Ließ sich die Stasi auch überlisten? Mühsam, denn jeder Fehler konnte Leben kosten. Der langjähriger DDR-Korrespondent Karl-Heinz Baum erinnert sich, wie es dennoch möglich war, auch hartnäckige Beschatter zu täuschen, um seine Quellen zu schützen. Ein Mosaik.
„Sie haben gewiss eine Ausbildung beim Geheimdienst!“ So begrüßen mich nicht selten Menschen in der DDR. Sie nehmen an, dass das bei im Westen eingesetzten DDR-Journalisten so sei. Mein „Nein“ hat mir wohl keiner geglaubt; doch ich habe nicht eine Minute für einen Geheimdienst gearbeitet. Wie ich mit dem Stasiapparat umgehen soll, hat mir auch keiner gesagt.
Den Blick des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf westliche Korrespondenten zeigt ein 1987 gedrehter Stasi-Lehrfilm, unterlegt mit düsterer, furchteinflößender, unheildrohender Musik: „Korrespondenten, aber auch Diplomaten aus NATO-Staaten, sind immer dann vor Ort präsent, wenn nach ihren Informationen etwas passieren soll oder wenn sich Ereignisse nach ihrer Auffassung für eine spektakuläre Berichterstattung über die DDR eignen.“ Ein guter Satz für die Personalakte. An die bürokratische DDR-Sprache kann man sich gewöhnen: Doch die journalistische Art mit Menschen zu reden, stellt die Stasi vor fast unlösbare Probleme.
Weiter im Text: (Mit „Geheimdiensten“ sind Dienste im Westen gemeint.) „Dabei hat die Quelle Mensch für die Geheimdienste trotz einer zunehmenden perfektionierten Nutzung technischer Spionagemethoden und -mittel weiterhin einen hohen Stellenwert. Die legalen Basen des Feindes, Korrespondenten und Diplomaten in der DDR, sind fest in das Gesamtsystem der Informationsbeschaffung integriert und nutzen rigoros alle gebotenen Arbeitsmöglichkeiten zur Abschöpfung und Eigenerkundung. Insbesondere die gesamte Breite der Kontaktpartner der legalen Basen stellt für die Geheimdienste ein großes Reservoir menschlicher Quellen dar. Diese Angriffe werden komplex und in enger Wechselwirkung vorgetragen. Die Korrespondenten streben einen solchen Umfang von Kontakten an, der es dem MfS unmöglich machen soll, den Überblick zu wahren und eine wirksame Kontrolle auszuüben.“
Wir sind „legale Basen des Feindes“, gar Stützpunkte des „Klassenfeindes“. Der „Klassenfeind“ ist in ihrem Freund-Feind-Denken schlimmer als der Feind, denn nach einer DDR-Redewendung schläft er nie. Journalisten arbeiten nicht nach Bürozeiten, müssen oft mit wenig Schlaf auskommen; so hat der Apparat schon deshalb mit uns Probleme.
Bevor die „Frankfurter Rundschau“ mich als Korrespondenten in die DDR schickt, sprechen Chefredakteur Werner Holzer und sein Vertreter Hans Herbert Gaebel mit mir. „Passen Sie auf, dass Sie nicht rausfliegen! Wir wollen die tägliche Berichterstattung, nicht die einmalige Sensation, die zur Ausweisung führt und unsere DDR-Berichterstattung auf Monate lahmlegt.“ Beide versichern, sollte wirklich etwas passieren: „Wir holen Sie raus!“ Schon mein Auftrag ist das Gegenteil der Stasierwartungen. Über das Leben und den Alltag der Menschen soll ich berichten. Mit dem Wissen, dass ich weniger in Gefahr bin als jene, mit denen ich spreche, schreibe ich alles, was ich für wichtig und richtig halte.
"Einmischung in innere Angelegenheiten"
Die DDR sieht unsere Arbeit als "Einmischung in innere Angelegenheiten". Ja, wir haben uns eingemischt, wenn auch zu wenig. Ich bin Journalist, weil ich mich ins öffentliche Leben einmischen will. Wer das verhindern will, darf Journalisten nicht zulassen, darf sie gar nicht erst ins Land lassen. Denn in Diktaturen geben Journalisten den unterdrückten Menschen eine Stimme.
Mein Motto für den Umgang mit der Stasi: Sie erschwert meine Arbeit! Warum soll ich ihre erleichtern? Ich versuche stets ihre Überwachung so gut es geht zu unterlaufen, bin aber gewiss, dass mir das nicht immer gelingt.
In meine Wohnung auf der Fischerinsel in Berlin Mitte kommen viele Leute. Ich sage jedem: „Hier könnt ihr alles sagen; nur unterlasst Bemerkungen, die Identifizierungen ermöglichen.“ Vieles schreiben wir auf Zettel, verbrennen sie bald. Der Kokelgeruch steckt mir noch in der Nase.
Die Wände halte ich für „russischem Beton“, also verwanzt. Einen Beweis dafür gibt es nicht. Doch ein Bericht belegt, wie Abhören scheitert: Die Wanze meldet das Aufschließen der Tür und ihr Insschlossfallen. Zehn Sekunden später haucht sie ihr Leben aus. Die Stasi prüft warum und entdeckt einen Stapel Zeitungen auf der Wanze. Den hatte ich beim Reinkommen in die nächstbeste Ecke geworfen. Getroffen ohne zu wissen, dass eine Wanze in der Wohnung war: mein „goldener Schuss“. Sie bauen keine neue ein, fürchten bei meiner Unordnung das gleiche Schicksal für die nächste. Der Westimport hätte Devisen gekostet. Die sozialistische Planwirtschaft hätte eine neue finanziell womöglich nicht verkraftet.
Ihre Erkenntnis: „Die ständige Unordnung in seinem Büro ist eine bewusste Abwehrmaßnahme gegen konspirative Wohnungsdurchsuchungen.“ Die so geadelte „Unordnung“ muss dafür herhalten, dass sie kein Telefon- und Adressenverzeichnis, keinen Terminkalender finden. Sie können sie nicht finden. Sie kommen nicht darauf, dass ich solche Dinge im Kopf habe.
Erste Arbeitsanweisung der DDR: „Als Bezieher von Zeitungen, die nicht in der Postzeitungsliste der DDR stehen, dürfen Sie sie auch nicht über den Müll der Bevölkerung zugänglich machen!“ Das gilt West-Zeitungen, sie stehen nicht in der Liste; jeden Morgen bringt sie ein Kurier für Diplomaten und Journalisten. Ich stapele die Zeitungen, bis die „Territorialverwaltung“ sie abholt. Zeitungen des Tages lege ich obenauf. Sie verschwinden unauffällig in den Aktentaschen der Abholer.
Oft fahre ich nach „heute“ (ZDF), „Aktueller Kamera“ (DDR) und „tagesschau“ (ARD) gegen 20.20 Uhr zu Freunden, zur „Quelle Mensch“; unangemeldet: „Solange Licht ist, kannst du kommen.“ Eine Zeitlang überwacht mich die Stasi jeden Tag. Eintrag: „20.30 Uhr: Das Objekt befindet sich in der Wohnung. Auftragsgemäß beenden wir die Überwachung.“ Nächster Eintrag: „6.00 Uhr: Auftragsgemäß übernehmen wir die Überwachung. Das Auto des Objekts steht jetzt an einer anderen Stelle.“
Trotz täglicher Kontrolle bemerken sie nicht den anderen Arbeitsrhythmus, der den Verhältnissen der DDR geschuldet ist. Die meisten Leute haben kein Telefon. Die eins haben, werden nicht selten abgehört. Also trifft man sich. Die Stasi und ich müssen uns stets knapp verfehlt haben. Morgens uns sechs bin ich im Tiefschlaf. Abends haben sie Feierabend. Tagsüber achte ich nicht auf Überwachung, fahre zu Kollegen, zu offiziellen Terminen, ins Pressezentrum oder zur Ständigen Vertretung.
"Schatten" abschütteln
DDR-Korrespondenten haben blaue Kennzeichen, Diplomaten rote – am Tag gut erkennbar. Bei Fahrten zu Freunden nehme ich stille Nebenstraßen; da erkennt man Verfolger besser. Das Auto stelle ich in einiger Entfernung ab. Bei Freunden mit Garage parke ich 500 Meter vorher, gehe hin, melde mich, hole dann den Wagen und fahre in die in der Zwischenzeit geöffnete Garage. Verschwunden ist der Wagen.
Wie bemerkt man Verfolger? Im Rückspiegel tauchen nur schnellere Autos auf! Normale Autofahrer schließen auf und überholen. Verfolger halten Abstand, auch an Ampeln und im Stau. Ist ein Auto hinter mir, versuche ich es abzuhängen. Gelingt das nicht, fahre ich nach Hause oder ins Hotel, schalte Licht und Fernseher ein, gehe zum Nebenausgang. Die Fischerinsel 6 hat drei Nebenausgänge, Hotels meist einen. Mit S-, U-, Straßenbahn oder Bus fahre ich, wohin ich ohnehin will.
Meine liebste Stelle in Berlin ist die Abzweigung Stralauer Allee/Modersohnstraße. Da ist keine Ampel, aber Zeit genug für Linksabbieger. Ich richte das Tempo so ein, dass ich kurz vor dem Gegenverkehr abbiege. Keiner kann folgen.
Einmal bemerke ich Verfolger auf der Ho-Chi-Minh-Allee (heute wieder Weißenseer Weg), habe eine „Quelle Mensch“ im Auto. Bei durchgezogener Doppellinie wende ich, sie wenden mit; ich wende erneut, sie auch, bei der dritten Wende bleiben sie zurück. Stasiakte: „Das Objekt wendete verkehrswidrig auf der vierspurigen Straße. Bei der dritten Wende folgten wir nicht, fürchteten, es könnte uns bemerken.“ Blitzmerker!
Weitere Beispiele:
- In Dresden ist das Hotelzimmer geräumt, ich will abends zu Freunden. Beim Gang durch die Stadt kümmern sich drei Herren um mich. Ich gehe gelangweilt zum Auto, fahre Richtung Berlin – zwei Autos folgen. Nach 30 Kilometern verlassen sie die Autobahn. Nächste Ausfahrt fahre ich zurück.
- Auf dem Weg zu einer kirchlichen Veranstaltung in Dresdens Osten ist stets ein Auto hinter mir. Vor der Rückfahrt fragen zwei Kollegen, ob ich sie mitnehme. Die Verfolger warten schon. Wir fahren los. An einer Ecke sehe ich eine Eisbude: „Wollen wir ein Eis essen?“ 300 Meter danach halte ich, die Verfolger direkt an der Bude. Sie stellen sich an, wir hinter sie. Eis essend gehen wir zum Auto, steigen urplötzlich ein. Meine Mitfahrer rufen: „Jetzt schmeißen sie ihr Eis weg. Jetzt rennen sie zum Auto.“ Schnell sind wir an der nächsten Kurve, sehen sie nicht wieder.
- Bei einer Kirchenveranstaltung in Dresden habe ich mehrere Aufpasser im Schlepptau. Den Kollegen Albrecht Hinze („Süddeutsche Zeitung“) frage ich: „Ist es bei dir auch so schlimm?“ „Nein, heute nicht.“ Er fährt auf den nicht einsehbaren Hof, ich steige ein, mache mich klein. Auf der Straße sagt er: „Kannst hochkommen. Sie warten bei deinem Auto!“ Wir fahren zur Baustelle eines Reinstsilizium-Werks in Dresden-Gittersee. Da das wie üblich „ganz geheim“ ist, ist die Bevölkerung beunruhigt. Wir gehen über die Baustelle und befragen ohne Genehmigung ungestört die Anwohner.
- Ein andermal in Dresden erkenne ich ein Auto nicht als Stasiwagen, gehe in ein Haus, klingele. Niemand öffnet. Ich setze mich auf die Treppe, überlege, was tun? Als ich aus dem Haus komme, geht ein junger Mann vorbei. Er gehört zum „VEB Horch, Guck und Greif“. In einer Wohnung weiter oben brennt Licht, da denken sie, dort sei ich gewesen. Die Familie kommt irrtümlich unter Kontrolle. Als ich das Jahre später den Freunden sage, grinsen sie: „Geschieht ihnen recht! Wir wissen heute: sie waren bei der Stasi!“
- Einmal lädt die DDR zur Rede Erich Honeckers vor Arbeitern der Buna-Werke (Buna: 1926 in Deutschland entwickelter Kautschuk) bei Halle. Danach sehe ich auf dem Parkplatz einen blauen Lada „unter Dampf“: ein Stasiauto mit drei Männern, bereit loszufahren. Ich will mir Merseburg ansehen, dann Freunde besuchen. Der Lada folgt mir. In Merseburg nehme ich die erste Straße links. Pech gehabt: Sackgasse, einmal im Kreis zurück, der Lada auch. Ich gehe durch die Stadt zum über der Saale thronenden Dom, steige zur Saale hinunter, trödle dort. Nach 600 Metern Promenade steige ich wieder hinauf, sehe eine Frau mit langem weißen Schal die Promenade lang rennen. Wer rennt dort schon? Weil ich in eine andere Straße will, gehe ich ein Stück zurück und laufe der Frau in die Arme. Sie wird rot, geht weiter. Wieder am Auto steht sie leicht verdeckt in einem Eingang. Ich fahre los, sie rennt weg. Auf der Straße nach Leipzig bemerke ich erneut den Lada. Schnell ist er hinter mir, in gehörigem Abstand. Vor mir fährt ein Bus. Als der Gegenverkehr abreißt, kann ich überholen. Auch der Lada setzt an, bricht ab, weil 500 Meter vor mir ein Traktor fährt. Der aber biegt nach dreihundert Metern aufs Feld. Viele Autos kommen entgegen, sie können den Bus nicht überholen. Freie Bahn bis Leipzig, fahre dort Richtung Süden, bald wieder zum Zentrum. Auf der Gegenfahrbahn staut sich der Verkehr, mittendrin der Lada. Ich tue so als bemerkte ich sie nicht. Gemütlich fahre ich unbegleitet weiter.
- Nach einer kirchlichen Veranstaltung in Magdeburg fahre ich einen Freund zur Bleibe im Westen der Stadt. Im Auto sitzt ein anderer Freund, der im Osten wohnt, ich nächtige bei ihm. Vor dem Haus im Westen reden wir noch. Zwei Autos fahren an uns vorbei. Kurz vor Mitternacht machen wir uns auf nach Biederitz quer durch Magdeburg. Als ich abbiege, nehmen auch drei Autos meinen Weg. Ich fahre erst mal durch den Ort und dann von der Hauptstraße weg. Der Freund: „Wo willst du hin?“ „Über die Querstraße zurück.“ „Pech! Es gibt keine. Die Straße endet im Feld. Du musst umkehren!“ Meine Wende überrascht sie. Alle müssten wenden, tun es nicht. Ich fahre vorbei und schnell in den Ort. Mein Freund springt nahe seiner Wohnung raus, will nicht in meinem Wagen angetroffen werden. Ich fahre über einen Kiesweg zur Elbe und warte. Nach einer halben Stunde gehe ich zu Fuß zur Wohnung des Freundes. Er beobachtet, was sich vor dem Haus tut. „Nichts“ sagt er. In den Stasiakten lese ich, man habe mich verloren, dann folgen drei Namen von Leuten, bei denen ich logiert haben könnte. Einer ist richtig.
- Bei heiklen Angelegenheiten nehme ich die Bahn. Motto: „Was heißt hier Stasi, es gibt doch Züge!“ Da gibt es keine Autonummern. In der Bahn ist jeder anonym. Züge Richtung Westen und Süden fahren von Berlin-Schöneweide ab. Mit der S-Bahn fahre ich oft weiter bis Betriebsbahnhof Schöneweide, zum „Stasikontrollbahnhof“. Da steigen nur Eisenbahner aus. Ich frage den Stationsvorsteher. „Ist das der Bahnhof Schöneweide?“ „Junge, du bist zu weit gefahren. Da kommt die S-Bahn, eine Station und schon biste da!“ Am Fernbahnhof kaufe ich keine Fahrkarte, melde mich beim Schaffner: „Am Schalter stehen so viele Leute. Ich muss diesen Zug haben.“ „Eine Mark extra!“
Deckname "Franke"
Ich weiß nicht, wer meiner Freunde für das MfS arbeitet. Es gibt sicher welche, sonst wären sie zu schlecht. Ich will mir nicht Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrechen. „Spiegel“-Kollege Ulrich Schwarz fragt mich zu einem gemeinsamen Bekannten: „Bist du sicher, dass er nicht bei der Stasi ist?“ – „Bei wem bist du sicher?“ „Da hast du auch wieder recht!“ – Er war dabei. Manch Anregung eines Spitzels ist gewiss in Artikel eingeflossen. Das heißt nicht, dass sie mich manipuliert haben. Für alles, was ich geschrieben habe, übernehme ich die Verantwortung. Ich prüfe jede Information, so gut ich kann. Bei heißen Nachrichten gehe ich zu Uwe, den ich seit 1959 kenne: „Hörst du mal rum?“ Er fragt am nächsten Tag den Parteisekretär im Betrieb, meinen ahnungslosen Mitarbeiter. Er bestätigt mit „Sag es keinem weiter, geheim!“ oder nennt es „Unsinn!“
Ein IM gibt zu Protokoll: „Wenn F. auf ein Thema programmiert ist, dann ist er es total, andere Themen sind für ihn dann kaum interessant.“ „F.“ bin ich, Stasi-Deckname „Franke“. Ich gab ihn mir unwissend. Einmal sage ich, ich melde mich telefonisch bei dir mit dem Mädchennamen meiner Mutter. Irgendwie passt das zu „Frankfurter Rundschau“. So blieb mir ein Tiername erspart, die Kollegen heißen: Panter, Dachs, Flunder, Wurm oder Eber. Der IM Er will mir andere Themen unterschieben – offenbar erfolglos. „Entfernt von ‚akademischer Pedanterie‘ und ‚politischer Aggressivität‘ ist F. gerade deshalb sehr gefährlich. Mit ‚Bauernschläue‘ vermag F. aus politisch sorglosen DDR-Bürgern all das herauszuholen, was für ihn interessant ist“.
Mehrere Kollegen schwärmen von einem Pfarrer. „Den kennst du nicht? Musst du aber! Er analysiert hervorragend.“ Im Januar 1988 fahre ich in seine Kirche. Oppositionelle wollen gegen Verhaftungen am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration protestieren. Da fordert ein Sprecher der Opposition Ausreisewillige auf, die Kirche zu verlassen. Man brauche sie für diesen Protest nicht. Die Angesprochenen gehen schweigend. Der Pfarrer: „Die Ratten verlassen das Schiff!“ Für mich der Grund, auf diesen Kontakt zu verzichten. 1991 wurde er als IM enttarnt.
Ein Freund, kein IM, fragt mich: „Was machst du, wenn ein Stasimann dich mit einer Fotomontage erpressen will? Du mit einer DDR-Frau im Bett.“ Antwort: „Ganz einfach. Ich bitte ihn, mir das Bild zu geben und versichere ihm: Das erscheint in der ‚Frankfurter Rundschau‘. Unterzeile: Unser DDR-Korrespondent bei seiner schwierigen Arbeit.“
Ein echter Anwerbeversuch verlief so. „Was machst du, wenn dich einer vom BND anwerben will?“ „Der kriegt genauso einen Tritt in den Hintern wie einer von der Stasi.“ Da hat die Stasi es wohl gelassen. Jeder Maßnahmeplan zu mir beginnt mit: „Zielstellung: Anwerbung oder Ausweisung.“ Weder das eine noch das andere ist ihnen gelungen.
Blanko-Haftbefehl
Die Arbeit der Staatssicherheit bewerte ich nach Kenntnis der Akten mit „Drei Minus“ bis „Vier plus“. In 22 Ordnern mit gut 300 Seiten nur in Berlin ist vieles stümperhaft. Beeindruckt haben mich nur der ausgestellte Haftbefehl, ohne Delikt, ohne Datum, ohne Unterschrift und ein Blatt auf Russisch: für den KGB mit meinen Daten.
Angeblich hatte ich 118 Kontaktpersonen. Tatsächlich waren es zwischen 400 und 450. 25 der 118 kenne ich nicht; nur jede fünfte Person war ihnen bekannt! In einer zweiten Liste listete das MfS meine angeblich neun wichtigsten Bekannten auf. Davon kenne ich sechs. Sie zähle ich nicht zu den wichtigen Bekannten. Keiner der drei anderen kennt mich.
Als sie mich ständig überwachen, merken sie nicht, dass ich jeden Abend unterwegs bin. Keine Meisterleistung! Ein Freund frühstückt fast jeden Morgen mit mir. Er arbeitet ein paar hundert Meter weiter. Er ruft an, ich nehme ab. Er legt auf, holt Schrippen. Ich koche Tee, Eine halbe Stunde reden wir, was in der DDR los ist. Das fällt in 13 Jahren nicht auf!
Nicht mal die Beziehung zur Freundin bekommen sie mit. Dabei treffen wir uns einmal die Woche. Sie kommt am Wochenende nach Berlin oder ich fahre mit der Bahn nach Halle. Sie taucht erst in der Akte auf, als wir verheiratet sind. Dafür braucht man keinen Geheimdienst.
Aus den Akten weiß ich: Sie erpressen eine Bekannte. Ihr Freund ist verhaftet. Sie könne ihm helfen, wenn sie mit mir intime Beziehungen aufnehme. Die Frau verpflichtet sich, trifft mich aber nicht. Sie jubeln zu früh. Als sie merken, dass sie nicht zu mir gefahren ist, lassen sie sie wie eine heiße Kartoffel fallen. Bei ihrer Ausrede, warum sie nicht gefahren ist, merken sie, dass sie lügt. Sie ist also unglaubwürdig. Manchmal war es gar nicht schwer, ihren Fängen zu entkommen.
Einen Freund wollen sie anwerben; er weigert sich. Frage: „Haben Sie was gegen die DDR?“ „Nein!“ „Haben Sie was gegen das Gesundheitswesen?“ „Nein!“ „Da können sie für uns arbeiten, wir sind eine andere Art des Gesundheitswesens.“ Glaubten Sie das selbst?
Zu mir kommen Menschen und fragen, was sie machen sollen – die Stasi will sie anwerben. Ich schicke sie alle zum selben Pfarrer. Sie sagen nur „ich komme von Karl-Heinz“ und er weiß Bescheid. Der Stasi berichten sie: „Ich habe mich gegenüber einem Pfarrer offenbart.“ Damit war die Konspiration gebrochen. Das Beichtgeheimnis duldete die DDR.
Kein Abenteuerspiel
Gewiss – manches liest sich wie ein lustiges Indianerspiel. Es war leider keins. Jeder Fehler konnte Menschen der Staatssicherheit ausliefern, jeder Fehler konnte Leben kosten. Wenn die Stasi etwa mitbekam, dass sich jemand uns Korrespondenten oder den Mitarbeitern der Ständigen Vertretung offenbarte, wurde der Betroffene wegen Spionage verurteilt - zu mehreren Jahren Haft.
Auch ohne Fehler verlor ein Mensch sein Leben, weil ich in die DDR kam. Zwei gerieten in Haft und wurden verurteilt.
In den Akten lese ich: der Selbstmord des Ehemanns einer Verwandten 1981 hängt mit mir zusammen. Er war IM, aber „Schläfer“, lieferte nicht, was sie erwarteten. Als ich in die DDR komme, wecken sie ihn. Er verrät zwar Freund Uwe, doch alle Stasimühen schlagen fehl, das zu belegen. Nach zwei vergeblichen Anwerbeversuchen wollen sie Uwes enge Mitarbeiterin anwerben. Sie tut, als sei sie bereit. Als sie unterschreiben soll, sagt sie: „Eine Bitte habe ich. Mein Mann hat mich verlassen. Den bringen sie mir doch dafür zurück!“ Wütend verlassen sie das Haus und notieren: „Diese Frau erpresst uns!“
Nun machen sie Druck auf den IM. Er soll beweisen, dass ich Uwe kenne. Eine Woche später nimmt er sich das Leben. Laut Akte liegt der Selbstmord an familiären Problemen. Die Frage, woher ich Uwe kenne, lösen sie „elegant“. Der IM und ich hätten gemeinsame Sache gemacht und wahllos aus dem Telefonbuch einen Namen ausgesucht, um sie auf die falsche Fährte zu locken. Erst sechs Jahre später merken sie: Der Kontakt besteht.
Ernst Friedbert lerne ich 1978 beim Fußballspiel Dynamo Dresden gegen Hertha BSC kennen. Ich vergesse nie den Stadionsprecher nach dem ersten Tor: „1:0 für Hertha BSC Berlin-West.“ Beim Ausgleich heißt es: „1:1. Tor für Dynamo Dresden“ „… Ost!“ brüllen die Zuschauer. Ernst Friedbert besucht mich häufig, einmal mit seiner Freundin. Eines Tages verabschiedet er sich: „Ich muss zur Fahne, komme wieder, sobald die Armee mich entlässt.“ Die Zeit ist um, doch er kommt nicht. Als ich drei Jahre später auf einer Tagung bei Bonn reden soll, wartet er schon auf dem Parkplatz. Was ist geschehen?
Der NVA-Soldat wirft in der Stadt seines Standorts einen Brief an einen Freund in Weißenfels(Saale) ein. Darin skizziert er einen Fluchtplan. Die Stasi liest den Brief, verhaftet ihn; er wird wegen Vorbereitung zur Republikflucht verurteilt. „Ein halbes Jahr extra wegen des Kontakts zu dir. 2½ insgesamt.“ „Konntest du mich nicht informieren?“ „Habe ich versucht. Bei Elkes Besuch sagte ich ihr: "Du weißt, zu wem du gehen musst!‘“ Über den Prozess darf er kein Wort sagen. Sie nimmt an, er sitze wegen des Kontakts zu mir und sagt. „Das kannst du nicht von mir verlangen!“ So konnte ich ihm nicht helfen.
Eckart sucht mich als erster DDR-Mensch auf. Wir freunden uns schnell an. Er hat Theologie studiert, ist Altenpfleger bei der „Volkssolidarität“, dem 1945 gegründeten Sozialverband. Fast jeden Tag kommt er vorbei, ein halbes Jahr lang, nimmt gelegentlich Gedrucktes aus dem Westen mit in seine Wohnung. Anfang Mai 1978 mache ich Urlaub. Danach kommt er nicht mehr. Nach Tagen finde ich heraus, er ist verhaftet.
Ich informiere den Leiter der Ständigen Vertretung Günter Gaus und biete an: „Falls er wegen mir in Haft ist, gehe ich.“ Das sei nicht nötig, aber ich sollte die Chefredaktion informieren. Er werde sich darum kümmern. Mitte August sagt Gaus, Eckart habe zwei Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze bekommen. Den Freikauf werde er bis Februar schaffen. „Herr Gaus, das ist ein Pfarrerssohn, da wäre vor Weihnachten wichtig.“ „Das Argument habe ich noch nie gebraucht! Aber es ist richtig gut!“ Eckart wird am 7. Dezember entlassen. Verurteilt hat man ihn am 29. Oktober. Seitdem weiß ich, wie die DDR-Justiz „funktioniert“ und wie ich Gefangene und Ausreisewillige schneller in den Westen bekomme: mit Hilfe der Ständigen Vertretung.
Antje kommt ziemlich aufgelöst zu mir. Sie hat einen Ausreiseantrag. Die Stasi sei dagewesen. Sie könne sofort in den Westen, wenn sie für sie arbeite. „Soll ich das machen?“ – „Bloß nicht! Es geht ohne die Stasi!“ Es ging, dauerte aber etwas länger.
Eckhart und Jürgen
Schon die Weitergabe westlicher Zeitungen war strafbar - als "staatsfeindliche Hetze". Ein Informant des Zeitungs-Korrespondenten Karl-Heinz Bum namens Eckart kam deshalb 1978 für zwei Jahre in Haft. Entlassen wurde er nach einigen Monaten in den Westen. Die Voraussetzung dazu war eine Bedingung der Stasi: er sollte Jürgen belasten, einen weiteren Freund. Dem drohte daraufhin ebenfalls die Verhaftung und ein Prozess wegen Landesverrats. Karl-Heinz Baum beschreibt in einer Reportage, wie es durch Engagement und Einfallsreichtum gelang, in diesem Fall die Inhaftierung zu verhindern.
Dichter Nebel in Berlin. Am 9. Dezember 1978 gegen neun Uhr abends gehe ich durch den Stadtteil Niederschöneweide, ein heikler Gang für einen DDR-Korrespondenten. Bis zur Wohnung von Jürgen sind es noch gut 500 Meter. Da durchreißt eine Stimme den Nebel. „Ja, wir haben hier alles fest im Griff.“
Das Herz fällt in die Hose, die Knie werden weich. Ein paar Schritte weiter sehe ich sie vor mir sitzen – drei Männer in einem hellen viertürigen Lada, trotz Nässe und Kälte sind die Vorderfenster offen. Das ist eindeutig: Stasi. Wenn sie auf dich warten, hast du keine Chance. Aber das muss ja nicht sein. Vielleicht sichern sie nur Jürgens Umfeld, weil sie noch heute Nacht zugreifen wollen. Fieberhaft überlege ich, was tun? Umdrehen und in die andere Richtung gehen? Nein, das fällt auf, da bist du zu nahe dran. Am besten an ihnen ganz harmlos vorbeigehen.
Aber dann? Das übliche Prozedere, wenn du sie entdeckt hast? So tun als ob man einen Spaziergang macht, irgendwann in den nächsten Bus, die Straßenbahn, die U-Bahn oder die S-Bahn steigen und nach Hause fahren? Nein, geht nicht. Seit vier Uhr in der Früh weiß ich, dass Jürgen hochgefährdet ist. Wenn ich ihm nur drei Sätze sagen kann, bevor sie kommen, hat er einen Vorteil. Du musst also hin!
In der Jackentasche trage ich drei handgeschriebene Blatt Din A 4. Die hat Eckart nachts in einer Studentenbude im westfälischen Münster geschrieben. Eckart kommt aus DDR-Haft. Am Abend feierten wir seine Freilassung – Freunde im Westen, einige offiziell Ausgereiste aus der DDR und ich. Bis Eckart so gegen halb zwei mich fragt: „Jürgen sitzt doch auch?“ Elektrisiert sehe ich ihn an. „Wie kommst du darauf? Als ich am Mittag den Anruf bekam, du bist in Gießen, saß er bei mir auf dem Sofa.“ Bei mir – das war das DDR-Büro der Frankfurter Rundschau im Hochhaus auf der Fischerinsel 6 Ost-Berlin. Angerufen hatte Jutta Wagner, Chefsekretärin beim Leiter der Ständigen westdeutschen DDR-Vertretung Günter Gaus, der sich sehr um Eckarts Freilassung bemüht hatte. In Gießen war das Notaufnahmelager für DDR-Häftlinge, Flüchtlinge, Übersiedler. Nach dem Anruf verließ ich blitzartig das Büro, sprang ins Auto, rief von West-Berlin Eckarts Westfreunde an und fragte, ob er sich schon gemeldet habe. Gegen acht wolle er in Münster eintreffen. Ich war gegen halb neun dort.
Eckart wird kreidebleich, als er hört, Jürgen laufe so frei rum wie er jetzt. Er erzählt, was geschah, als er im Übergangsgefängnis in Chemnitz (damals Karl Marx-Stadt) war und in jenen Bus steigen wollte, der wieder mal freigekaufte politische Häftlinge nach Gießen bringen sollte. Kurz vor der ersten Stufe legte sich eine Hand von hinten auf die Schulter. „Sie kommen noch mal mit!“ herrschte man ihn an. In einem kleinen Raum lagen auf einem Tisch zwei getippte Blätter. „Sie brauchen nur zu unterschreiben, dann können Sie in den Bus!“
Vor ihm lag die von der Stasi gefertigte „Ermittlungsanzeige“ gegen Jürgen. „Hast du unterschrieben“, frage ich aufgeregt und ahne das „Ja“. Er begründet es: „Ich habe gedacht, Jürgen sitzt wie ich. Vor sieben Monaten wurde ich verhaftet. Ende Oktober wurde ich zu zwei Jahren verurteilt. Da muss jemand dran gedreht haben, wahrscheinlich Du. Dann musst Du bei Jürgen noch mehr drehen. Dann hab ich unterschrieben. Ich habe genau gelesen, was ich unterschrieben habe.“ Ich schicke Eckart ins Nebenzimmer: „Du schreibst alles auf!“
So gegen drei lese ich es, merke, dass die Luft brennt. Das soll wohl ein Landesverratsprozess werden. Eile ist geboten. Ich rufe eine Freundin im Westen Berlins an: „Du musst sofort aufstehen und nach Ost-Berlin fahren!“ „Du weißt aber, dass ich als Westdeutsche erst um sieben über die Grenze darf? „Oh, daran habe ich nicht gedacht. Entschuldigung, schlaf weiter.“ Sie sollte Jürgen warnen, bevor die Stasi klingelt. Ich rufe Jürgen direkt an. Wir beide gehen davon aus, dass sein Telefon angehört wird, Also reden wir „verschlüsselt“. Ich hatte ihm mal gesagt, sollte ich bemerken, er sei gefährdet, riefe ich an und rede von meiner Schwester Margret.“ Noch im Tiefschlaf begreift er nicht, was das mit Margret soll. Ich gebe auf. In der Studentenbude legen sich zehn Leute zum Schlafen. Gegen elf wachen wir auf. Ich greife zum Telefon. Jürgen nimmt ab. Ich lege sofort auf. Ich weiß jetzt: Die Stasi war noch nicht da. Also auf nach Berlin im Flugzeug, um nicht mitten in der Nacht anzukommen.
Am Grenzübergang für Westdeutsche Bornholmer Straße sagt der Grenzsoldat: „Na Herr Baum, Sie ohne Auto? Das kenne ich ja gar nicht.“ Schnell antworte ich: „Auch Westautos gehen mal kaputt.“ Das freut ihn sichtlich: „Da haben Sie recht!“
Als ich Im dichten Nebel die drei Stasileute passiere, denke ich an Eckart und Jürgen, Eckart war verhaftet worden, weil er Zeitungen und Bücher aus meinem Büro mitnahm, natürlich mit meinem Wissen, aber immer mit dem Hinweis: „Sei vorsichtig, gib sie nicht jedem!“ Urteil: zwei Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze. Eckart und Jürgen waren zuverlässige Informanten.
Im Nebel hört man jeden Schritt. Ich gehe erst mal einen großen Bogen, höre genau hin, aber es folgt mir offenkundig keiner. Mich hatten sie wohl doch nicht „im Griff“. Von hinten gehe ich an Jürgens Parterrewohnung, klopfe ans Fenster. Jürgen öffnet die Hoftür. Ich stürme in die Wohnung, er folgt. Ich schlage die Wohnungstür zu, stelle mich breitbeinig davor und sage: „Lies das, gleich kommen sie!“ Ich denke: Von dieser Tür gehe ich erst weg, wenn er alles gelesen hat. Seine Frau kommt dazu, schaut ihm über die Schulter und schreit: „Karl-Heinz, was hast du mit ihm gemacht?“ Ich muss sie beruhigen, sage „Gleich, lass ihn erst lesen!“ und ziehe sie in die Küche. Jürgen kommt bald nach. „Da stimmt ja die Hälfte nicht!“ Ich: „Da sind wir ja schon einen Schritt weiter.“ Dann erkläre ich, dass Eckart das unterschreiben musste, bevor er aus der Haft in den Westen entlassen wurde.
Jürgen und ich setzen uns hin und erklären in angeblichen Aktennotizen die Beschuldigungen ganz harmlos und heften sie in seinem Personalordner ab. Zufrieden gehe ich morgens um drei zum Nachtbus, ich will ja nicht da sein, falls die Stasi am nächsten Morgen kommt.
Bis Weihnachten passiert nichts. Ich fahre über Weihnachten nach Mainz, denn in meiner Wohnung habe ich Eckart untergebracht. Die Silvesternacht 1978/79 ist saukalt, aber das hält mich und meine Freunde nicht von einer Nachtwanderung ab. Die aber bringt mir eine schlimme Grippe ein. Erst am 20. Januar geht es mir einigermaßen besser. Du musst unbedingt Jürgen anrufen. Ich erkundige mich, wie es ihm geht. Er fragt, wie es meiner Schwester geht. Ich bin hochelektrisiert, rede herum und kündige an, bald wieder anzurufen.
Laut Stasiprotokoll war das Gespräch um 16.32 Uhr beendet. Schon zehn Minuten später sitze ich im Auto und fahre bis Helmstedt im Tiefflug, dann mit den vorgeschriebenen 100 km/h auf DDR-Autobahnen zu Jürgen. Er erzählt, dass ihn die Staatssicherheit am 18. Januar morgens um acht „zur Klärung eines Sachverhalts“ abgeholt hat. Sie werfen ihm genau das vor, was Eckart hatte unterschreiben müssen. Jürgen bestreitet konsequent. Da geht es wieder von vorn los. Am frühen Nachmittag sagt er dann: „Ich könnte Ihnen sogar beweisen, dass Sie Unrecht haben!“ – „Wie wollen Sie das beweisen?“ – „Na, ich habe mir über solche Sachen immer Aktennotizen angefertigt. Da steht alles drin!“ – „Und die würden Sie uns vorlegen?“ – „Bei solchen Anschuldigungen muss ich das ja wohl!“ Die Vernehmer fordern ihn auf, eine kurze Notiz an seine Frau zu schreiben, damit sie der Stasi den Ordner übergibt, was er tat. Sie holten den Ordner, lasen ihn durch und ließen Jürgen nach weiteren Diskussionen frei. Um neun Uhr abends war er samt Ordner wieder zu Hause. Der Sachverhalt war geklärt.
Schlecht haben wir da jedenfalls nicht gearbeitet.
Anmerkung am Rande: Jürgens Telefon wurde abgehört. Das Telefongespräch vom Nachmittag des 20. Januar ist zusammengefasst erhalten. Aus den Stasi-Unterlagen ergibt sich auch: Jürgen wurde von 6.00 bis 24.00 Uhr abgehört. An jenem 9. Dezember um drei Uhr früh hätten wir frei und offen sprechen können.
Aus Aufzeichnungen Karl-Heinz Baums 2016.
Vor nichts fürchtete sich die DDR mehr, als vor schlechten Schlagzeilen, besonders im Westen. Journalisten standen deshalb unter sorgfältiger Kontrolle. Zu ihnen zählte auch Karl-Heinz Baum. Er war von 1977-1990 DDR-Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Ost-Berlin und hat seitdem mehrere Bücher über die DDR verfasst und herausgegeben, zuletzt gemeinsam mit Thomas Schiller: "Mit Kerzen haben sie nicht gerechnet". Das Ende der DDR von der Friedlichen Revolution zur deutschen Einheit, Leipzig 2015. Der nachfolgende Text ist eine Vorabveröffentlichung aus dem Buch: Karl-Heinz Baum, Jürgen Klammer (Hg.): "Kein Indianerspiel" - Die Stasi und Journalisten im Osten. Erscheinungstermin ist Januar 2017 im Verlag Christoph Links.
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