Drei Fallbeispiele zum Verhältnis von Staatssicherheit und Bildenden Künstlern in der DDR zwischen 1964-1982. Erfahrungen der Maler Roger David Servais, Bernhard Heisig und Ralf Kerbach. Ergänzend drei Funde aus dem Stasi-Archiv: Ausführliche Analysen des MfS über "Kulturschaffende" in der DDR 1969, 1980 und 1989.
Erst nach dem Mauerbau begann sich das Ministerium für Staatssicherheit verstärkt für den Kulturbetrieb zu interessieren. Am 9. März 1964 wird die Hauptabteilung XX (HA XX) für den „gesellschaftlichen Überbau“ eingerichtet. Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 tauchten in den Dienstanweisungen und Befehlen erstmals der Kampf gegen alle Erscheinungen der „politisch-ideologischen Diversion“ (PiD) und die Bekämpfung der „staatsfeindlichen Hetze“ als zentrale Aufgaben im Kulturbereich auf. Im Juni 1969 wurde die Abteilung 7 der HA XX eingerichtet mit der Zuständigkeit für die Sicherung der Bereiche „Kultur“ und „Massenkommunikationsmittel“. Für die bildende Kunst waren das z.B. die Akademie der Künste, die Kunsthochschulen, Kultur- und Klubhäuser und vor allem der Verband der bildenden Künstler, von Vertrauenspersonen von SED und Stasi durchsetzt.
Der Einschnitt 1968
Ausgangspunkt der von nun an entwickelten MfS-Strategien gegen "negative Kräfte im Bereich Kunst/Kultur" war eine umfangreiche "Analyse der politisch-operativen Situation in den Bereichen Kultur und Massenmedien in den Bezirken der DDR", vorgelegt von der Abteilung 1 der HA XX mit Datum vom 24. Juni 1969 (BStU, MfS, HA XX/AKG 1494). Sie nahm landesweit Kunstschaffende aller Genres ins Visier, die "im Rahmen der politisch-ideologischen Diversion des Feindes" beeinflusst seien oder "im Zusammenhang mit der konterrevolutionären Entwicklung in der CSSR" auffällig wurden. Erwähnt werden nicht nur Prominente, wie zum Beispiel der Generalmusikdirektor der Dresdener Philharmonie, Kurt Masur, "der zu den Maßnahmen am 21.8.68 eine labile Haltung einnimmt und zum Ausdruck brachte, er selbst würde diese Geschehnisse bedauern" (S.34). Lehrende und Lernende im gesamten DDR-Kulturbetrieb werden erfasst, die einen "ungenügend gefestigten Klassenstandpunkt vertreten". Zum Beispiel auf S. 66 Dozenten der Fachhochschule für angewandte Kunst Heiligendamm. Dort heißt es: "Die Dozenten S., M.,B., (alle SED) G.,, L., u.a. sind politisch schwankend und durch negative Auffassungen aufgefallen". Ein Student K., "dessen negative politische Einstellung bekannt ist", sei sogar vom Dozenten M. für das höchste Leistungsstipendium vorgeschlagen worden. "Ein Teil der Studenten hält die konterrevolutionäre Entwicklung in der CSSR für richtig und verurteilt die militärischen Hilfsmaßnahmen der Sozialistischen Länder."
Aus allen Bezirken wird in der Stasi-Analyse die Zahl bislang aktiver IM in der Kulturszene aufgelistet, die bereits zur Verfügung stehen, um solche "negativen Gruppen" (S.42) zu erfassen und unter Kontrolle zu bringen (S.79). Insgesamt 497 IM sind es bereits Anfang 1969, davon in Groß-Berlin 35, Cottbus 34, Dresden 128, Erfurt 41, Potsdam 60 und Rostock 98. Doch der konsequente Ausbau dieser Netze fängt jetzt erst an.
Ausgrenzung kritischer Künstler
Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS unterhielten, neben dieser wachsenden Zahl von Inoffiziellen MitarbeiterInnen (IM), ein weitgespanntes Netz zu sogenannten „Kontaktpersonen“ (KP) in den Kultureinrichtungen. Roger David Servais z.B., ein belgischer Künstler, der 1961 von West-Berlin nach Ost-Berlin übersiedelte, um dort seine Freundin zu heiraten, erlebte die Doppelrolle dieser Kontaktpersonen bzw. IM. Das Dokument vom 2. Oktober 1964 über die Aufnahme in den Verband als Kandidat war vom Vorsitzenden der Bezirks-Sektionsleitung, Frank Glaser, der zugleich als IM "Joachim“ tätig war, unterzeichnet. In diese undurchsichtige Gemengelage von Amtsträgern des Verbandes und des Staates, die zugleich einer Parteihierarchie angehören und Stasi-Zuträger sind, wurde Servais zunehmend verwickelt, verunsichert, bedroht und gedemütigt, da dessen Kunstansatz den Kulturfunktionären und der Stasi als zu abstrakt und aufmüpfig erschien. Im Rahmen ihrer offiziellen ‚Befugnis’ schickten Funktionäre ihm Mahnschreiben und Anweisungen, in der anderen, geheimen Funktion versuchten sie, ihn zugleich mit Maßnahmeplänen einzuschüchtern und zu kriminalisieren.
Nachdem der Plan, Servais als IM anzuwerben, an dessen Weigerung gescheitert war, begann die Staatssicherheit operative Maßnahmen gegen ihn einzuleiten. Mehrfach versuchte sie, ihn in eine Falle zu locken mit dem Vorschlag, eine „illegale Kulturzeitung für die DDR“ zu gründen. Eine andere, ebenfalls fehlgeschlagene Provokation bestand darin, ihn immer wieder in Briefen, die gefälschte Unterschriften von Freunden trugen, zu illegalen Aktionen aufzufordern. Obwohl Servais bereits von Bert Heller als Meisterschüler an der AdK angenommen worden war, verhinderte die Partei und die Staatssicherheit diese Berufung. Diese Maßnahme vollzog der Sekretär der Sektion Bildende Kunst der AdK, Werner Klemke, der zugleich als „GI Künstler“ tätig war. Die Absage vom 28. Juni 1968 begründete er mit der vorgeschobenen Regel, die besagte, dass „die Voraussetzung für die Aufnahme von Meisterschülern der erfolgreiche Abschluss des Studiums an einer Kunsthochschule der DDR“ sei.
Der von den Richtlinien der Parteigremien unbeeinflussbare, seinen eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen folgende Servais, reagierte immer kritisch auf seine Umwelt. Sozialisiert in einer freien Gesellschaft, ließ er sich nicht einschüchtern. Daher musste er durch Ausschluss aus allen Gremien, Verweigerung von Aufträgen, Ankäufen und der Beteiligung an Ausstellungen isoliert werden. In der „Operativen Information Nr. 1213“ vom 21. November 1968, wird als der eigentliche Grund für die Verweigerung des Meisterschülerstatus formuliert, ihm fehle „eine konkrete parteimäßige Durchdringung“, daher müsse man ihn „aus dem Kollektiv“ entfernen.
Kontrolle durch "Bewährungshelfer" von der Stasi
Im Zuge der von Erich Honecker und Kurt Hager auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 angekündigten neuen Kulturpolitik bekamen viele Künstler wie die Maler Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, aber auch Karl Georg Müller und Werner Tübke eine zweite Chance. Noch Ende der 1960er Jahre führten sie eine Randexistenz: „Die drei problematischsten Künstler sind zur Zeit a) Werner Tübke, b) Bernhard Heisig, c) Wolfgang Mattheuer“, stellte Joachim Uhlitzsch 1969 fest, der SED-Kulturfunktionär gehörte dem Vorstand des Verbands Bildender Künstler in der DDR an und war von 1963 bis 1984 Direktor der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
1972 begann Bernhard Heisigs zweite Karriere mit der Verleihung der Kunstpreise der Stadt Leipzig und des FDGB, dem Nationalpreis II. Klasse, der erneuten Übernahme des Vorsitzes des Leipziger Bezirks des Verbandes Bildender Künstler. Heisig wurde Mitglied der Akademie der Künste der DDR, erhielt 1974 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold und den Theodor-Körner-Preis der Nationalen Volksarmee, wurde Vizepräsident des VBK-DDR und erhielt 1975 die Johannes R. Becher-Medaille in Gold. Mit der Übernahme seines zweiten Rektorats an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) endete 1976 eine achtjährige Periode freiberuflichen Schaffens. Die erneute Investitur stellte für Bernhard Heisig nach den Maßregelungen von 1964 bis 1968 zugleich den Abschluss seines zweiten Aufstiegs in hohe Ämter und einflussreiche Positionen dar. In diesem Zusammenhang wurde er 1976 auch Kandidat der SED-Bezirksleitung Leipzig. Für sein Wandbild „Ikarus“ (1975) erhielt er 1976 innerhalb des Künstlerkollektivs der Wandbildgalerie im „Palast der Republik“ den Orden „Banner der Arbeit“ (1. Stufe). Seine Teilnahme an der ebenfalls 1976 statt findenden „documenta 6“ – zusammen mit Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und dem Bildhauer Jo Jastram – eröffnete eine neue Periode der Kunstpolitik, die im Zeichen einer deutsch-deutschen Annäherung stand.
Bei diesem Aufstieg in leitende Ämter standen Heisig als „Bewährungshelfer“ zwei informelle Mitarbeiter zur Seite. Oskar Erich Stephan arbeitete bis 1953 als Dekorationsmaler für politische Großflächenagitation, danach als Instrukteur bzw. Bezirkssekretär des Bezirksvorstandes des VBK Leipzig. 1972 legte er angeblich aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nieder und wurde Vorsitzender der Zentralen Revisionskommission des Zentralvorstandes des VBK-DDR. Damit wurde er hinter Sitte und Heisig als Präsident und Vizepräsident zur grauen Eminenz des Verbandes, bei der alle Fäden zusammenliefen. In dieser Funktion berichtete er gleichzeitig als GMS/IMS "Bertallo" über Heisigs Aktivitäten, pünktlich mit dem Beginn von dessen zweiter Karriere ab 1972 (GMS seit 1970, 1972 IMS, 1974 schriftliche Verpflichtung) für die Bezirksverwaltung Leipzig des MfS. Stolz erklärte er, dass Heisig mit „meiner Hilfe“ seine „künstlerische, wie ideologische Position“ (angeführt werden Bilder von Heisig aus dem „Leninjahr wie Lenin-Dimitroff, Brigadier“) voranbringen konnte.
Die intellektuelle Führung aber übernahm seit 1974 der Kunstwissenschaftler Karl Max Kober als IMS „Dr. Werner“. Auch der damalige wissenschaftliche Oberassistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig machte jetzt plötzlich Karriere und wurde zum Professor und zweiten Vizepräsidenten des VBK-DDR, neben Heisig, ernannt. Kober verstand es in kurzer Zeit zum vertrauten Gesprächspartner - und Beeinflusser - zu werden. Die Familien Kober und Heisig machten regelmäßig gemeinsam Urlaub. In Kobers Nachlass fanden sich dutzende Tonbandkassetten mit aufgezeichneten Gesprächen, die sich inzwischen mit dem Nachlass von Kober in der Akademie der Künste befinden. Das Vertrauen von Heisig hatte sich Kober bei der Arbeit an seinem Katalogtext für eine Wanderausstellung, die 1973 in Dresden und Leipzig gezeigt wurde, erworben.
1977 beauftragte ihn Heisig mit der Abfassung einer Monographie. „Dies bedeutet, dass er in der nächsten Zeit umfangreichen Kontakt mit dem H. haben wird“, berichtete Kober stolz seinem Führungsoffizier. Er werde ihn nun auch auf Auslandsreisen, z.B. nach Paris, regelmäßig begleiten und seine Auftraggeber über die positive politisch-ideologische Grundeinstellung seines temperamentvollen und machtbewussten, zu spontanen Aktionen neigenden Schutzbefohlenen auf dem laufenden halten. So lobt er Heisig immer wieder für sein „klares und eindeutiges Auftreten bei Aufenthalten im KA (kapitalistisches Ausland)" - nicht gegen die DDR, sondern in ihrem Sinne.
Neuer Einschnitt Biermann-Ausbürgerung
In seinem zweiten Rektorat versuchte Heisig sich für ein offenes Klima an der Hochschule einzusetzen. Natürlich blieb das Erlernen figürlicher Kompositionstechniken für alle Studierenden eine „Pflicht“, aber trotz aller Ideologie, war die Malerei für Heisig „keine Illustration philosophischer Konzeptionen“, weil ihre Bedingung eben „die Wut der Sinne“ (Max Beckmann) sei.
Diese Freiraumerweiterungen an der Hochschule in Leipzig und im Kunsttransfer zwischen beiden deutschen Teilstaaten wurden im selben Jahr überschattet durch die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann am 16. November 1976. In der folgenden kulturpolitischen Auseinandersetzung verhielt sich Heisig zurückhaltend; er unterschrieb weder die Petition gegen die Ausbürgerung, noch befürwortete er diese in einer von der SED eingeforderten Resolution.
Die Disziplinierungsmaßnahmen und die von Heisig geforderte Selbstkritik 1964 zeigten aber ihre Langzeitwirkung als tiefsitzender Reflex, wie aus einem Bericht des IMS Dr. Werner von 1976 über Heisigs Verhalten zur Ausbürgerung Wolf Biermanns hervorgeht: Heisig habe „zwei Anrufe, anonym, erhalten, wo er gefragt worden ist, ob er nicht unterzeichnen wolle. [...] Heisig habe abgelehnt. Heisig aber, so Dr. W., sei mit sich selbst nicht ins Reine gekommen. Er hat von seiner Maßregelung damals gesprochen und zu Dr. W. gesagt, er wisse, in welche Mühle man da komme. Plötzlich habe man keine Freunde mehr. Erst Ulbricht hat dann gesagt: Macht mal keinen Märtyrer aus ihm. Sodann habe er wieder Ruhe gefunden. Wohl wegen dieser Erfahrung habe Heisig keine Stellungnahme abgegeben.“ Nach Aussagen seiner Frau, der Malerin Gudrun Brüne, habe er aber auch die von der SED geforderte schriftliche Zustimmung des Rektors zur Ausbürgerung Biermanns abgelehnt.
Künstlernachwuchs steuern und zersetzen
Das Versprechen einer neuen Kulturpolitik der „Weite und Vielfalt“ erwies sich sehr bald als trügerisch. Noch vor der Maßnahme gegen Biermann veranlasste die Ratifizierung der KSZE-Schlussakte in Helsinki am 1. August 1975 das MfS zu einer massiven Verstärkung von vorbeugenden Abwehrmaßnahmen gegen die Einflussnahme des „Klassengegners“ auf die heimischen Künstler. 1976 sah sich das MfS nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann mit einer nie zuvor erlebten breiten Protestbewegung konfrontiert. Bereits im Januar 1976 war eine Operativgruppe (HA XX/OG) gebildet worden. Die IM’s der neuen OG wurden auf die Bekämpfung der vermuteten „politischen Untergrundtätigkeit“ (PUT) spezialisiert, aus der 1981 im Hinblick auf die Befürchtung, die polnische Gewerkschaftsbewegung könnte auf die DDR übergreifen, die HA XX/9 entstand. Das neue intelligente Konzept der Stasi sah für die von ihr geführten IM nicht mehr nur die Beobachtung und Berichterstattung bzw. das Zerschlagen von Künstlergruppen, sondern das Beherrschen und Umprofilieren von innen heraus vor. Sie sollten in den Gruppen „tonangebend“ werden und dann deren Aktivitäten und politischen Ziele „paralysieren“ oder die Gruppe insgesamt „zersetzen“. Die IM wurden zu diesem Zweck systematisch psychologisch geschult.
Besonders erfolgreich war in dieser Doppelrolle als Protagonist der Szene und zugleich ihr "Verräter", der Dresdener Schriftsetzer und Lyriker Sascha Anderson. Im Sommer 1979 hatten die Malerin Cornelia Schleime und der Maler Ralf Kerbach, damals noch Studenten an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste, angeregt von britischen Rock-Rebellen wie „Stranglers“ und „Sex Pistols“ eine Künstlerband gegründet, die sie nach einer Zeichnung von Paul Klee hintergründig ironisch „Vierte Wurzel aus Zwitschermaschine“ nannten. Kerbach gab als Gitarrist den Ton an, Cornelia Schleime und der Dichter Michael Rom sangen eigene Texte. Sascha Anderson drängte sich als dritter Texter und Sänger und Freund der Künstler auf. Kerbach: „Anderson kam zu uns und wollte mitspielen. Aus der Stasiakte weiß ich jetzt, er sollte die Band zersetzen durch Streitereien. Er brachte die Free-Jazz-Komponente ein, die mich überhaupt nicht interessierte. Ich hatte über Achtel- und Vierteltakte eine durchkomponierte Musik gemacht. Die Form war weg.“
Zugleich verhinderte Anderson gezielt Auftritte der eigenen Band und sorgte dafür, dass der Auftrag im Rahmen des operativen Vorgangs („OV Grund“ nach der Adresse Grundstraße des Künstlertreffs Leonhardi-Museum) erfüllt wurde: Erarbeitung von „strafrechtlich relevanten“ Beweisen, „Erarbeitung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes. [...] Erkennen geplanter negativer, oppositioneller und provokatorischer Aktionen sowie deren vorbeugender Verhinderung.“ Kerbach habe als „Leiter einer illegalen Punck-Rock-Gruppe“ offen gegen die DDR gewirkt. Die Zielstellung des OV sei es, „K. aus dem Kreis der bearbeiteten Personen herauszubrechen und die o.g. Punck-Gruppe zu zersetzen und aufzureiben.“ Dies sei durch die Verhinderung der gemeinsamen Ausreise von Kerbach und Schleime und die Übersiedlung von Kerbach am 27.9. 1982 nach West-Berlin ohne seine Lebensgefährtin erreicht worden. „Auf der Grundlage der geführten Verunsicherung und Zersetzungsmaßnahmen durch das MfS entstand in der Punck-Rock-Gruppe Misstrauen, welches zum Zerfall der Gruppe führte. [...] Kerbach wurde gegenüber seinem Freundeskreis als Informant des MfS hingestellt, was Rückverbindungen zu Kerbach (von Dresden nach West-Berlin) weitestgehend einschränkte.“
Dieser Erfolg für das MfS basierte auf den detaillierten ‚psychologischen’ Ratschlägen zum Umgang mit Kerbach, die Anderson der Staatsmacht übermittelte. Sie erhielt 1981 intimes Wissen über einen ‚Freund’, das zur Manipulation des Observierten direkt genutzt werden konnte. Die Dringlichkeit des Ausreisewunsches von Kerbach erklärt Anderson mit der Schwierigkeit, dass „er die radikale Kunst mit Überschreitungen der Mediengrenzen der Malerei (Musik, Musiktheater) hier nicht ausführen kann [...]. K. hat in der BRD als Vorbilder die sogen. 'Neuen Wilden'. [...] Kerbach möchte eine noch aggressivere Musik selbst nicht nur im kleinen Kreis, sondern mit großer öffentlicher Wirkung machen. [...] Es ist zu erwarten, daß sich bei ihm die aggressiven Haltungen steigern.“
Ganz offensichtlich hatte der Auftrag an Anderson, die Künstlerband und den inneren Zusammenhalt der Dresdner Künstlergruppe aufzulösen, Erfolg.
Entpolitisierung junger Kunst
Nach seinem Wechsel von Dresden nach Ost-Berlin profilierte sich Sascha Anderson dort zum Dreh- und Angelpunkt der Prenzlauer Berg Szene. Seine Hauptaufgabe war es, die sich bereits abzeichnende Trennung zwischen einer Gruppe politisch interessierter oder gar aktiver Autoren wie Lutz Rathenow, Rüdiger Rosenthal, Uwe Kolbe, die noch von Wolf Biermann und Bettina Wegner beeinflusst waren, und einer auf Autonomie bedachten Gruppierung um Stefan Döring, Egmont Hesse, Bert Papenfuß, die Sprachkritik als Machtkritik verstanden, zu verstärken. Die ersteren sollten nach Möglichkeit systematisch ausgegrenzt und intern diffamiert werden.
Der Kunstwissenschaftler Christoph Tannert, einer der Ostberliner Aktivisten damals, nannte die Prenzlauer Berg-Avantgarde eine „Gummizelle für Formalisten“, die sich die Mächtigen geleistet hätten. „Sascha Andersons Wirkrichtung, die er für die Berliner und Dresdner ‚Szene’ vorgab, sei gewesen: ‚Nicht für, nicht gegen, sondern außerhalb' und noch heute ist ihm die STASI dankbar für dieses Bekenntnis zum Labyrinthischen [...] Die [...] deutliche Trennung der ‚Szene’ von den politischen Aktivisten auch Kirche und Bürgerbewegung ist das Schlüsselmoment für das Verständnis einer schwer deutbaren Situation, um die es hier geht.“
1986 folgte Anderson seinen ‚Freunden’ Kerbach und Schleime als IMB „Peters“ nach West-Berlin, um dort seine Spitzeltätigkeit fortzusetzen, nicht nur gegen die Künstler und ihre Rückverbindungen in die DDR, sondern auch gegen die mit Ihnen verbundenen Diplomaten und Journalisten. Ein Gemälde Kerbachs mit dem Titel „Sascha“ aus dem gleichen Jahr zeigt Anderson mit Koffer barfuß beim Grenzübergang von Ost nach West, Schwarze Krähen verfolgen ihn. Er versucht, ihnen im Sturmschritt zu entkommen. Eine ist gerade dabei, auf seinem Kopf zu landen und mit ihrem Schnabel auf seinen Schädel einzuhacken. Den Überflieger Anderson, der glaubte, den Spagat zwischen der Macht und der Kunst spielerisch meistern zu können, haben die Raben eingeholt. Von allen Seiten, von oben und unten attackieren sie ihn mit ihren verletzenden Bissen, die schmerzen wie möglicherweise die Gewissensbisse, die der "Verräter", der zugleich bester Freund war, empfunden haben mag.
Zu diesem Zeitpunkt konnte Kerbach nicht wissen, dass Anderson als "IM mit Feindberührung" im Auftrag der Staatssicherheit die Ausreise nach Westberlin bewilligt bekam - auch um ihn im Westen weiterhin zu observieren. Über die Macht des Spitzels, der sich als bester Freund ausgab, erfuhr er erst später - ausführlich dokumentiert in den Ausgaben der Aufarbeitungszeitschrift "Horch und Guck" des Berliner Vereins Bürgerkomitee 15. Januar e.V. 28/1999 und 29/2000. Darin stellten sich viele erlebte Details aus ganz neuen Blickwinkeln dar.
Als etwa am 27. Juni 1982 in der Berliner Erlöserkirche Pfarrer Eppelmann zu einer Schriftstellerwerkstatt einlud, sorgte Anderson laut Stasi-Akten dafür, "dass die ihm bekannten Dresdener Personen nicht nach Berlin reisen wollen. Durch geeignete Maßnahmen wird der IMB die Personen Kerbach, Schleime, Zeidler und Rom am 27. Juni 1982 bis 16 Uhr bei einem Malerpleinair in Eichsfeld (Bez. Erfurt) binden" heißt es in einem Schreiben der Dresdener Staatssicherheit vom 26.6.82. Auf diese Weise wurde die aus Sicht der Stasi risikoreiche Gruppenbildung in Zaum gehalten und Anderson zum überzeugten Kunst-Entschärfer des Systems. Auch als Kerbachs Ausreiseantrag im August 1982 genehmigt wird, erteilt das MfS Anderson gleich einen neuen Auftrag: "Kerbach bis Übersiedlung unter Kontrolle halten / sofortige Kontaktaufnahme nach der Übersiedlung".
Unbewusst irritierte aber schon vor dieser Akten-Lektüre Kerbach etwas an seinem Freund Anderson, der vorgab, er sei ausgereist, um seinen Freunden nahe zu sein. So porträtierte der Maler bereits 1983, ein Jahr nach seiner Ausreise, Anderson als Wortfäden produzierendes insektenhaftes Ungeheuer, dessen Brillengestell tentakelhaft in den Raum greift: „Metaphernflut Dichter sich auflösend“. Eine seelenlose Metaphernmaschine zielt auf seine Opfer.
Ironie der Geschichte. Ralf Kerbach lehrt inzwischen wieder in der Stadt, die er 1982 durch Stasi-Einfluss verlassen musste - als Professor für Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sein Leitsatz entspricht auch einer Befreiung vom gestern, obwohl das Thema Freundesverrat ihn nach wie vor aufwühlt: "Die Kunst im 21. Jahrhundert hat den Ballast der Ismen abgelegt; sie steht vor neuen Fragen und Antworten, die bisher in so einer Form noch nicht gestellt worden sind."
QuellentextGezielt unter falschem IM-Verdacht
Die Stasi versuchte auch, gezielt Gerüchte zu verbreiten, dass unliebsame Künstler oder Galeristen für die Stasi aktiv seien. Das ergibt sich beispielsweise aus Externer Link: Stasi-Akten des ehemaligen Privatgaleristen Jürgen Schweinebraden, der ab 1974 in seiner Wohnung in der Dunckerstraße 17 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zu Ausstellungen alternativer Künstlern einlud, die dem SED-Staat nicht passten. Der Druck auf ihn wurde in den Folgejahren so groß, dass er sich gezwungen sah, 1980 die DDR zu verlassen. In den Stasi-Maßnahmeplänen gegen ihn heißt es: "Hauptziel" sei es, ihn "durch Zersetzungsmaßnahmen offensiv zu bekämpfen", und zwar "so, dass alle Personen des engeren Kreises zu der Annahme kommen, dass Schweinebraden inoffizieller Mitarbeiter des MfS ist" und sich deshalb von ihm zurückziehen. Der Galerist hat diese Akten später selber in seinem Buch "Die Gegenwart der Vergangenheit", Band 1 "Blick zurück im Zorn?" veröffentlicht (EP Galerie & Edition, Berlin), eine Auswahl Akten als Externer Link: PDF auch online gestellt und Externer Link: kommentiert.
Der 1947 in Karlsruhe geborene Kunsthistoriker und Ausstellungs-Kurator ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher über die Bildende Kunst Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die DDR. In den 80er Jahren war er Mitherausgeber der Zeitschrift "Niemandsland. Zeitschrift zwischen den Kulturen". Er promovierte in Heidelberg über "Die Schwierigkeiten beim Suchen der Wahrheit - Eine Studie zur Problematik der antifaschistischen und sozialistischen Kunst der SBZ, DDR 1945−1989 " am Beispiel des Leipziger Malers Bernhard Heisig. 2003 erhielt er den Bürgerpreis zur Deutschen Einheit der Bundeszentrale für politische Bildung
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