sich vor: Wollen Sie uns etwa ausspionieren?
Micha muss grinsen. Er denkt an die Fotos und hat in seiner Jackentasche einen Walkman und im Ärmel ein Mikrofon. Er nimmt das Gespräch auf.
Aber hoffentlich dauert es nicht mehr so lange. Er hat nur eine Kassette mit einer halben Stunde Laufzeit beschaffen können – und die würde sich am Ende mit einem lauten Klack verabschieden. Doch das Gespräch wird nicht beendet. Micha löst das Problem mit lautem Husten: Der Stasimann hört nicht, wie sich der Walkman abschaltet, das Gerät bleibt unentdeckt.
Auch das Verhör übersteht Michael Anrnold unbeschadet. Seine Pläne, mit der Aufnahme und den Stasi-Fotos an die Öffentlichkeit zu gehen, werden aber in den Folgewochen im September und Oktober 89 von nahezu täglich neuen Ereignissen überrollt.
In Leipzig wagten sich junge Leute 1988/89, immer couragierter in die Öffentlichkeit zu treten, um für Demokratie, Umweltschutz und Meinungsfreiheit einzutreten. Ein 25-jähriger überlistete dabei sogar die Stasi - mit deren eigenen Mitteln. Der Spiegel-Journalist Peter Wensierski, Autor des 2017 erschienenen Buches "Die Unheimliche Leichtigkeit der Revolution", berichtet.
Michael – Micha – Arnold, geboren 1964, gehörte zu den Aktivisten in der Leipziger "Initiativgruppe Leben". Er baute im Herbst 1989 maßgeblich das Neue Forum Leipzig mit auf. Im Oktober 1990 wurde er Abgeordneter im Sächsischen Landtag. Als innenpolitischer Sprecher beschäftigte er sich intensiv mit dem Verfassungsschutz, der Aufarbeitung des DDR-Geheimdienstes und wirkte auch am Stasi-Unterlagengesetz mit. Besonders intensiv war seine Arbeit im Untersuchungsausschuss zu Amts- und Machtmissbrauch in Folge der SED-Herrschaft. Heute hat der aus Meißen stammende Micha eine moderne Zahnarztpraxis in Dresden, in der er forscht und zahnärztlichen Nachwuchs fortbildet. Die Schreibmaschine, auf der Micha seine Eingaben verfasste und Flugblätter schrieb, steht heute im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.
Weiterer Buchauszug»Ich will mein Handeln nicht länger von denen bestimmen lassen!«
Peter Wensierski
Aus dem Alltag der Leipziger Opposition. Peter Wesnierski schildert in seinem Buch Externer Link: "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution" auch, mit wie viel Angst Protestaktionen Anfang 1989 noch verbunden waren - aber ebenfalls, wie rasch das oppositionelle Selbstbewusstsein damals wuchs:
"...Uwe war gespannt, wer und wie viele wohl zum Treffen kommen würden. In den vergangenen Tagen hatte auch er noch ein paar Leute angesprochen, denen er am ehesten über den engeren Kreis hinweg vertraute. »Wir haben eine wichtige Sache vor«, hatte er einfach nur gesagt. »Wir treffen uns am Mittwochabend ab neun in der Zweinaundorfer.« Er fand, das musste reichen. Als ihnen im obersten Stockwerk Micha die Tür öffnete, begrüßte er sie mit den Worten, jetzt seien wohl alle da. Die anderen saßen oder standen schon in dem kleinen vom Tabakqualm und dem defekten Kachelofen verräucherten Wohnzimmer von Micha und Bine. Uwe schaute sich um. Das konnten doch nicht alle sein. Wo blieben die anderen? Ein paar Handschläge zur Begrüßung, und sie fanden noch einen Platz am warmen Kachelofen. Michas Frau Bine schwieg. Johanna, ihr Baby, war erst seit wenigen Wochen auf der Welt, und Bine fand das Risiko dieser Aktion unkalkulierbar. Micha verschwand und kam kurz darauf wieder zurück ins Zimmer. Er hatte etwas geholt und trat damit in die Mitte des Raumes. Alle Augen richteten sich auf das kleine Blatt in seiner Hand. Man sah, dass es eng beschrieben war.
»Darum geht’s heute Nacht.« Micha redete lieber nicht so viel. Als er am frühen Abend mit dem Fahrrad nach Hause gekommen war, hatte er einige Gestalten bemerkt, die wahrscheinlich das Haus überwachten. Er ließ den Zettel herumgehen. Es wurde still im Raum. Jeder las, manchmal zwei oder drei Nebeneinanderstehende gleichzeitig. Das Blatt wanderte langsam von Hand zu Hand. Es war Michas ursprünglicher Entwurf, auf seiner Schreibmaschine geschrieben. Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig lautete die Überschrift. 70. Jahrestag der Ermordung zweier Arbeiterführer – Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und wieder werden Tausende Werktätige verpflichtet, einer Kundgebung »beizuwohnen«, bei der die Redner die jährlich wiederkehrenden Ansprachen halten.
Die beiden seien doch für ein ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben, für eine freie und ungehemmte Presse, für allgemeine Wahlen und den freien Meinungskampf eingetreten. Menschen, die dieses Vermächtnis unter Berufung auf die Verfassung unseres Landes nach 40 Jahren DDR-Geschichte in Anspruch nehmen, werden immer wieder kriminalisiert. Der Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht soll uns Anlass sein, weiter für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates einzutreten. Es ist an der Zeit, mutig und offen unsere Meinung zu sagen. Schluss mit der uns lähmenden Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit. Lassen Sie uns gemeinsam eintreten – für das Recht auf freie Meinungsäußerung, – für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift »Sputnik« und kritischer sowjetischer Filme.
Die Frechheit stand am Schluss des Flugblattes, getarnt als Höflichkeit gegenüber der Partei: Um nicht die offizielle Kundgebung in ihrem eigenen Anliegen zu stören, rufen wir Sie auf, gemäß Artikel 27 und 28 der Verfassung, sich am 15. Januar 1989 um 16 Uhr auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu versammeln. Anschließend ist ein Schweigemarsch mit Kerzen zur Gedenkstätte in der Braustraße vorgesehen. Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft. Alle hatten gelesen, niemand sagte etwas. Micha warf eine einfache Frage in den Raum: »Wer ist heute Nacht mit dabei?«
Matthias, der am längsten auf den Text gestarrt hatte, gab ihm das Blatt zurück. »Leute, dafür landen wir alle im Knast! Das geht doch auf keinen Fall gut. Die Stasi steht wahrscheinlich schon längst unten vor der Tür. Wir kriegen womöglich zwei, drei Jahre Knast oder mehr. Ich kann das nicht machen ohne Abstimmung mit meiner Frau. Bei zwei kleinen Kindern, kann ich nicht plötzlich für Jahre im Knast verschwinden, ohne vorher darüber mit ihr gesprochen –« Micha unterbrach ihn: »Ist in Ordnung, Matthias. Niemand muss heute Nacht dabei sein, niemand muss sich gedrängt fühlen. Wer die Aktion nicht vertreten kann, der braucht nicht mitzukommen. Ich dachte, es ist richtig, genau diesen Gedenktag für Luxemburg und Liebknecht zu nutzen.«
Micha bückte sich, öffnete die Klappe des Kachelofens und verbrannte den Zettel. Er richtete sich wieder auf. »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, der Satz von Rosa Luxemburg gilt doch wohl zuerst unter uns?« Niemand widersprach. »Der Satz tut den Genossen schon lange leid«, meinte Rainer, »seit vergangenem Januar in Berlin ganz besonders.« Alle wussten, was er damit meinte. Nach den Verhaftungen in Berlin vor einem Jahr gab es bei den anschließenden Protesten Losungen wie »Freiheit für Andersdenkende« oder »Luxemburg im DDR-Gefängnis«. Das musste den Parteigenossen wehgetan haben.
"Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er jetzt geht"
Immer wieder ging Micha zum Fenster, um hinauszuspähen. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen. Keiner der Anwesenden wusste, dass er vor der Aktion unter den Brettern seine Geheimbibliothek versteckt hatte: hektografierte Untergrundschriften aus der ganzen DDR, Flugblätter und Abschriften verbotener Bücher und Texte. Micha wandte sich wieder den anderen zu: »Ich hab euch zu mir eingeladen, damit wir in Ruhe reden können, bevor es losgeht. Hier in meiner Wohnung sind die Flugblätter nicht. Wer heute Nacht verteilen will, holt sie woanders ab. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er jetzt geht.« Jemand fragte, ob sich die Leipziger wohl trauen würden, zu einer ungenehmigten Demo in die Innenstadt zu kommen. Micha erinnerte an die vielen Teilnehmer beim Pleißemarsch im vergangenem Jahr, die Aufbruchstimmung auf dem Platz vor der Nikolaikirche und den Schweigemarsch zur ehemaligen Synagoge. »Wir sind viel weiter als vor einem Jahr. Eine Demo vom Markt aus könnte der Zündfunke sein. Heute Nacht können wir Tausende Leipziger erreichen. Klar, wir wissen nicht, ob es klappt, und es ist riskanter als die Friedensgebete hinter den Türen der Nikolaikirche. Aber mit denen kommen wir nicht mehr weiter. Wir müssen richtig auf die Straße, wenn sich was ändern soll.«
Matthias wollte noch etwas klarstellen. »Ganz ehrlich, Leute, ich stehe voll und ganz hinter dem Inhalt des Flugblattes. Aber bei der Verantwortung, die ich für meine Familie hab, ist mir die Aktion einfach zu heiß.« Gesine konnte das gut verstehen: »Jeder entscheidet hier für sich selbst.« Das Gespräch ging nicht mehr lange hin und her. Viel Zeit blieb nicht, wenn die Verteilung heute Nacht noch klappen sollte. Matthias verabschiedete sich, die anderen blieben, fest entschlossen, mitzumachen. Uwes Anspannung wich, sie waren auf jeden Fall genügend Leute. Die fertig gedruckten Flugblätter lagen immer noch bei Constanze. Sie zu holen war seine und Gesines Aufgabe. Die anderen sollten nach und nach Michas Wohnung wieder verlassen und für mögliche Beobachter den Eindruck erwecken, als gingen sie nach Hause. In Wahrheit sollten sie sich auf verschiedenen Wegen durch die Stadt zu Jochens Wohnung in der Schletterstraße begeben, gut fünf Kilometer entfernt. Die lag näher am Stadtzentrum. »Erst wenn alle wieder da sind, machen wir dort die eigentliche Einweisung!«
Um die Lage zu prüfen, verließ Micha als Erster das Haus und traf unten in der kleinen Sackgasse auf Matthias, der noch gedankenverloren herumstand. Micha fiel auf der anderen Seite der Zweinaundorfer erst eine, dann eine zweite Gestalt auf, die wohl zur Überwachung dort stand. Micha wollte noch ein paar Worte mit Matthias wechseln, doch in diesem Moment kam zufällig ein Schwarztaxi vorbei, das sie an der zögerlichen Fahrweise erkannten. Auf einen Wink hin stoppte es vor ihnen. Weil staatliche Taxis knapp waren, kurvten immer etliche Leipziger Autobesitzer mit ihrem Privatwagen durch die Stadt, um sich etwas Geld dazuzuverdienen – das war verboten, aber geduldet. Micha stieg mit drei anderen, die inzwischen aus der Wohnung gekommen waren, in den Wagen. Der schwarzglänzende russische Wolga rauschte den Beobachtern Richtung Stadtzentrum davon. Micha dirigierte den Fahrer auf ein paar Umwegen bis in die Nähe der Schletterstraße. Den Rest erledigten sie unbeobachtet zu Fuß.
Drei weitere Teilnehmer des Treffens in Michas Wohnung liefen zunächst durch ein paar Straßen der Umgebung, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Sie gingen in eine Gaststätte, tatsächlich kamen zwei Leute hinter ihnen her. Sie verließen die Eckkneipe, sprangen in ein Taxi und hängten ebenfalls ihre Beschatter ab. Auch Uwe und Gesine erwischten unten auf der Straße ein Schwarztaxi. Sie fuhren auf Umwegen zu Constanze, in einem Moskwitsch mit einem sächselnden Fahrer, der unentwegt über die vielen Schlaglöcher schimpfte. Am Ziel verlangte der Mann zwar kein Geld, schaute aber erwartungsvoll seine Mitfahrer an. Gesine drückte ihm stillschweigend einen Schein in die Hand.
"Ich weiß, wo ich lebe und was ich riskiere"
Sie klingelten Constanze aus ihrer Wohnung. Die 10 000 Flugblätter waren in einem alten Holzkoffer und zwei Lederbeuteln im Keller versteckt. Dort roch es feucht und schimmelig, nach fauligen Kartoffeln und nach Braunkohle. Das verrostete Vorhängeschloss an der Tür des Holzgatters knarzte erbärmlich, bevor es den Weg in einen Verschlag voller Gerümpel freigab. Koffer und Taschen standen neben einem alten Sessel und waren so ziemlich die einzigen nicht verstaubten Gegenstände hier unten.
Constanze zog den Koffer hervor und wuchtete ihn hoch. »Lass uns schon alles in kleinere Bündel aufteilen!« Uwe nahm die Einmalhandschuhe heraus, und jeder streifte sich ein Paar über, um keine Spuren zu hinterlassen. Jeweils fünfhundert Flugblätter wickelten sie in Papier der Leipziger Volkszeitung ein, die Constanze von einem Altpapierstapel aus der Nachbarschaft besorgt hatte. Die Träume von Rosa und Karl sind in der DDR Wirklichkeit geworden, diese Schlagzeile stand auf dem ersten Päckchen, das Gesine fertig machte. »Ach sieh mal hier«, stieß Uwe sie an. Er hielt seine Zeitung ins Licht. Präsident Mitterrand zum bevorstehenden Besuch Erich Honeckers, las er vor. Beim traditionellen Neujahrsempfang für die Presse im Elysée-Palast sagte Mitterrand, die DDR sei ein aktiver, starker und letztlich ziemlich benachbarter Staat … Er ließ das Blatt sinken und sah Gesine an: »Na, das wird wohl nicht so schnell was mit einer Frühstückseinladung für uns …«
Die fertigen Päckchen wanderten in die beiden Beutel, ein paar Volkszeitungen noch obendrauf. Falls irgendein Vopo sie kontrollierte, wäre das besser als gar keine Tarnung. So war es auf den ersten Blick lediglich Altpapier, das man bei der Oma abgeholt hatte, um es am nächsten Tag gegen etwas Geld bei der Altstoffannahmestelle abzugeben. Der Koffer samt ein paar Flugblättern für den Tag der Demo blieb im Keller zurück. Mit der brisanten Ladung machten sie sich auf den Weg durch die Leipziger Nacht. Die beiden Frauen mit den Ledertaschen per Straßenbahn, Uwe hinterher mit dem Fahrrad. In Jochens Wohnung in der Schletterstraße waren inzwischen alle eingetroffen, die beim Verteilen helfen wollten. Frank und Rainer waren direkt zu Jochen gekommen. Mit Uwe und Gesine, die noch unterwegs waren, waren sie dreizehn Leute.
Micha berichtete von den Leuten, die er abgeschüttelt hatte. Andere hatten auf ihrem Weg hierher ebenfalls festgestellt, dass sie beobachtet wurden. »Woher wissen die das nur schon wieder?« Micha war ratlos, wütend und verzweifelt. Allen war klar, dass die ganze Aktion auf der Kippe stand. Solche Gestalten lungerten ja oft vor ihren Wohnungen herum, das kannten sie gut. Meist nur als Protokollanten des Geschehens. Doch Beobachter konnten sie heute Nacht nun wirklich nicht gebrauchen. »Schmeißen wir es? Ist alles zu riskant, oder sollen wir die Sache durchziehen?«, fragte Micha.
Bisher hatte alles wunderbar geklappt, auch alles drum herum. Micha, Rainer und Thomas hatten dafür gesorgt, dass die Basisgruppen in der ganzen DDR von ihrer Aktion erfahren würden. Sie hatten sichergestellt, dass Westpresse und -fernsehen über den Inhalt des Flugblattes berichten konnten, und auch ihre Freunde von der Charta 77 in Prag wussten Bescheid. Als die ersten Flugblätter gedruckt waren, hatte Micha eines davon abgezweigt, es in einen Umschlag gesteckt und dazu einen Brief an Petr Uhl in Prag geschrieben, damit es dort von den Oppositionellen noch vor dem 15. Januar öffentlich gemacht würde. Also morgen oder übermorgen. Mit dem Umschlag hatte sich Katrin Dorn, eine Mitstudentin von Sabine, im Zug auf den Weg nach Prag gemacht. Katrin studierte dort ein Auslandsemester Psychologie und kannte die Szene in der Stadt. Und jetzt? Alles sein lassen? Alles abblasen?
»Was meint ihr, gehen wir das Risiko ein?« Rainer antwortete als Erster: »Ich weiß, wo ich lebe und was ich riskiere. Es besteht immer die Gefahr, verhaftet zu werden.« »Es ist nicht das erste Mal«, sagte Frank »dass ein Flugblatt verteilt wird.« Die anderen sahen ihn an. »Gut, es sind diesmal ein paar mehr.« Er musste lachen, und ein befreiendes Lachen ging durch die ganze Runde. »Warum sollte es nicht klappen? Klar, dass wir auffliegen, kann passieren. Ich hab meine Zahnbürste dabei. Wenn sie uns verhaften, dann aber bitte erst, wenn wir alles verteilt haben. Lasst uns bald damit anfangen, bis jetzt haben wir noch freie Hand.«
Theo meldete sich zu Wort. »Du hast recht. Ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Morgen früh beginnt meine Schicht in Espenhain auch wieder um sechs. Also, ich hab keine Zeit zu verlieren.« Micha sah sich um. Es war klar, dass es vor Sonntag für sie sonst keine andere Möglichkeit mehr gab, die Flugblätter zu verteilen. Gesine, Uwe und Constanze würden wohl bald mit ihnen eintreffen. Er sagte, mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Ich will mein Handeln nicht länger von denen bestimmen lassen!« Und irgendwie war es damit entschieden.
Micha ging in den Nebenraum und spähte durch das Fenster in die Dunkelheit. Vor dem Haus war nichts zu sehen. Er stellte zwei brennende Kerzen auf das Fensterbrett. Das war das vereinbarte Zeichen für die Transporteure, dass sie die Flugblätter nach oben bringen konnten. Die anderen standen über einen Stadtplan von Leipzig gebeugt und grenzten die Gebiete ab, in denen sie verteilen wollten. Keiner sollte alleine unterwegs sein, immer mindestens zwei zusammen. Die Flugblätter sollten möglichst flächendeckend verteilt werden, aus Vorsicht zeitgleich ab Mitternacht von den äußeren Stadtgebieten her in Richtung Zentrum. Zentrale Plätze, Passagen und Orte wie die Moritzbastei wollten sie meiden. Wenn jemand mit den Flugblättern in der Hand kontrolliert würde, konnte er immer sagen, man habe sie in der Straßenbahn gefunden.
Eigentlich wusste jeder selbst, was er mit den Flugblättern zu tun hatte, und unterwegs würde sich schon der Rest von alleine ergeben. Aber Micha zählte noch mal auf: »Einzeln in Briefkästen, kleine Stapel auf Fenstersimse oder in Telefonzellen, ein paar mehr in Wartehäuschen oder in die Straßenbahn legen.«
Die Stadtbezirke und die Verteiltrupps standen bald fest. Leipzig-Mitte, Gohlis, Schönefeld, Thekla, Mockau, Stötteritz, Anger-Crottendorf, Plagwitz, Grünau und die Bezirke Süd, Südost und West. Carola ging mit Theo, Ulli mit Micha, Michaela mit Jochen, Andreas mit Andree, Gesine mit Uwe, Rainer mit Frank und der Theologiestudentin Katti. Constanze brachte zwar die Flugblätter, würde aber nicht mehr mit verteilen. Eine besondere Rolle bei der Aktion hatte Anita ihrer Tante Jutta zugedacht. Jutta war fast wie eine Freundin für sie, denn als Anita achtzehn Jahre geworden war, zogen die beiden Frauen zusammen in eine Connewitzer Wohnung, bis jeder von ihnen wegen der Baufälligkeit des Hauses eine eigene zugewiesen bekam. Jutta war unverdächtig und besaß privat eines der seltenen Telefone, dank Schwiegervater bei der Reichsbahn. Sie hatte keine Angst vor möglichen Folgen. Sie hing nicht besonders an ihrer Arbeitsstelle und lebte entspannt nach dem Motto, wenn etwas nicht mehr sein soll, dann tun sich eben andere Türen auf. Das wusste Anita. Sie hatte mit Jutta ausgemacht, dass jeder, der beim nächtlichen Flugblattverteilen mitmachte, am nächsten Tag bei ihr anrufen würde. Micha schrieb daher noch schnell für Jutta eine Liste mit den Vornamen der nun endgültig feststehenden Verteiler auf und hinter jeden Namen eine Nummer. 12 für Gesine, 1 für Jochen, 4 für Carola, 6 für Uwe. Jeder sollte bis 18 Uhr, von welchem Telefon auch immer, einfach in Leipzig die 57484 anrufen und dann – ohne seinen Namen zu nennen – diese Nummer durchgeben. So wäre schnell klar, ob jemand erwischt worden war. Es war spät geworden. Sie mussten endlich loslegen.
Micha wunderte sich, warum die Flugblätter noch nicht eingetroffen waren. Er ging noch einmal in den Nebenraum. Die Kerzen brannten noch. Vor dem Haus war niemand zu sehen. Sie müssten doch längst hier sein, dachte er und beschloss hinunterzugehen. Doch auf der Schletterstraße sah er auch niemanden. Er wartete. Da kam plötzlich Constanze auf der anderen Straßenseite auf ihn zu. Sie ging an ihm vorbei, ohne Kontakt aufzunehmen. Er begriff, dass er ihr folgen sollte. In einer Seitenstraße verschwand er mit ihr in einen Hauseingang, der offen stand.
Sie berichtete, dass eigentlich alles geklappt habe. Uwe und Gesine würden bald folgen und hätten alle Flugblätter dabei. Micha blieb mit ihr im Schutz des Hauseinganges und beobachtete die Straße und den schwer überschaubaren Platz mit der Peterskirche. Tatsächlich tauchten Gesine und Uwe wenige Minuten später aus dem Dunkel des Platzes auf. Sonst war niemand zu sehen. Gesine erzählte Micha, sie seien auf dem Weg ziemlich sicher von Stasi-Leuten verfolgt worden, zeitweise sogar mit einem Lada. Es hatte länger gedauert, sie abzuschütteln. Angesichts der Lage beschlossen sie, die Flugblätter nicht in Jochens Wohnung zu bringen. Micha kannte einen nahegelegenen Hinterhof an der Ecke Liebknechtstraße. Er war weitläufig und hatte Zugänge von mehreren Seiten. Dort sollten sie mit den Flugblättern warten. Die anderen würden dann alle fünf Minuten in Zweiertrupps zu ihnen kommen.
Micha drückte Constanze noch rasch die Telefonliste mit allen Vornamen in die Hand und nannte ihr die Anschrift von Jutta. Dann sah er sich kurz nach allen Seiten um und ging vorsichtig zurück zu den anderen in Jochens Wohnung. Das Eckhaus an der Liebknechtstraße war kaum bewohnt. Gesine, Constanze und Uwe betraten den Eingang, ohne das Licht anzustellen. Sie mussten sich in der Dunkelheit erst ein paar Stufen hochtasten, um über einen Absatz wieder hinunter zur Tür in den Hof zu gelangen. Auf dem Absatz standen ein paar Kinderwagen und – sie staunten nicht schlecht – ein Klavier. Vor ihnen lag ein halb abgerissenes Hinterhaus, das wirkte unheimlich. Offene, schwarze Fensterhöhlen starrten auf sie herab.
Sie versteckten die Päckchen zwischen den alten Blechmülltonnen. Constanze machte sich mit den leeren Taschen auf den Weg zu Jutta, schob Michas Zettel unter der Wohnungstür durch und fuhr zurück nach Hause. Ihre Aufgabe in dieser Nacht war erledigt. Gesine und Uwe blieben alleine im dunklen Hof zurück. Und warteten. Plötzlich wurde es hinter ihnen laut. Zur traditionellen Jagd anlässlich des Jahreswechsels hatte der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, das Diplomatische Korps für Freitag in den thüringischen Bezirk Erfurt eingeladen …
»Sucht ihr hier was?«
Irgendwo hörte jemand bei offenem Fenster Radio DDR. »Der einzige Volkspolizist weit und breit genießt seinen Feierabend«, flüsterte Uwe Gesine zu. Die Nachrichten zogen sich hin. Beide lauschten in die Dunkelheit. Wie alle Jahre im Januar ziehen am kommenden Sonntag, dem 15. Januar, Hunderttausende Berliner zur Gedenkstätte der Sozialisten unter der Losung: Wir ehren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch hohe Leistungen zur Stärkung des Sozialismus und des Friedens! Vorwärts zum 40. Jahrestag der DDR! Uwe stieß Gesine an: »Was glaubst Du, wie viele es bei uns am Sonntag sein werden?«
Micha war inzwischen zurück in Jochens Wohnung. Die anderen hatten sich schon um ihn gesorgt. Er erklärte ihnen, wie es jetzt laufen sollte. Endlich ging es los. Gesine und Uwe standen im Durchgang zum Hof und achteten auf jedes Geräusch. Der mutmaßliche Volkspolizist hatte noch immer sein Radio an, jetzt aber mit fröhlicher Tanzmusik. Irgendjemand in der Nachbarschaft machte sich noch zu später Stunde eine Pfanne Bratkartoffeln mit Speck. Der Duft verdrängte den Braunkohlemief der Ofenheizungen und zog durch den ganzen Hof. Uwe merkte, dass er schon lange nichts mehr gegessen hatte.
Kurz vor Mitternacht erschien der erste Zweiertrupp im Hof. Es waren Carola und ihr Freund Theo. Uwe bückte sich hinter eine Mülltonne und kam mit zwei Volkszeitungs-Päckchen und Einmalhandschuhen zurück. Die Dinge wechselten ihren Besitzer, Uwe flüsterte: »Viel Glück!« Dann verschwanden die beiden in die Nacht. Sie hatten nur einen Gedanken: die heiße Ware sinnvoll, aber vor allem so schnell wie möglich wieder loswerden. Bald erreichten sie die erste Straße, die zu ihrem Gebiet gehörte. Sie drückten eine schwere Haustür auf – und waren enttäuscht über die wenigen Briefkästen, die benutzt wurden. Die meisten Häuser in dieser Gegend waren nur noch teilweise bewohnt. Aber dafür gab es auch kaum verschlossene Haustüren. Die Schlösser waren seit Jahren defekt und nie repariert worden. Sie liefen weiter, von Haus zu Haus. Carolas Herz klopfte schneller als gewöhnlich. Sie wusste, dass sie bei einer Kontrolle nicht gut wegrennen konnte, denn sie hatte seit ihrer Geburt ein Hüftproblem, verschieden lange Beine, die ihr keinen Sprint erlaubten.
Jedes Mal, wenn sie mit Theo wieder aus einem Eingang hinaustrat, schauten sie rechts und links die Straße entlang. Kam da jemand? Hörte sich das nicht nach einem nahenden Auto an? Steht da vielleicht einer hinter der Tür? Oh, verdammt, da funktioniert ja ausnahmsweise mal Licht im Treppenhaus, da können wir jetzt nicht rein … Was sie nicht bemerkten, war ein Mann, der sie von seinem Balkon aus beobachtete. Sie gingen gerade am Chausseehaus von Haustür zu Haustür. Dem nächtlichen Raucher kam das verdächtig vor. Er war inoffizieller Mitarbeiter der geheimdienstlich arbeitenden Abteilung K1 der Transportpolizei, wähnte sich selbst nach Feierabend noch im Dienst und ging hinunter auf die Straße. »Sucht ihr hier was?«
Obwohl der Mann urplötzlich vor ihnen stand, nannte Theo geistesgegenwärtig einen ausgedachten Namen: »Der … Bornschneider muss hier irgendwo wohnen!« »Hmmh … Bornschneider? Kenn ich hier nicht.« Der Mann verschwand wieder. Die beiden machten weiter. Als sie gerade mit Handschuhen an den Händen und Flugblättern im Beutel aus einer Haustür kamen, versperrten ihnen zwei Volkspolizisten den Weg. »Zeigen Se mal, was Sie da in der Tasche haben!«..." Peter Wensierski
Ebenfalls im Frühjahr 2017 als Buch neu erschienen: Interner Link: Kein Indianerspiel - Wie Journalisten die Stasi überlisteten. Von Karl-Heinz Baum.
Peter Wensierski ist Schriftsteller, Journalist und Dokumentarfilmer. Zu DDR-Zeiten arbeitete er für den Evangelischen Pressedienst "epd" in der DDR und für das ARD-Fernsehmagazin Kontraste. Seit 1993 ist er Redakteur des Nachrichtenmagazins 'Der Spiegel' und Autor mehrerer Sachbücher. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus seinem Buch Externer Link: "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution - Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte", erschienen 2017 in der Verlagsgruppe Random House.
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