Über der Gesellschaft der DDR lag ein unsichtbares Netz der Gedanken- und Verhaltenskontrolle. Dieses Netz war keineswegs ohne Schlupflöcher, doch es war insgesamt sehr eng geknüpft. Die Stasi war in diesem Überwachungssystem lediglich die ultima ratio, das heißt das letzte Mittel der Staatsmacht, abweichendes Denken oder Verhalten zu bestrafen. Das MfS registrierte alle "operativ bedeutsamen" Hinweise und legte sie in Akten nieder. Dies konnten Vorkommnisuntersuchungen sein, Operative Personenkontrollen (OPK) oder Operative Vorgänge (OV), die alle sehr sorgfältig geführt und in Analysen zusammengefaßt wurden. Das MfS realisierte diesen Informationsbedarf vor allem durch ihr Netz heimlicher Informanten, parallel aber auch durch Parteiberichte, Berichte und Protokolle der Massenorganisationen wie der FDJ und des FDGB, durch Berichte und Meldungen über "Besondere Vorkommnisse" (BV) staatlicher Organe aller Art sowei durch mündliche Auskünfte der Funktionäre und staatlichen Leiter.
Besondere Vorkommnisse
Bei solchen Besonderen Vorkommnissen konnte es sich um vielerlei handeln: Disziplinverstöße, kleinere Eigentumsdelikte, Trunkenheit am Arbeitsplatz, Verstöße gegen die Gebote der sozialistischen Moral, kritische Äußerungen, Westkontakte, Nichtteilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten, kirchliche Verbindungen, Besitz antisozialistischer Literatur, Erzählen politischer Witze, "organisiertes" Abhören von Westsendern oder Empfang von Westfernsehen, "feindlich-dekadentes Äußeres", d.h. allzu westlich-modisches Auftreten. Alle diese Verstöße wurden in den siebziger und achtziger Jahren strafrechtlich kaum noch geahndet – oder jedenfalls nur dann, wenn man der betreffenden Person aus anderen Gründen etwas anhängen wollte. Die Bewertungsmaßstäbe waren außerordentlich diffus und nirgendwo schriftlich niedergelegt, gerade deswegen aber für den Betroffenen oft kreuzgefährlich. Sehr schnell ging es um den Ausbildungs- oder Studienplatz, eine erstrebte Anstellung oder Beförderung, eine Genehmigung zu einer Westreise, die Einstufung als Reisekader oder andere kleine und große Vorteile in der Privilegiengesellschaft.
Besondere Maßstäbe galten für Mitglieder oder gar Funktionäre der SED sowie für weitere Führungskader. Sie unterlagen einer strengen Disziplin, die sogar das Eheleben und andere persönliche Dinge betraf. Ein Absturz aus einer höheren Funktion, gar ein Ausschluss aus der Partei war praktisch ein lebenslanges Stigma, das jeden weiteren beruflichen Aufstieg dauerhaft verhinderte oder zumindest langfristig erschwerte. Zudem herrschte grundsätzlich eine Art Sippenhaft. Für eine Republikflucht beispielsweise wurden alle Angehörigen ersten Grades dauerhaft mit erheblichen Karriereeinschränkungen bestraft. In allen diesen Fällen aber überließ die Stasi die konkreten Maßnahmen den zuständigen Institutionen, den Schulen und Hochschulen, Betrieben, wissenschaftlichen Einrichtungen bzw. den Massenorganisationen und der SED. Oft findet sich in den Akten der Hinweis "erzieherische Maßnahme einleiten!" oder "Vorfall parteimäßig klären!". Dann oblag die Disziplinierung dem "sozialistischen Kollektiv", der FDJ-Gruppe oder der SED-Parteigruppe. Das MfS griff in die Vorgänge in der Regel erst ein, wenn andere Mittel der Repression erschöpft waren.
Überprüfung
Das heißt nicht, dass Stasi-Überprüfungen für den Betroffenen folgenlos waren. Grundsätzlich erforderten alle Bestätigungen zum Reisekader oder die Übernahme von sicherheitsrelevanten Funktionen eine OPK (Operative Personenkontrolle), die umfassend das Privatleben des Kandidaten ausforschte. Die Besetzung von Leitungspositionen erfolgte pro forma durch die zuständige staatliche Leitung, faktisch durch die entsprechende Ebene der SED (Betriebsparteiorganisation (BPO), Kreisleitung, Bezirksleitung, ZK-Abteilung, Politbüro), war aber an das zustimmende Votum des MfS gebunden. Oft versuchte die Stasi aus operativen Gründen ihre IM in höhere Positionen einzuschleusen, so z.B. auf Lehrstühle an den Universitäten, wenn sie meinte diese Personen für nachrichtendienstliche Zwecke im westlichen Ausland zu brauchen. Fälle von unmittelbarem Eingreifen des MfS in Personalentscheidungen wurden im Laufe der Jahre immer häufiger. Aber auch die Stasi-Überprüfungen bezogen ihr Material zum erheblichen Teil aus den Mitteilungen von Kaderleitern, staatlichen Vorgesetzten, Abschnittsbevollmächtigen (ABV) der Volkspolizei, Hausgemeinschaftsleitungen (HGL) oder von "zuverlässigen Genossen", die durchaus nicht immer IM sein mussten.
Organisierung beruflicher Misserfolge
Unabhängig davon versuchte das MfS mit konspirativen Methoden in das Leben von Menschen einzugreifen, die sie für gefährlich hielt. In der Regel handelte es sich dabei um Operative Vorgänge (OV). Es ging also um Personen, die einer staatsfeindlichen Tätigkeit verdächtigt wurden, gegen die man aber nicht offen vorgehen wollte oder konnte. Dabei handelte es sich oft um bekannte Dissidenten, Künstler und "kirchenleitende Persönlichkeiten".