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Der verhasste Freiraum Kirche | Stasi | bpb.de

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Der verhasste Freiraum Kirche

Dr. Johannes Beleites

/ 12 Minuten zu lesen

Ohne das schützende Dach, das Kirchen in der DDR Oppositionellen gaben, wäre die Friedliche Revolution im Herbst 1989 kaum möglich gewesen. Für die DDR-Geheimpolizei war der Kirchenraum ein sensibles Terrain, in das die Stasi vor allem mit Perspektivagenten eindringen wollte. Aber dem MfS gelang es trotz hohem Aufwand nur, Freiräume einzuengen. Verhindern konnte es das christliche Engagement nicht – mit Folgen.

Heimliche Aufnahmen des MfS von Veranstaltungen in Kirchengemeinden der DDR (© BStU)

Vermutlich gab es in der DDR keinen kirchenferneren Ort als die Stasi. Sämtliche Mitarbeiter waren SED-Genossen, keiner durfte Mitglied der Kirche – oder wie es offiziell hieß: religiös gebunden – sein. Stellte die Kaderabteilung bei der regelmäßigen Überprüfung der MfS-Mitarbeiter fest, dass Ehepartner, Kinder, Eltern oder Schwiegereltern Kontakte zur Kirche pflegten, bekam der Mitarbeiter den klaren Auftrag, diesen Zustand zu ändern. Diese verordnete Kirchenferne war nicht förderlich, die Vorgänge innerhalb der Kirche zu verstehen. Und natürlich wollten die Stasi und die SED als ihr Auftraggeber möglichst genau wissen, was in der Kirche vor sich ging. Insbesondere dann, wenn sich die Kirchen nicht auf rein gottesdienstliche und seelsorgerliche Aufgaben beschränkte. Mehr noch, man wollte auch Einfluss innerhalb der Kirchen ausüben. Zuständig dafür war seit 1964 die Linie XX, also die Hauptabteilung XX auf Ministeriumsebene und die nachgeordneten Abteilungen XX in den Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit. Zuvor war die Abteilung V damit betraut, bis 1952 die Abteilung VI.

Allerdings war die Überwachung der Kirchen nicht allein Aufgabe des MfS. Auch die Volkspolizei sah hier eine eigene Zuständigkeit. Arbeit gab es aus Sicht des MfS allerdings mehr als genug. Schließlich pflegten alle Kirchen, die evangelischen Landeskirchen, zahlreiche freikirchliche Gemeinschaften und die katholischen Bistümer, vielfältige Kontakte in die Bundesrepublik. Bis zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahre 1969 gehörten die evangelischen Landeskirchen in der DDR gemeinsam mit denen in der Bundesrepublik zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die katholischen Bistümer sahen sich gar bis zum Ende der DDR in gesamtdeutscher Einbindung, weitaus stärker als in einer Bindung an die DDR.

Vorbild für Demokratiekultur

Nicht zuletzt waren zumindest die evangelischen Landeskirchen der letzte Hort demokratischer Kultur in der DDR. Von den Gemeindekirchenräten bis zur Bundessynode wurde frei und geheim gewählt, es gab offene Debatten über Meinungsunterschiede und wesentlichen Fragen wurden demokratisch diskutiert. In einem Staat, dessen Herrschaftspartei Agitation und Propaganda über alles schätzte, mussten die Kirchen schon allein wegen ihres biblisch begründeten Missionsauftrages und ihrer realen Möglichkeit, jeden Sonntag eine Vielzahl von Menschen direkt und unzensiert zu erreichen, zu einem Störfaktor werden.

Fast von Anfang an gab es Konflikte zwischen dem SED-Staat und den Kirchen. Es begann bei der Frage des Religionsunterrichtes in den Schulen, ging über die von der SED propagierte Jugendweihe als Gegenstück zu Firmung und Konfirmation bis zum Konflikt zwischen der Freien Deutschen Jugend (FDJ), die sich selbst als „Kampfreserve der Partei“ verstand, und den Jungen Gemeinden der evangelischen Kirchen. Mit dem staatlichen Schulmonopol saß der SED-Staat gerade bei den die Jugend betreffenden Angelegenheiten immer am längeren Hebel: Wer Gott und die Kirche für sich als bedeutungsvoller erachtete als den Staat DDR, wurde Anfang der fünfziger Jahre meist nicht zum Abitur und erst recht nicht zum Studium zugelassen. Zahlreiche christliche Jugendliche wurden auf diese Weise zur Flucht in die Bundesrepublik getrieben. Dabei galt formal auch in der DDR Religionsfreiheit. Einen offenen Kirchenkampf scheute die SED und daher nahm man den Umweg über die Etikettierung kirchlicher Gruppierungen und Treffpunkte als Agenturen des imperialistischen Klassenfeinds. Die Jungen Gemeinden seien, so die SED-Propaganda in allen Zeitungen in der DDR in den Jahren 1952 und 1953, vom Westen gesteuert, ihre Mitglieder seien aktive Feinde der DDR.

MfS organisierte Strafverfolgung

Etwas später waren zahlreiche Studentengemeinden und Studentenpfarrer diesem Druck ausgesetzt. Und für die Verfolgung von Feinden war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zuständig. Etliche Studentenpfarrer, so beispielsweise Johannes Hamel aus Halle und Siegfried Schmutzler aus Leipzig, wurden unter dem Vorwurf von feindlicher Diversion, Aufwiegelung und Spionage festgenommen und teilweise auch zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die entsprechenden Ermittlungsverfahren führte die Linie IX des MfS, die Strafprozesse wurden von vom MfS handverlesenen Richtern geführt.

Einer besonders starken Verfolgung waren aber auch christliche Sekten ausgesetzt, so beispielsweise die Zeugen Jehovas. Ihre Mitglieder waren in extremer Weise politisch neutral, sie gingen nicht zur Wahl und verweigerten grundsätzlich den Wehrdienst. Schon dadurch wurden seit Einführung der Wehrpflicht 1962 bis 1986 zahlreiche Zeugen Jehovas verhaftet und verurteilt. Aber es gab in den fünfziger und sechziger Jahren auch gezielte Aktionen der Stasi gegen Zeugen Jehovas, bei denen leitende Mitglieder verhaftet, ihre Versammlungsräume durchsucht und ihre Häuser auch enteignet wurden.

Ziel gesamtdeutsche Ausrichtung zu verhindern

Informationsbeschaffung und repressive Einzelmaßnahmen kennzeichneten die SED- und Stasi-Kirchenpolitik in den fünfziger Jahren. Eine langfristig angelegte Strategie kam erst Anfang der sechziger Jahre zustande. Nach dem Mauerbau 1961 ging es vor allem darum, die gesamtdeutsche Ausrichtung der Kirchen zu torpedieren. Natürlich waren gerade nach der in Beton gegossenen deutschen Teilung die Chancen dafür günstig. Auch in den Kirchen gab es dazu unterschiedliche Meinungen, nicht alle Pfarrer und Funktionsträger hielten an der gesamtdeutschen Ausrichtung der Kirchen fest. Die Pragmatiker sahen durchaus, dass die faktische Gemeinschaft mit den westdeutschen Landeskirchen nicht mehr herstellbar war und dieser Zustand lange anhalten würde. Unter Berufung auf den Theologen Dietrich Bonhoeffer sahen sie ihre Aufgabe darin, eine Position innerhalb und zur DDR zu finden.

Sensible IM-Werbung, oft nur per Handschlag

Und einige kirchliche Mitarbeiter hatten auch weniger theologische Gründe für ihre Anpassung an die politische Linie der SED. Bequemlichkeit, die Hoffnung auf politischen Einfluss oder wenigstens auf eine gewisse Nähe zu den Machthabern, die Genehmigung der beabsichtigten Westreise oder den Studienplatz für die Kinder waren allzu menschliche Züge bei dem einen oder anderen Pfarrer. Der Stasi war das nicht unbekannt und so versuchte man unterdessen – nicht ohne Erfolg –, einzelne Pfarrer, aber auch Bischöfe, Redakteure der Kirchenpresse, engagierte Gemeindemitglieder und Mitglieder der Synoden zur Mitarbeit zu verpflichten. Dass es dafür besonderen Fingerspitzengefühls bedurfte, war auch den MfS-Oberen bewusst. Anders als bei regulären Anwerbungen verzichtete man hier häufig auf eine schriftliche Verpflichtungserklärung, man begnügte sich mit einem Handschlag. Bei diesen IM ging es nicht allein um Informationsbeschaffung, sondern oft auch um langfristigen Einfluss auf kirchliche Entscheidungen.

Ausschnitt aus einem IM-Einsatzplan für die Synode der Evangelischen Kirchen im Augustinerkloster Erfurt vom 19.9. bis 23.9.1986

Dass der Einsatz in der Kirche für die Stasi schon fast einer Operation im Feindesland glich, wurde auch bei den Methoden in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR deutlich. Einige der IM in wichtigen Positionen der Kirchen waren – ähnlich wie zahlreiche IM der Stasi in der Bundesrepublik – ausgesprochen langfristig angeworben worden. Den Büroleiter des Konsistorialpräsidenten – des Verwaltungschefs – der Kirchenprovinz Sachsen hatte man beispielsweise im Zuge einer Verhaftung wegen einer gescheiterten Flucht aus der DDR angeworben. Erst Jahre später wurde er im evangelischen Konsistorium in Magdeburg tätig. Ein leitender Jurist derselben Landeskirche, Detlef Hammer, wurde gar schon während seines Studiums zur Stasi-Tätigkeit verpflichtet und später als sogenannter Offizier im besonderen Einsatz innerhalb der Landeskirche aktiv.

Dass die Aktivitäten der Stasi auch einer gewissen Dialektik unterworfen waren, war man sich dort offenbar nur selten bewusst. War es in den fünfziger Jahren möglicherweise noch ein erwünschter Nebeneffekt, dass christliche Jungendliche, denen man Abitur und Studium verwehrte, die DDR verließen, so konnte es in den siebziger Jahren nicht mehr gewollt sein, mit der Bildungsbeschränkung bei Kindern von Pfarrern oder christlichen Familien Widerstand zu schüren.

Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz

Die in diesem Sinne größte Panne für den SED-Staat stellte die öffentliche Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 in Zeitz dar. Auch westliche Medien griffen den Fall auf - ein Supergau für die Stasi. Brüsewitz hatte immer wieder gegen die Bildungsdiskriminierung christlicher Kinder in der DDR protestiert und mit zahlreichen phantasievollen und öffentlich wahrnehmbaren Aktionen auf sein Anliegen aufmerksam gemacht. SED und Stasi betrachteten ihn folgerichtig als Feind; für die pragmatischen Kirchenfunktionäre war er zumindest ein ausgesprochen unbequemer Mahner. So fühlte er sich kurz vor seinem letzten Schritt nicht nur gesundheitlich in schlechter Verfassung, sondern auch von seiner Kirche allein gelassen. Brüsewitz‘ Fanal von Zeitz war Ergebnis massiver Zersetzungsmaßnahmen der Stasi, mit Sicherheit aber nicht das ursprünglich erwünschte.

Ausstellung im Schlossmuseum Zeitz über Pfarrer Brüsewitz. Vor der dortigen Kirche hat sich am 18. August 1976 Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannt - aus Protest gegen die engstirnige Politik der SED. Vier Tage später, am 22. August 1976, erlag er in einem Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. (© dpa)

Aber auch an anderer Stelle ging die Rechnung der SED-Führung im Umgang mit den Kirchen nicht auf. Anfang der achtziger Jahre hatten sich innerhalb der Kirche, aber auch jenseits davon eigenständige Gruppen gebildet, die sich mit Frieden, Umweltschutz und Menschenrechten beschäftigten. Eines der größten Probleme war jedoch die mangelnde Öffentlichkeit. Oft wussten die einzelnen Gruppen in verschiedenen Orten gar nicht oder nur wenig voneinander, Handies gab es noch nicht und auch nur wenige Telefone, der Austausch war begrenzt. Im anlässlich des 500. Geburtstages Martin Luthers stattfindenden Lutherjahr 1983 sollte aus Sicht des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR eigentlich ein großer, zentraler Kirchentag stattfinden. Ein solches verbindendes Ereignis jedoch wurde von Partei und Regierung der DDR nicht genehmigt; es durften lediglich sechs regionale Kirchentage stattfinden. Da diese jedoch nicht gleichzeitig, sondern nacheinander terminiert wurden, entstand ein sich wiederholendes Forum für offene Diskussion religiöser und politischer Themen, aber auch für die Präsentation der oppositionellen Gruppen. Viele Kontakte, die für das Gelingen der friedlichen Revolution von 1989 entscheidend waren, sind damals entstanden oder gefestigt worden.

Ab 1978 geregelteres Verhältnis

Das Verhältnis zwischen den evangelischen Kirchen und dem SED-Staat hatte sich Ende der siebziger Jahre ein wenig normalisiert. Am 6. März 1978 empfing SED-Chef Erich Honecker eine Delegation des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR. Es war gewissermaßen ein symbolisches Treffen der gegenseitigen Anerkennung; zwischen den evangelischen Landeskirchen und der DDR gab es nun ein geregeltes Verhältnis. Beide Seiten vermieden die offene Konfrontation. Während einerseits die offene Bildungsdiskriminierung christlicher Kinder und Jungendlicher nachließ, versuchte andererseits insbesondere das MfS mit Hilfe Inoffizieller Mitarbeiter immer tiefer in die kirchlichen Strukturen vorzudringen und besonders auch die oppositionellen Gruppen zu zersetzen.

Interner Link: PDF Leipzig im März 1979. Das MfS schafft drei neue Planstellen zur "Politisch-operativen Durchdringung der evangelischen Kirche".

Herausragend war hier der Rostocker Rechtsanwalt Externer Link: Wolfgang Schnur. Nicht allein, dass er als Strafverteidiger zahlreicher politischer Gefangener auftrat, dass er Wehrdienstverweigerer vor Gericht vertrat. Er war außerdem noch Mitglied der Mecklenburgischen Landessynode sowie der Synode des DDR-Kirchenbundes und zudem in vielen kirchlichen Gremien aktiv. Gleichzeitig war Schnur jedoch seit 1965 ein ausgesprochen aktiver Stasi-Mitarbeiter. Schnur ging mit der Bibel im Aktenkoffer zu den von ihnen vertretenen Häftlingen, betete mit ihnen – und verriet sie anschließend an die Stasi.

Erfolge trotz Stasi-Durchdringung

Aber Wolfgang Schnur war nicht allein, zahlreiche politisch aktive Gemeinden und Gruppen waren Interner Link: mit Stasi-IM durchsetzt. Dennoch, und das ist auch in der Wirkung auf die Friedliche Revolution sowie die Zeit danach nicht hoch genug zu schätzen, boten die Kirchen in der DDR immer auch einen Raum der Freiheit, ein Feld für freie Diskussionen, für Kunst und Kultur sowie für Demokratie. Einer der Wegbereiter war der Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann, dessen Bluesmessen Anfang der 80er Jahre bis zu 7.000 Menschen auf abgegrenztes Kirchenterrain führten - unter weitestmöglicher Auslegung dessen, was ein Gottesdienst sei. Außerdem ermöglichten Kirchengemeinden den Druck selbst vervielfältigte Kirchenblätter ("nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch") über Umwelt- und Friedensfragen, boten Bühnen für verbotene Musiker und schafften experimentelle Freiräume für junge, kritische Menschen, wie die Junge Gemeinde in Jena oder die "Kirche von Unten" in Berlin. Vergeblich versuchte die Stasi, solches Engagement zu verhindern. So scheiterte das MfS am 24. November 1987 mit einer nächtlichen Interner Link: Razzia in der alternativen Umweltbibliothek im Keller der evangelischen Zionsgemeinde am Prenzlauer Berg. Der Fall sorgte über die Grenzen der DDR hinaus für Schlagzeilen und stärkte letztendlich die DDR-Opposition auf dem Weg zur Friedlichen Revolution im Herbst 1989. DDR-weit wurden durch Kirchen auch Proteste gegen die Wahlfälschungen im Mai 1989 unterstützt, massiv durch das MfS behindert. Einige Bildbeispiele basiskirchlichen Engagements zeigt der bpb-Film Feindbilder.

Interner Link: PDF Stasi-Strategien zur Bekämpfung der kirchlichen Bluesmessen in der Berliner Samariterkirche 1981, die für das MfS "feindlichen Character" trugen.

Vielleicht nicht ganz so zahlreich, aber in ihrer Wirkung weitaus bedeutender als die vielen IM der Stasi waren in diesem Prozess aufrechte und politisch wache sowie engagierte Christen wie Propst Heino Falcke aus Erfurt, der Magdeburger Konsistorialpräsident und Gründer der Aktion Sühnezeichen Lothar Kreyssig, die Bischöfe Werner Krusche, Heinrich Rathke und Gottfried Forck, die Dresdner und Magdeburger Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider und Curt Stauss, die Leipziger Pfarrer Christoph Wonneberger und Christian Führer, der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, der Thüringer Jugendpfarrer Walter Schilling, die Studentenpfarrer Johannes Hamel, Siegfried Schmutzler und Axel Noack – um nur einige wenige von ihnen zu nennen. Sie waren prägend für viele Menschen und stärkten sie im aufrechten Gang innerhalb der Diktatur.

Besucher eines der montäglichen Friedensgebete in der Leipziger Nicolaikirche im Herbst 1989 - von der Stasi rundum observiert. (© BStU Außenstelle Leipzig)

Kirchen als Katalysator der Friedlichen Revolution

Aus heutiger Sicht betrachtet war es eine jahrelange Entwicklung, die am Ende zur Überwindung der SED-Diktatur und zur deutschen Einheit führte. Die Kirchen wirkten auf unterschiedliche Weise dabei als Katalysatoren. Die katholische Kirche trat politisch weit weniger in Erscheinung, dennoch spielte sie eine wichtige Rolle. Durch die sogenannte Sonntagspflicht sowie den Religionsunterricht für Kinder in den Pfarrhäusern gab es einen intensiven Kontakt zwischen Amtskirche und Gemeinde. Der Bezug zur gesamtdeutschen katholischen Kirche, die Orientierung nach Rom, das Verständnis einer Weltkirche und natürlich das dem DDR-Sozialismus teilweise zuwiderlaufende moralische Grundgerüst waren auf diese Weise unter den Katholiken der DDR fest verankert. So ist es bezeichnend, dass die katholischen Gemeinden nicht an der Spitze der Friedlichen Revolution standen; in der Wendezeit und danach waren es jedoch auch zahlreiche Katholiken, die in Politik und Öffentlichkeit den Aufbau der Demokratie im Osten aktiv gestalteten.

Einen Anstoß für diese konstruktiv politische Herangehensweise bildete der wesentlich von Heino Falcke vorangetriebene konfessionsübergreifende „konziliare Prozess“, der 1988 und 1989 zu insgesamt drei Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung führte. In Dresden, Magdeburg und abschließend wieder in Dresden wurden zahlreiche Texte verabschiedet, die sich mit notwendigen Veränderungen in der DDR befassten und damit auch Basis und Anregungen für die sich 1989 in der DDR konstituierenden neuen Parteien und Bewegungen lieferten. Auch die Neugründung der sozialdemokratischen SDP in der DDR organisierten Pfarrer in kirchlichen Räumen. Im August 1989 wurde ein erster Entwurf für einen Gründungsaufruf in der Berliner Golgathagemeinde vorgestellt, am 7. Oktober 1989 fand in der Dorfkirche von Schwante die Gründungsversammlung statt. Zwar waren auch einflussreiche Stasi-IM darunter, verhindern konnten sie die Entwicklung aber nicht.

Schon seit 1982 fanden wöchentlich in der Leipziger Nicolaikirche Friedensgebete statt, spätestens seit 1986 wurden diese in der Koordination der Pfarrer Christian Führer und Christoph Wonneberger immer politischer. Die wechselnde Zuständigkeit einzelner kirchlicher Basisgruppen, die sich für Umweltschutz, Menschenrechte oder Abrüstung einsetzten, verschaffte diesen eine öffentliche Wirksamkeit und zog zahlreiche Menschen an, die ansonsten nicht den Weg in die Kirche gefunden hätten. „Nicolaikirche – offen für alle“ stand dann auch bald einladend an einem Schild neben dem Eingang der Kirche im Leipziger Stadtzentrum. Auch für die Stasi, die vergeblich versuchte, die Kirchenplätze zu besetzen und diese Arbeit zu zersetzen.

Die Macht der Kerzen

Die Friedensgebete in Leipzig wurden 1988 auch zum Begegnungs- und Protestort zahlreicher Ausreiseantragsteller. Zwar fremdelten beide Seiten, Ausreisewillige und Kirche bzw. Basisgruppen, miteinander, doch stellten im Herbst 1989 schließlich die Ausreiseantragsteller die kritische Masse für die Montagsdemonstrationen. Sie kamen zu Tausenden und hatten nichts zu verlieren. Sie wollten in der DDR nichts mehr erreichen und konnten daher angstfrei auf den Straßen protestieren. Den eindrucksvollen Sprechchören „Wir wollen raus!“ folgten aber bald darauf die noch machtvolleren Rufe „Wir bleiben hier!“ und „Wir sind das Volk!“ Die Kirchen in Leipzigs Zentrum, aber auch in vielen anderen Städten der DDR, öffneten ihre Türen im Herbst 1989. Am Anfang der Montagsdemonstration standen Friedensgebete – sicher nicht der einzige, aber gewiss ein wesentlicher Grund dafür, dass wir heute von der Friedlichen Revolution in der DDR sprechen, nicht mit Waffen, sondern Kerzen in der Hand. SED und Stasi hatten ein anderes Feindbild verinnerlicht - sie waren auf diese Kraft nicht vorbereitet. Bildbeispiele zeigt der Film des Bürgerkomitees 15. Januar "Interner Link: Vom Einläuten der Revolution".

Ausschnitt aus einem MfS-Tagesprotokoll vom 12.10.1989. Notiert ist u.a. eine Demonstration und Mahnwache in Halle vom Vortag. Gewalttätigkeit wird nicht festgestellt, aber "100 brennende Kerzen" . Sie waren Symbole für die Friedlichkeit der Demonstrationen im Herbst 1989, vor allem Kirchenvertreter hatten darauf Wert gelegt. (© BStU, SED-KL, 1868, S.11)

Die lange Übung von freier Rede und demokratischer Praxis in den Kirchen wirkte sich landesweit noch an anderer Stelle aus: Die meisten der nach polnischem Vorbild auf allen Ebenen einberufenen Runden Tische, die in einer Übergangszeit bis zu freien Wahlen teilweise die Aufgaben der Volksvertretungen übernahmen, wurden von kirchlichen Amtsträgern geleitet und moderiert. Nicht wenige evangelische Pfarrer gingen anschließend hauptberuflich in die Politik, prominentestes Beispiel ist der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck. Ab Januar 1992 leitete er die Stasi-Unterlagen-Behörde, 2012 wählte ihn die Bundesversammlung zum Bundespräsident.

Filme zum Thema:

- Videokapitel Stasi, Kunst und Kirche aus der bpd-DVD Feindbilder
- Vom Interner Link: Einläuten der Friedlichen Revolution, eine Videocollage des Bürgerkomitees 15. Januar e.V.
- Interner Link: SPIEGEL-TV Beitrag über Kirchen-IMs vom 25.8.1996
- Stasi-Razzia in der kirchlichen Umweltbibliothek, ein Interner Link: ZDF-Bericht aus KENNZEICHEN D vom 2.12.1987
- Der Externer Link: Fall Wolfgang Schur, eine RBB-Dokumentation vom 19.11.2017

Der Jurist Johannes Beleites aus Halle ist Studienleiter für politische Bildung der Evangelischen Akademie Thüringen. Er war Mitverfasser des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und Verfasser mehrerer Veröffentlichungen über das Strafrecht in der DDR. Für die BStU erstellte er 2004 die Publikation „MfS-Handbuch Haftvollzug“. Seit 2015 Vorsitzender des Beirats zur Aufarbeitung und Versöhnung der sächsischen Landeskirche, der sich mit innerkirchlichen Problemen bei politisch widerständigem Verhalten einzelner Kirchenmitarbeiter und den Reaktionen der Kirchenleitung darauf befasst.