Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wie das MfS Menschen entführen ließ | Stasi | bpb.de

Stasi Definition & Geschichte Definition Geschichte Die Rolle Erich Mielkes Feindbild Funktionen KGB-Wurzeln Stasi = Gestapo? Einsatzfelder Alltag Betriebe Bezirke Bildung Entführungen Film Grenze Haft Kirche Kuba Kunst Literatur Mauertote Medien Medizin Neonazis Post Recht Spionage Sport Volkswirtschaft Volkswirtschaft 1989 Weihnachtsschmuck Westpolitiker Zwangsarbeit Stasi und Nordkorea Akteure Auftraggeber SED KGB-Verzahnung Jugendliche Spitzel IM-Bekenntnis Weitere Stasi-Helfer Sicht eines Stasi-Majors "Neinsager" Oppositionelle Gegenspionage Entmachtung Friedliche Revolution Für Angst blieb keine Zeit Entmachtung in den Regionen Macht der Bürgerkomitees Berlin: Erstürmung ohne Masterplan Zweifel an einem Bürgererfolg Durchbruch durch zweite Besetzung Fußball auf dem Stasi-Flur Aufarbeitung Psychofolgen bis heute Auslaufmodell Aufarbeitung? Einmal Stasi - immer Stasi? Das deutsche Ringen um die Akten Stasi in Syrien Stasi-Wirken in Polen Skandalisierung in Ungarn Nur temporäre Aufarbeitung des KGB Entzweite Freunde Auf Berias Spuren in Georgien Albanien: Deutschland als Musterland Lehren Lehren aus der Stasi-Überwachung Beispielhafte Abiturprojekte Erfurt: Grabe, wo Du stehst Berlin: Lernen am historischen Ort Schüler anregen, nicht belehren Erben der DDR-Bürgerbewegung? Videos Linktipps Redaktion

Wie das MfS Menschen entführen ließ

Susanne Muhle

/ 13 Minuten zu lesen

Rund 400 Menschen wurden bis Mitte der 1960er Jahre in die DDR entführt oder verschleppt. Täter waren Stasi, KGB und die DDR-Grenzpolizei. Kritiker des SED-Staats sollten aus dem Verkehr gezogen werden.

Die Entführung des Westberliner Rechtsanwalts Walter Linse nach Ostberlin, nachgestellt für die Neue Deutsche Wochenschau 1952. (© Archiv Susanne Muhle)

"Wieder Menschenraub in Berlin?" titelte die Frankfurter Rundschau im Oktober 1958. Vermisst wurde der Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes Friedrich Böhm. In einem West-Berliner Waldgebiet waren sein Hund, seine zerschlagene Brille, sein Lederetui mit Kamm, Blutspuren sowie ein toter Frischling gefunden worden. Auch sein Auto war verschwunden. Aber etwa drei Kilometer vom Tatort entfernt entdeckten die West-Berliner Ermittler Reifenspuren, die über ein Grasgelände an der Potsdamer Chaussee zur dort verlaufenden Zonengrenze führten. Alle Spuren deuteten auf eine gewaltsame Entführung hin.

Tatsächlich hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Friedrich Böhm bereits seit drei Jahren im Visier. Als er sich an jenem Tag im Oktober 1958 mit einem Bekannten im Wald traf, ahnte er nicht, dass dieser als inoffizieller Mitarbeiter (IM) "Tell" auf ihn angesetzt war und drei weitere IM dort auf ihn warteten. Von einem vermeintlichen Waldarbeiter ließ sich Friedrich Böhm zu einem toten Frischling auf einem Waldweg führen. Dort überwältigten ihn drei Männer und schlugen ihn brutal nieder. In seiner heftigen Gegenwehr erlitt er sogar eine Schussverletzung. Schwer verletzt brachten ihn die Entführer über die Grenze in die DDR. Nach Abschluss der dortigen Vernehmungen wurde Friedrich Böhm wegen schwerer Spionage angeklagt. Insgesamt 50 Bürger habe er zum Zweck der wirtschaftlichen und militärischen Spionage in der DDR sowie in Polen angeworben. Ein Zeuge, der ihn schwer belastete, war der IM "Tell". Am 10. November 1959 verurteilte das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) Friedrich Böhm zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Erst im September 1972, fast 14 Jahre nach seiner Entführung, konnte er im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik zurückkehren.

Die Entführungspraxis des MfS

Friedrich Böhm gehört zu den etwa 400 Menschen, die seit Gründung der DDR 1949 bis Mitte der 1960er Jahre aus der Bundesrepublik und vor allem aus West-Berlin in die DDR verschleppt oder entführt wurden. In etwa zwei Drittel der Fälle handelte es sich um spontane Übergriffe in Grenznähe durch die Volks- bzw. Grenzpolizei der DDR und vor allem um Verschleppungen durch den sowjetischen Geheimdienst und das MfS. Gezielt wurden bestimmte Personen mit Hilfe von Täuschungsmanövern nach Ost-Berlin oder in die DDR gelockt, um sie dort festzunehmen. Mindestens die Hälfte aller Entführungsopfer ließ sich von fingierten Briefen und Telegrammen, durch Aufforderungen von Bekannten und Verwandten täuschen und begab sich gewissermaßen aus eigener Entscheidung auf den Boden der DDR – ohne zu ahnen, dass es sich um eine Falle des MfS handelte. In vielen weiteren Fällen wurden Betroffene nach einem Lokalbesuch von ihren Begleitern im betrunkenen Zustand zum Betreten des Ostsektors überredet oder auf dem vermeintlichen Heimweg über die Grenze gebracht. Andere wurden unter einem Vorwand in unmittelbare Grenznähe gelockt, dort überwältigt und festgenommen. Etwa 100 Entführungsaktionen des MfS erfolgten unter dem Einsatz von körperlicher Gewalt und Betäubungsmitteln, die den arglosen Opfern in vergifteten Pralinen, Zigaretten oder Getränken verabreicht wurden. Die Anwendung von Gewalt war oft von vornherein fester Bestandteil dieser akribisch geplanten Entführungen. Das MfS stattete die von ihm beauftragten Entführer zum Teil mit Waffen aus und ließ Entführungsopfer brutal zusammenschlagen wie Friedrich Böhm. Der Rechtsanwalt Walter Linse 1952, der Journalist Karl Wilhelm Fricke 1955 und der Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt 1961 sind die wohl bekanntesten Opfer dieser gewaltsamen Entführungspraxis des MfS.

Bei den Entführungsopfern handelte es sich oft um DDR-Flüchtlinge, die Verbindung zu westlichen Geheimdiensten oder antikommunistischen Organisationen hatten. Viele von ihnen wollten auf diesem Wege Widerstand gegen das kommunistische Regime leisten – die Grenze zwischen politischem und geheimdienstlichem Handeln war dabei oftmals fließend. Viele der antikommunistischen Organisationen wurden von politischen, aber auch geheimdienstlichen Stellen im Westen unterstützt und kooperierten mit diesen. In den Augen des MfS waren die antikommunistischen Organisationen und politischen Gegner im Westen ebenso "feindliche Spionagezentralen" wie die westlichen Geheimdienste. Der Kontakt zu diesen Organisationen wurde in den Anklagen gegen Entführungsopfer in der DDR zur Spionagetätigkeit deklariert. Dabei reichte mitunter schon der zwangsläufige Kontakt mit westlichen Geheimdiensten im Rahmen des bundesdeutschen Notaufnahmeverfahrens, das DDR-Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im Westen durchlaufen mussten. Einer speziellen Gruppe von DDR-Flüchtlingen konnte dieser Kontakt besonders zum Verhängnis werden: denjenigen, die in der DDR dem MfS, der Volks- und Grenzpolizei oder der SED angehört hatten. Mit großer Vehemenz verfolgte das MfS diese Abtrünnigen im Westen, auch wenn sie vor ihrer Flucht aus dem Dienst ausgeschieden waren.

Hochphase in den 1950er Jahren

Im Vergleich zur massenhaften Verfolgung politischer Gegner in der DDR waren die Verschleppungen und Entführungen ein Randphänomen. Sie veranschaulichen aber, dass und wie das SED-Regime versuchte, seine Herrschaft auch jenseits seiner territorialen Grenzen zu etablieren und zu festigen. So liegt die Hochphase der Entführungsaktionen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre – in einer Zeit, in der das noch instabile SED-Regime immer wieder von Krisen erschüttert wurde, die nicht zuletzt auf der mangelnden Zustimmung in der eigenen Bevölkerung fußten. Massenhaft flohen Menschen vor dem Aufbau des Sozialismus, der mit Versorgungskrisen, Zwangskollektivierung und politischer Repression einherging. Im Dienst der Herrschaftsdurchsetzung wurde das MfS als sogenanntes "Schild und Schwert der Partei" gegen politische Gegner in der DDR, aber eben auch jenseits der Grenze aktiv. Denn in den Augen der Partei und ihres Staatssicherheitsdienstes ging von der Bundesrepublik, dem Systemkonkurrenten im Westen, große Gefahr für ihre Herrschaft aus. Ein besonderer Stachel im Fleisch der Machthaber in der DDR war Berlin und sein Sonderstatus als Stadt unter Vier-Mächte-Kontrolle: Die Systemkonkurrenz der beiden Machtblöcke spielte sich hier auf engstem Raum ab. Als eine Art "Schaufenster" zeigte West-Berlin den wirtschaftlichen Erfolg des Westens und entwickelte eine enorme Anziehungskraft auf die Menschen in der DDR. Vor dem Mauerbau war die Grenze hier noch relativ leicht passierbar, was nicht nur tausende Menschen im Alltag, sondern auch zur Flucht aus der DDR nutzten – vor allem nach der Abriegelung der innerdeutschen Grenze 1952. Zudem agierten hier politische Gegner des SED-Regimes, die sich in antikommunistischen Organisationen sammelten, aber auch zahlreiche Geheimdienste.

Vor diesem Hintergrund ist die Entführungspraxis des MfS zu betrachten. Die Entführungsaktionen dienten der Gewinnung von Informationen und der Bestrafung der Entführten. Das Strafmaß war mitunter drakonisch: 24 Menschen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, darunter 16 Verurteilungen durch sowjetische Militärtribunale. Etwa die Hälfte der Entführten verbrachte zwischen einem und zehn Jahren in DDR-Haft (ca. 35 % bis zu fünf Jahren), wenige sogar bis zu 15 Jahre. Zum weit überwiegenden Teil wurden die Entführten und Verschleppten danach wieder in den Westen entlassen. Angesichts der umfangreichen Verschleierungs- und Geheimhaltungsmaßnahmen wirkt das auf den ersten Blick widersprüchlich. Dem MfS ging es aber nicht nur um eine Bestrafung der Personen, die Entführungspraxis hatte auch eine andere, mindestens ebenso wichtige Funktion: Es war eine Machtdemonstration, die sich nach außen, aber ebenso nach innen richtete. Zum einen führte sie potenziellen Fluchtwilligen in den eigenen Reihen die vehemente Verfolgung und drakonische Bestrafung von "Verrätern" vor Augen. So ließ MfS-Chef Erich Mielke im Juli 1960 nach der Entführung und Hinrichtung eines geflohenen Grenzpolizisten in einem internen Befehl bekannt geben: "Jeder Verräter – ganz gleich, wo er sich auch befinden möge – wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen." Zum anderen sollten Kontaktleute und Mitarbeiter westlicher Geheimdienste oder antikommunistischer Organisationen die Gefährlichkeit ihres Handelns erkennen und sich von diesen Vereinigungen abwenden, die zugleich in der West-Berliner Öffentlichkeit diskreditiert werden sollten. Dort sollten die Entführungen Verunsicherung stiften, indem sie die Schutz- und Machtlosigkeit der Polizei und Politik demonstrierten. Tatsächlich zeigten die Schutzmaßnahmen in West-Berlin zum Teil wenig Wirkung, die Ermittlungen nach Tatverdächtigen mussten oftmals eingestellt werden und die Proteste und Freilassungsgesuche der West-Alliierten sowie der Regierungen in Bonn und West-Berlin verhallten.

Unerlässlich für diese Art, vermeintliche Allgegenwart und Allmacht zu demonstrieren, war der zielgerichtete Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) als Entführer.

Entführer-IM und Prämien

Im Vorfeld der Entführungen lieferten "IM" die notwendigen Informationen über die Aufenthaltsorte sowie Lebensgewohnheiten der Betroffenen und erkundeten Fahrtrouten. Mitunter entwickelten sie sogar selbst Entführungsideen und -pläne. Hier begann ihr spezifischer Einsatz als Entführer-IM. Sie brachten die zu entführende Person an einen bestimmten Ort, animierten zum reichhaltigen Alkoholkonsum oder verabreichten ein Betäubungsmittel. Sie überwältigten die betroffene Person gewaltsam und brachte diese über die Grenze, um sie dort dem MfS auszuliefern. Bei gewaltsamen Entführungsaktionen kamen mehrere IM zum Einsatz, die zum Teil feste IM-Gruppen bildeten und für mehrere Entführungsaktionen eingesetzt wurden. Für diese besondere IM-Arbeit warb das MfS gezielt Personen aus dem kriminellen Milieu in West-Berlin, aber auch gewöhnliche Personen. Letztere hatten oft die Aufgabe, ein Vertrauensverhältnis zum Entführungsopfer aufzubauen, um so eine Entführung zu ermöglichen.

Zeitungsmeldung in der Berliner Mittagszeitung "Der Abend" vom 21. April 1954 (© Archiv Susanne Muhle)

Der Entführungsfall Friedrich Böhm macht diese Einsatzpraxis der Entführer-IM deutlich. Der gelernte Schmiedemeister, Jahrgang 1910, war 1950 aus der DDR nach West-Berlin geflohen, wo er 1953 hauptamtlicher Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes wurde. Diese Tätigkeit wurde dem MfS im Frühjahr 1954 durch einen IM bekannt, der fortan über Böhm berichtete und half, weitere IM an ihn heranzubringen. Als die zuständige Hauptabteilung II/2 keine weiterführenden Informationen mehr erwartete, entstand im April 1956 der erste Entführungsplan. Ein IM mit dem Decknamen "Konsul", den das MfS 1952 gezielt aus dem kriminellen Milieu in West-Berlin angeworben hatte, traf die Vorbereitungen, mit drei Komplizen Friedrich Böhm gewaltsam nach Ost-Berlin zu entführen. Böhm sollte unter dem Vorwand, einen Informanten zu treffen, in einen Hinterhalt gelockt und dort mittels Chloroform betäubt oder mit einem Sandsack niedergeschlagen werden. Aus unbekannten Gründen kam der Plan nicht zur Durchführung. Die Hauptabteilung II/2 hielt aber an dem Ziel einer "aktiven Maßnahme" fest und schmiedete neue Entführungspläne, auch wenn die Sicherheitsmaßnahmen von Friedrich Böhm diese erschwerten.

Auch West-Berliner als Entführer beteiligt

Anfang 1957 hatte das MfS acht IM im Umfeld von Friedrich Böhm positioniert, sieben weitere IM hatten zeitweise Verbindung zu ihm. Unter ihnen waren auch der IM "Tell" und dessen Ehefrau, die das MfS mit ihren beiden Kindern und als politische Flüchtlinge getarnt nach West-Berlin geschickt und auf Böhm angesetzt hatte. Dieser erkannte die Falle nicht, warb die beiden für eine Zusammenarbeit mit dem französischen Geheimdienst an und schenkte ihnen sein Vertrauen. Durch die Tätigkeit des IM "Tell" als Hilfsförster in einem Waldgebiet in der Nähe der Grenze zur DDR bot sich dem MfS schließlich ein geeigneter Tatort. Für den gewaltsamen Überfall und den Transport in die DDR beauftragte das MfS eine dreiköpfige Einsatzgruppe unter Leitung eines IM "Neuhaus", der explizit für Entführungsaktionen angeworben worden war. Der erwerbslose West-Berliner hatte 1955 Kontakt zum MfS aufgenommen und dort angeboten, "Agenten gewaltsam in den demokratischen Sektor Berlins" zu bringen. Das MfS erkannte ein "besonderes Talent für Aufgaben, bei denen evtl. Gewaltanwendung notwendig ist", da er "sehr kaltblütig und mutig" sei.

Als Friedrich Böhm am Morgen des 2. Oktober 1958 in Begleitung des IM "Tell" den Parkplatz im Gatower Forst erreichte, wartete dort bereits das Entführungskommando. "Tell" führte Friedrich Böhm auf einem Waldweg zu der Stelle, wo eine für ihn geschlagene Birke liegen sollte. Als Waldarbeiter verkleidet, näherte sich IM "Neuhaus" den beiden Männern, berichtete von einem in der Nähe aufgefundenem Frischling und führte sie dorthin. Im nächsten Augenblick zog "Neuhaus" eine Pistole und die beiden anderen Entführer-IM sprangen aus dem naheliegenden Gebüsch. Mit Gummiknüppeln droschen sie auf den sich verzweifelt wehrenden Friedrich Böhm ein. Im Gerangel traf ihn ein Schuss in der Schulter – der Schuss sowie seine Hilferufe verhallten im Wald. Die IM fesselten den verletzten Friedrich Böhm, verfrachteten ihn in einen VW Kombi, beseitigten die Blutspuren am Tatort und fuhren über eine genau festgelegte Route in die DDR. Die Grenze passierten sie an der Potsdamer Chaussee in Groß-Glienicke, wo die MfS-Hauptabteilung I den Stacheldraht kurzzeitig beseitigt und den Sperrgraben mit einem Behelfssteg passierbar gemacht hatte.

Trotz der gelungenen Entführung war das MfS mit dem Einsatz des IM "Neuhaus" und seines Komplizen "Bär" nicht zufrieden. Wiederholt war es in ihrer IM-Laufbahn zu Konflikten wegen Eigenmächtigkeiten gekommen: Nach dem ersten Treffen mit dem MfS im Dezember 1955 sollten sie ihre Einsatzbereitschaft durch Informationsbeschaffung unter Beweis stellen. Wiederholt baten sie aber um "größere Aufträge", da es nicht ihren Fähigkeiten entspreche, "immer nur Ermittlungen zu führen". In Eigenregie trafen die beiden IM Vorbereitungen für Entführungen, die ihr Führungsoffizier aber zu ihrer Enttäuschung immer wieder verbot. Zudem registrierte das MfS negativ, dass finanzielle Interessen das Engagement der IM stark bestimmten. Trotz aller Ermahnungen entführten "Bär" und "Neuhaus" im März 1956 ohne Auftrag einen West-Berliner nach einem gemeinsamen Kneipenabend, um ihre "aufrichtige Mitarbeit unter Beweis zu stellen". Sie erhielten eine Prämie von je 200 DM/West, aber auch die Ermahnung, dass derartige Maßnahmen nur mit ausdrücklicher Genehmigung durchgeführt werden dürften. Immer wieder musste das MfS zügelnd auf den IM "Neuhaus" einwirken, der in seinem Arbeitseifer kaum zu bändigen war. Im Vorfeld einer Entführung, die sich laufend verzögerte, notierte sein Führungsoffizier in einem Treffbericht: "Sollte eine Schleusung des W. überhaupt nicht infrage kommen, könnte N. sehr leicht die Lust an der Mitarbeit überhaupt verlieren." Sieben Tage später erhielt "Neuhaus" den ersehnten Auftrag und entführte im August 1956 den West-Berliner Siegfried Wenzel, den das MfS einer Tätigkeit für den amerikanischen Geheimdienst verdächtigte.

Im März 1958 forderte "Neuhaus" für seine speziellen Aufträge eine Ausbildung, die ihn im Schießen und Judo, in der Anwendung von Betäubungsmitteln und Sprengstoffen, Beschattung und Festnahme von Personen sowie im Verhalten bei Verhören schulen sollte. Eine solche Ausbildung würde nicht nur seine eigene Sicherheit erhöhen, sondern auch die Erfolgschancen bei den Aktionen. Zudem bat er um die Ausrüstung mit einer Pistole. Zu dieser Zeit beauftragte ihn das MfS als Leiter einer dreiköpfigen Einsatzgruppe mit dem Decknamen "Blitz" mit der Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters aus der Nähe von Heilbronn, die später scheiterte. Die gewünschte Ausbildung und Ausrüstung ließ das MfS ihm nicht zuteil werden. So beschwerte er sich im Sommer desselben Jahres, dass diese bei der Gefahr seiner Arbeit wohl nicht zuviel verlangt sei und er außer seiner Pflichten auch gewisse Rechte in Anspruch nehmen dürfte, wie die Ausstattung mit einer Pistole. Als er wenige Wochen später bei der Entführung von Friedrich Böhm eine Pistole trug und diese nutzte, war es anscheinend wieder eigenmächtiges Handeln. Er beteuerte später gegenüber dem MfS, dass sich der Schuss versehentlich aus der Pistole gelöst habe, als er mit dieser auf Böhm eingeschlagen habe. Der ebenfalls beteiligte IM "Alfons Dietrich" sprach hingegen von einem gezielten Schuss. Der unabgesprochene Einsatz der Pistole lag aber offenbar im Toleranzbereich des MfS, er wurde zumindest MfS-intern nicht weiter thematisiert, sondern nur die unehrliche Berichterstattung des IM "Neuhaus".

Für die Entführung erhielt "Neuhaus" eine Prämie von 7.500,- M/DDR, bis 1961 zahlte das MfS ihm darüber hinaus insgesamt etwa 50.000,- M/DDR in Form von monatlichen Zuwendungen. In den folgenden Jahren versorgte das MfS ihn wiederholt mit Arbeitsplätzen, Wohnungen etc. und beschäftigte ihn 1969 schließlich als hauptamtlichen IM in der Abteilung XXI. Diese "Fürsorge" diente auch der Ruhigstellung des IM "Neuhaus", der – nicht zuletzt aufgrund seines großen Geltungsbedürfnisses und seiner starken finanziellen Interessen – auf seine Außerdienstnahme als Entführer-IM mit Unverständnis reagierte und wiederholt Forderungen stellte. Nicht wenige Entführer-IM zeigten nach ihrem Einsatz ein ähnliches Verhalten und erforderten so eine intensive Betreuung durch das MfS. "Wir können heute keine solchen Arbeitsmethoden mehr anwenden, wie wir sie vor 10 Jahren, 8 Jahren, zum Teil noch vor 6 Jahren anwenden mussten, weil sie uns teils vom Gegner aufgezwungen wurden", erklärte der Leiter der Abt. XXI, Josef Kiefel, 1965 dem frustrierten IM "Neuhaus.

Abkehr von der Entführungspraxis

Tatsächlich zeigte das MfS Anfang der 1960er Jahre eine weitgehende Abkehr von der bisherigen Entführungspraxis. Infolge des Mauerbaus 1961 konsolidierte sich die SED-Herrschaft zunehmend und ihr Bedrohungsgefühl wurde etwas eingedämmt. Der Mauerbau hatte zudem den Aktionsradius westlicher Geheimdienste und antikommunistischer Organisationen eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund wandelte sich die Ausrichtung der MfS-Arbeit, zumal aufsehenerregende Methoden wie die Entführungsaktionen dem Bemühen um internationale Anerkennung widerstrebten.

Die Anwendung physischer Gewalt blieb als ultima ratio aber fester Bestandteil des Repertoires im MfS, vor allem gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen, Fluchthelfer und geflohene Sportler. Auch in späteren Jahren gab es noch Entführungspläne, aus denen in Einzelfällen sogar Mordpläne erwuchsen, und IM wurden mit entsprechenden Aufträgen nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik geschickt.

Mehr zum Thema Stasi-Entführungen: Externer Link: ZDF-History über "Mielkes Menschenjäger"

Literaturhinweise

Bästlein, Klaus: Der Fall Mielke. Die Ermittlungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR, Baden-Baden 2002.

Fricke, Karl Wilhelm: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, Berlin 41997.

Fricke, Karl Wilhelm/Engelmann, Roger: "Konzentrierte Schläge". Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998.

Muhle, Susanne: Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Göttingen 2015.

Sälter, Gerhard: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954–1966), Dresden 2002.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wieder Menschenraub in Berlin? In: Frankfurter Rundschau vom 6.10.1958

  2. Vgl. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 213–216, 289–309; ebd., Bd. 2, S. 128–134, 234, 242–250, 268–271; ebd., Bd. 3, S. 172–187, 198; ebd., Bd. 4, S. 35–41, 158–171; ebd., Bd. 14, S. 185–216, 225–238; BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 96–100, 118–127.

  3. Vgl. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 316–342; BArch, B 209/1070, o. Pag.

  4. Der vorliegende Beitrag basiert auf den Forschungen der Autorin, die sie 2015 in dem Buch "Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR" veröffentlicht hat.

  5. BStU, MfS, BDL/Dok Nr. 000579, S. 2–4, hier S. 4.

  6. Vgl. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 21–27, 213 f.; ebd., Bd. 2, S. 128–134, 234, 242–250, 268–271; ebd., Bd. 4, S. 158–171; ebd., Bd. 6, S. 109 f., 215–217; ebd., Bd. 7, S. 17–47, 316–342; BStU, MfS, AOP 1011/57, Bd. 2, S. 97, 188 f., 250; BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 44, 107 f.; ebd., A-Akte Bd. 4, S. 173.

  7. Vgl. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 289–309; ebd., Bd. 3, S. 172–187; ebd., Bd. 4, S. 35–41; ebd., Bd. 14, S. 185–194, 200–202; BStU, MfS, AP 21826/80, Bd. 1, S. 85–91; BArch, B 209 Nr. 1070, o. Pag.

  8. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 13 –15, hier S. 14. Vgl. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 195–199.

  9. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 183–185, hier S. 185.

  10. Vgl. BArch, B 209 Nr. 1070, o. Pag.; BStU, MfS, AP 21826/80, Bd. 1, S. 85–91; ebd., Bd. 14, S. 215 f., 225–238; BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 118–123.

  11. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 29. Vgl. ebd., S. 13–15.

  12. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 42 f. Vgl. ebd., S. 40 f., 67–71, 78, 87–95, 100–104.

  13. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 180–182, hier S. 181. Vgl. Ebd., S. 44–48, 175 f., 183 f.

  14. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 114 f. Vgl. ebd., P-Akte Bd. 1, S. 52; ebd., A-Akte Bd. 1, S. 186, 188; ebd., A-Akte Bd. 2, S. 16 f., 23–28, 53, 57, 96–100, 102–111, 118–123, 344–348; BStU, MfS, AOP 10926/64, Bd. 1, S. 186–190;

  15. Vgl. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 52, 201–204; ebd., A-Akte Bd. 2, S. 118–123.

  16. Das MfS schickte "Neuhaus" 1980 in Rente, die Zusammenarbeit mit ihm als IM beendet es 1985 aufgrund seines Gesundheitszustands und Alters. Vgl. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 26–28, 135, 138, 198–204, 285 f., 336–349, 363–365, 397–407; ebd., P-Akte Bd. 2, S. 107 f., 156; ebd., P-Akte Bd. 3, S. 7 f., 9 f., 11–17, 34, 245–280, 326–345; ebd., P-Akte Bd. 4, S. 115 f., 147–149; BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/3, S. 90.

  17. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 354

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Susanne Muhle für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. Susanne Muhle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Berliner Mauer. Ihre Dissertation "Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR" wurde 2015 mit dem Opus Primum-Förderpreis der Volkswagen-Stiftung ausgezeichnet. Ihr nachfolgender Text wurde erstveröffentlicht in Heft 77, (4/2015) der Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik "Gerbergasse 18".