Ein Interview mit dem ehemaligen Fernsehkommissar "Hajo Trautzschke" aus der ZDF-Krimiserie "SOKO Leipzig". Darin berichtet der Schauspieler Andreas Schmidt-Schaller über seine Zeit als Stasi-Informant, über Feigheit, Abenteurertum und zweierlei Angst.
Die Krimiserie "Soko Leipzig" des ZDF überraschte im Dezember 2015 nach fast 300 Folgen ihre Zuschauer. Drei Fortsetzungen behandelten das Thema Staatssicherheit. In der Story wird der leitende Chefermittler Hajo Trautzschke als Stasi-IM enttarnt. Psychologisch feinfühlig wird dargestellt, wie sein Ermittlerteam augenblicklich auf Distanz zu ihm geht, aber auch verstehen möchte – warum?
Die Episode zeigt ein Stück wahres Leben. Denn "Trautzschke" alias Andreas Schmidt-Schaller, der in der DDR bereits populärer Kommissar in der Serie "Polizeiruf 110" war, arbeitet in den drei Folgen seine eigene Stasi-Verstrickung auf. Die späte Enthüllung einer Boulevardzeitung im Jahr 2013, dass er vom MfS eine Zeitlang als "IM Jochen" registriert worden war, spaltete auch sein Drehteam.
In der bpb stellte er sich Anfang 2016 den Fragen von Holger Kulick und zweier Schüler eines Gymnasiums in Berlin, die das Thema Stasi für ihren Unterricht aufarbeiten, Fabian Krüger und Morris Tellock. Alle schauten sich zunächst auch die Krimifolgen vom 20. November, 27. November und 4. Dezember 2015 an, die das ZDF lange Zeit in seiner Mediathek online zur Verfügung stellte. Jetzt leider nicht mehr.
Andreas Schmidt-Schaller wirkt locker und angespannt zugleich, als wir ihn treffen. Ohne Vorbedingungen hat er sich zu dem Gespräch bereit erklärt, ein etwaiges Honorar, so schreibt er auf seinen Vertrag, soll einer Aufarbeitungsinitiative gespendet werden. Was uns Befragern auffällt: oft spricht er noch von "man", wenn er "ich" sagen könnte, er vollzieht offenbar auch erst allmählich eine Annäherung an sich selbst. Wie zur Entkrampfung packt er anfangs ein Buch aus, als er in der bpb-Zentrale am Berliner Checkpoint Charlie Platz nimmt: "DDR-Witze aus den Geheimakten des BND". Dann beginnt ein rund zweistündiges Gespräch:
Herr Schmidt-Schaller, können Sie denn auch beim Thema Stasi wieder lachen?
Inzwischen ja, aber eine Zeitlang ging das nicht, weil das ganze Kapitel ja nicht gerade witzig war. Es lastet ja nicht nur der Fakt auf mir, eine Zeitlang IM gewesen zu sein. Ich sehe mich auch der berechtigten Frage ausgesetzt: Warum habe ich nicht früher darüber geredet?
Gute Frage. Die wollten wir auch stellen.
Ich habe damals eine Scheißangst gehabt. Ich habe gedacht - da hätte ich mich gleich erhängen können. Das ist wirklich so. Oder ich wär unter der Brücke gelandet. Denn so ein Makel war Anfang der 90er existenzvernichtend.
Aber gut 25 Jahre nach dem Untergang der DDR immer noch? Immerhin haben Sie bis 2013 geschwiegen. Erst dann klingelte ein Reporter der BILD-Zeitung bei Ihnen, der auf Ihre Stasiakte gestoßen war. Seiner Enthüllung hätten sie bequem zuvorkommen können.
Das sagt sich aber leichter, als es ist. Immerhin war er fair. Er hat mich im Februar 2013 angerufen, wir haben uns in Pankow getroffen, er hat mir Aktenkopien vorgelegt und ich konnte dazu Stellung beziehen. Ab dann gab es schlaflose Nächte. Wie geh ich damit um? Meine einzige Bitte an den Reporter war, mir Bescheid zu geben, wann seine Enthüllung erscheint. Denn ich musste mit meiner Familie und besonders meinen Kindern sprechen, bevor alle darüber reden. Das wäre sonst furchtbar gewesen. Und ich musste auch meine Agentur und Produktion informieren und das ZDF, das SOKO Leipzig ausstrahlt. Der Journalist hat mich dann tatsächlich an einem Sonnabend informiert, dass der Text am Folgemontag in BILD erscheinen soll. Ab dann ging es mir richtig schlecht. Ich habe am Abend meine Familie zusammengetrommelt, ich hatte ja nie jemandem darüber etwas erzählt.
Aber warum erst dann? Hat Sie Ihre Familie das nicht auch gefragt?
Ja, aber ich glaube, sie konnten mich nach dem Gespräch auch verstehen, mein großer Sohn hat die DDR ja noch miterlebt, mit allen ihren Zwängen. Ich hätte sie mitbelastet, das war meine Sorge. Ich wollte vermeiden, dass sich alle diesem ständigen Druck ausgesetzt gesehen hätten: "Oje, das kommt irgendwann mal raus". Aber klar, meine Frau, sie kommt aus Köln, war natürlich sauer. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie vor einer solchen Belastung schützen wollte, beispielsweise unter Freunden zu sitzen, dort über das Thema Stasi zu reden und sich zu zermartern, sag ich jetzt was ich selbst erlebt habe, oder lass ich das lieber bleiben?
Und wie offen waren Sie gegenüber Ihren Kollegen?
An jenem Montag bin ich früh nach Leipzig zum Dreh gefahren und habe vorher angerufen, sie möchten bitte alle in unseren großen Produktionsraum kommen, weil ich etwas mitteilen möchte. Ich stand dann Montagfrüh auf dem Bahnhof und dachte, hoffentlich sieht mich hier keiner, der die Zeitung schon gelesen hat.
Und war diese Angst begründet?
Nein. Aber man denkt ja in so einem Moment, alle Welt guckt auf einen.
Ähnliche Angst hatte ich, als ich in Leipzig im Studio eintraf. Ich hab dann alle hereingebeten – so ein Stab, das umfasst ja rund 50 Personen – und aus meiner Vergangenheit erzählt. Das war hart, da zu stehen. Aber ich fand es wichtig, das zu tun, um sich der Sache zu stellen. Auch, wenn es jetzt erst geschah.
Wie hat Ihr Kollegenkreis reagiert?
Das hat schon hörbar geknirscht im Gebälk. Es war schwierig, die familiäre Atmosphäre, die man für so eine Produktion braucht, wieder herzustellen. Das war nicht einfach.
Aber sie wurden weder ausgebuht, noch gefeuert. Letztendlich hat sich Ihre Angst als unbegründet erwiesen.
(Zögernd): Jein. Es bleibt ja trotz allem immer eine Restangst, gegen den man nichts machen kann. Das hängt damit zusammen, dass die ersten Jahre sehr undifferenziert mit dem Thema umgegangen wurde. Alle wurden in den gleichen Zuber gesteckt und nicht einzeln betrachtet.
Aber es kam in Ihrem Fall zu einer ungewöhnlichen Wendung das Thema anzugehen. SOKO Leipzig griff das Thema ihrer Stasi-Verstrickung auf. In Ihrer Rolle als Kommissar Hajo Trautzschke wurden Sie als ehemaliger IM enttarnt und ihre Kollegen reagierten darauf.
Meine Stasibeichte hatte nicht wenige bedrückt, verunsichert und aufgewühlt. Mich selber auch. Ich schlug damals vor, das Beste wäre doch ein Film, der zeigt, wie man mit dem Thema umgehen kann und sollte. Wir setzten uns mit unserem Drehbuch-Autor zusammen, der sich sehr in das Thema Stasi vertieft hat - in all seiner Vielschichtigkeit. Die entwickelte Story war dann natürlich Phantasie, aber die Reaktionen auf die Stasi-Enthüllung authentisch. Auch im Film gespielte Rückblicke in die Stasizeit erwiesen sich als wichtig, weil sie deutlich machten, wie gerade junge Menschen ihren Führungsoffizieren auf den Leim gingen und sich auf deren Feindbilder einließen. Mechanismen, die auch heute noch funktionieren.
Ich weiß beispielsweise von einem Schüler, den die Stasi mit 16 bereitwillig angeworben hat. Als er Student war, gab‘s die DDR jedoch nicht mehr, doch dafür stand der Verfassungsschutz mit einem Werber vor seiner Tür: „Du hast doch damals für das MfS gearbeitet… Du könntest doch auch jetzt uns helfen“. Ich kann daher nur jedem empfehlen, die Augen aufzusperren und sich auf so etwas, wie ich, gar nicht erst einzulassen. Lasst sowas sein! Selbst wenn es Karriere und Abenteuer verspricht, es belastet später immer. Das Thema ist immer neben mir geblieben. Man kann das nicht mehr wegstecken.
Wie sind Sie denn dazu "verführt" worden?
Man darf eins nicht vergessen. Der Krieg war gerade vorbei. Und die DDR meinte, sie habe den Antifaschismus erfunden. Diejenigen, die in KZs inhaftiert waren, oder aus der Emigration zurückkehrten, waren der festen Überzeugung, sie bauen jetzt eine neue Gesellschaft auf. Das leuchtete jungen Leuten wie mir sehr idealistisch ein. Auf dieser Schiene war ich zu packen. Die Augen und Ohren offen zu halten, wo diese Gesellschaft infrage gestellt wird, wo dieser junge Staat verraten und in Gefahr geraten könnte, wieder Nazis in die Hände zu fallen. Das durfte doch nicht sein! Auf diese Weise freiwillige Mitakteure zu finden, hatte die Stasi leichtes Spiel. Auch bei mir.
Dennoch sind sie nach ein paar Jahren wieder ausgestiegen, den Akten nach 1968 in Karl-Marx-Stadt. Warum?
Dort sollte ich vor allem über Kollegen Einschätzungen abgeben, also ganz konkret über sie reden. Da hab ich klar gesagt, diese Richtung mach ich nicht mit, da hab ich keinen Bock zu. Das Privatleben Einzelner hat nichts mit der Analyse von gesellschaftlichen Problemen zu tun.
Wie haben die reagiert?
Die haben natürlich versucht, mich zu überzeugen, dass die Arbeit der "Geheimen Informatoren" doch notwendig sei. Tut mir leid, das mach ich nicht, da kann ich meinen Beruf nicht ausüben hab ich geantwortet. Sonst müsste ich auf der Bühne aufhören. Wieso, haben die gefragt. Na, ich muss mit den Leuten zusammen spielen! Und wenn ich dabei im Hinterkopf Stasi-Fragestellungen habe, wie mit welcher Frau der gerade schläft oder ob der Schulden hat, das wäre doch völlig absurd. Das haben sie akzeptiert.
1971 wird dies auf einer Karteikarte des MfS vermerkt: "Lehnt Zusammenarbeit ab".
Was auch Folgen hatte: wahrscheinlich aus Rache erhielt ich Reiseverbote zu Theater-Gastspielen in der Bundesrepublik. Aber für mich war auch die Erkenntnis wichtig: Man konnte sich verweigern. Deshalb war ich später manchmal erstaunt, wenn Leute behaupteten, ja ich konnte doch nichts tun, ich musste das machen. Nein, man konnte auch der Stasi gegenüber Nein sagen - ich hätte es klugerweise von Anfang an tun sollen. Als sie mich als 17jährigen das erste Mal fragten, hab ich das auch. "Ich bin da zu jung, das mach ich nicht". Aber dann haben sie mich doch gekriegt. Auch aus Feigheit. Ich habe in dem Moment nur gedacht. Um Gottes Willen, was passiert mir jetzt? Wenn ich da nicht mitmache, ist dann mein Studienplatz im Arsch? Oder verliert meine Mutter wieder ihren Beruf als Journalistin und wird vor die Tür gesetzt, was ihr in den 50er Jahren schon einmal geschah? Das war schlicht und ergreifend die pure Angst.
War das die schärfste Waffe der Stasi? Das Erzeugen von Angst?
In meinem Werbungsgespräch haben sie damit nicht operiert. Eher haben sie später beiläufig Formulierungen fallen lassen, wie: na wir könnten ja auch...und dann lassen sie durchschimmern, dass sie Einfluss auf deine Existenz haben, ob Du beispielsweise einen Studienplätz erhältst oder nicht oder ob du ihn behältst.
Man denkt also ans eigene Fortkommen?
Natürlich. Selbstverständlich. Da geht's ums Eingemachte. Um sich selbst, das ist ganz klar. Und um deine Familie. Ich hab intensiv an meine Mutter denken müssen, an das, was sie durchgemacht hat, als die Partei sie einmal abstrafte. Kann sie wieder Schaden nehmen, ging mir durch den Kopf. Und man denkt an sich selbst. Ich hatte ja keinerlei finanzielle Unterstützung von Zuhause, das ging auch gar nicht, es war ja kein Vater da. Das war sicherlich auch ein Trick bei der Sache. Man liest ja viel darüber, dass das MfS viele geworben hat, die keinen Vater hatten oder elternlos in Kinderheimen aufgewachsen waren. Denen hat die Stasi einen einen Halt gegeben: "Wir sind immer für Dich da, wir sind Dein Anker, dein Halt" wurde suggeriert. "Du kannst Dich immer an uns wenden, wenn Du mal Probleme hast". Das beeindruckt schon. Das war sehr geschickt.
Sie sagten, mit 17 wurden Sie das erste Mal angesprochen.
Ja, sehr direkt. Da hab ich noch abweisend reagiert, kann ich nicht, will ich nicht, dazu bin ich zu jung und hab glasklar Nein gesagt. Da war ich noch Revolutionär. Zwei, drei Jahre später hatten sie es dann einfacher. Da haben Sie mich über meine Einstellung gekriegt: "Du kommst doch aus einem antifaschistischen Zuhause und die Situation ist doch brenzlig. Es geht um Krieg oder Frieden". Das klappte also ganz simpel mit ideologischer Schwarzweißmalerei.
Sie haben das geglaubt?
In dem Alter schon. Ich hab ja ernsthaft gemeint, der Weg ist schon richtig, nur die Umstände Scheiße. Ich habe beispielsweise nie verstehen können, warum sich das System so streng gab. Bei meinen Freunden wurden zwangsweise die langen Haare abgeschnitten. Da hab ich prophezeit, das kommt als Bumerang auf Euch zurück. Wie bekloppt kann man denn sein, Aussehen und Selbstverwirklichung zu verbieten. Und es kam zurück. Denn es war am Ende die Generation, die mit 15, 16 die langen Haare tragen wollte, und sich gesagt hat: jetzt reicht‘s aber auch. Es gab auch so alberne Maßnahmen, wie Fernsehantennen vom Dach zu entfernen, mit denen Westfernsehen empfangen werden konnte. Das war doch grotesk! Ich hatte eine selbst gebastelt. Da sind wirklich FDJ-Gruppen aufs Dach gestiegen und haben die entfernt. Aber das läuft dann wie mit Verboten bei kleinen Kindern. Mit solchen Maßnahmen bewirkst du nur das Gegenteil.
Welche Informationen sollten Sie denn zunächst der Stasi geben? Über Mitmenschen? Freunde, Kollegen?
Jaein. Eher indirekt. Es ging nicht von vornherein über Leute, sondern um Auskünfte über Situationen. Wie beurteilst du das, wie wird das diskutiert? Sowie sie direkt etwas über Freunde wissen wollten, hab ich gesagt, nee komm, mach ich nicht, lass sein. Ich fand das auch lächerlich, solche Fragen, wie: was trinkt der? Wovon lebt der? Solche Fragestellungen hab ich verweigert, mit denen ein Persönlichkeitsbild oder Bewegungsbild erstellt werden sollte. Heute ist das technisch ja viel einfacher mit Smartphones zu erfassen. Doch damals brauchte man als Informationssammler Menschen, auch deshalb gab es so viele IM.
Wie oft trafen Sie sich?
In unterschiedlichen Abständen, manchmal war ein Vierteljahr dazwischen. In der Regel monatlich einmal. Ich bin heimlich zu denen gekommen, zu Treffpunkten in Leipzig, manchmal auch die zu mir und dann haben wir uns unterhalten. Notizen davon stehen heute in meinen Stasi-Akten, kein Ruhmesblatt.
Aber hat so ein Deckname ein besonderes Gefühl verliehen, oder war Ihnen bei der Stasizuarbeit eher mulmig zumute?
Beides. Das ist bekloppt und schizophren. Man findet es eigentlich auch spannend, IM sein, das war eben auch ein Abenteuerleben. Ich hab auch immer erwartet, wann kommt endlich eine richtige Aufgabe, sowas mit toten Briefkästen um Nachrichten für richtige Agenten zu deponieren. Auch völlig bekloppt! Aber ich muss das bejahen, es war tatsächlich auch Abenteuerlust, denn all dies war aufregender, als die Normalität der Realität. Dass die Aufträge dann vor allem ins Persönliche zielten, das hab ich nicht erwartet. Das fand ich dann grenzwertig.
Denkt man auch, man könnte mit denen Schach spielen?
Ja klar. Man wird zum Spieler. Mit denen. Und mit Anderen.
Ohne Furcht, nur eine Schachfigur der Stasi zu sein?
Nee, man denkt eher, ich bin besser. Wenn Du jünger bist, denkst Du ohnehin, Du kannst die Welt einreißen und nimmst das alles auf die leichte Schulter. Und Du denkst immer - da kommst Du jederzeit irgendwie auch wieder raus. Mein Anstoß zum Aufhören kam dann auch, aber er kam ganz anders als erwartet. Der hatte mit persönlichen Dingen zu tun. Denn das alles war auch eine Chemiefrage. Wenn sie Dir den falschen Führungsoffizier schicken, dann machst Du zu. Und so lief das bei mir, als ich in Karl-Marx-Stadt einen neuen Führungsoffizier zugeteilt bekam. Mit so einem, nee. Der war richtig widerlich und eklig, mit dem ging das gar nicht. Er war zwar jung, aber so ein Funktionärstyp, kein Kumpeltyp mehr. Man musste exakt funktionieren, genau wie er wollte. Da war er bei mir an der falschen Adresse. Da war Schluss. Und ich war irgendwie erleichtert.
Ist denn spätestens im Moment dieses Bruchs die Idee gekommen, gegenüber Kollegen oder besten Freunden einmal zu sagen, auf was Sie sich eingelassen hatten?
Nein. Dazu war ich nicht mutig genug. Dabei waren wir in Schauspielerkreisen sehr wach, was das Stasithema anging, man redete darüber und machte sich Gedanken, wer dazu gehören könnte. Manfred Krug zum Beispiel kam mal durch Zufall in unsere Kantine und zählte zum Spaß ab im Kollegenkreis: "1, 2, 3, 4 , 5 – Du auch! Ja Du gehörst auch dazu". Und alle lachten.
Lachten Sie auch? Was ging Ihnen durch Kopf?
Ohgott. Man fühlt sich dann schon Scheiße.
Drängt das dann nicht doch, wenigstens dem besten Kumpel oder der Freundin zu beichten, ich hab mich da auf was ganz Dummes eingelassen...
Das ist aus meiner Sicht eine Mentalitätsfrage. Ich bin so erzogen worden: wenn Du einmal Vertraulichkeit zugesagt hast, dann sagst Du auch nichts und trägst das mit Dir mit, wie eingekapselt. Wie eine innere Haltung. Da hat mich meine Großmutter sehr geprägt.
Aber wie war das im Herbst 1989 und Winter 1990 während der Friedlichen Revolution. Die Stasidienststellen wurden gestürmt und entmachtet. War das eine Erleichterung für Sie, wäre jetzt nicht eine Möglichkeit gewesen über ihre einstige Verstrickung zu reden??
Sie werden‘s nicht glauben, ich hab immer gedacht, das hat die Stasi alleine gemacht, als Strategie. Das war meine Überzeugung. Um einen Propfen aus dem Unmutskessel rauszunehmen. Und um Macht künftig anders auszuüben. Ich glaubte also, dass diese "Revolution" alles Teil eines inneren Machtkampfs war.
Um die SED zu schützen?
Das weniger. Ich glaube innerhalb der Stasi fanden seinerzeit die heftigeren Machtkämpfe statt. Ich war beispielsweise mit im Deutschen Theater als dort von Schauspielern die große Kundgebung beschlossen wurde, die am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz stattfand. Sie war eigentlich viel früher im Oktober geplant, als die Stimmung noch mehr brodelte. Doch diese Demonstration wurde dann in eine Phase geschoben, in der mehr Luft raus und das Fahrwasser schon ruhiger war und sogar der ehemalige Spionagechef Markus Wolf mit als Redner auftreten konnte. Ich glaube, dass das kein Zufall war.
Weil die Stasi eventuell selber an die Macht wollte, mit Markus Wolf an der Spitze?
Ja, klar, mit dem Vorsatz, wir übernehmen das hier und machen das vertrauenserweckender ein bisschen anders. Natürlich ist das auch Verschwörungstheorie. Aber ich halte das Szenario für sehr plausibel.
Es waren dann vor allem Bürgerrechtler, die der Stasi die Macht nahmen und deren Dienststellen besetzten. Aufarbeitung war fortan kein Tabu mehr. Wäre es nicht spätestens jetzt ein Anlass gewesen, Ihre einstige IM-Tätigkeit Freunden oder Verwandten zu beichten?
Aber für mich persönlich war das abgehakt, beendet und inzwischen auf ganz andere Weise präsent. Wenn‘s am Telefon geknackt hat, hab ich selber gescherzt, "Tag Kollegen, ich weiß, dass Ihr da seid" und das ganze Thema lockerer genommen. Doch als 1990 die ersten Akten über Spitzel auftauchten und Leute ihren Job verloren, da hab ich plötzlich gedacht: "Scheiße, wenn da jetzt irgendwo noch irgendwas liegt". Ich hatte vermutet, dass das meiste vernichtet ist. Aber siehe da, es war nicht so (lacht). Man will das ja eigentlich auch gar nicht mehr an sich heranlassen. Als mir der BILD-Redakteur 2013 Kopien meiner Akten zeigte, hab ich gesagt, "Wissen Sie, was ich spannend finde: Sie graben jetzt nach über 40 Jahren solche Stasiakten aus. Was ist denn mit den viel aktuelleren NSU-Akten, die sind geschreddert und zum Teil unauffindbar. Warum graben sie nicht danach?".
In Ihrer Autobiografie "Klare Ansage" aus dem Jahr 2015 beschreiben Sie, wie die brutalen Polizeieinsätze rund um den 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 gegen Demonstranten ihr Engagement beflügelten. Im Polizeiruf-Drehstab warben Sie für eine Resolution, die sinngemäß ausdrückte, Sie könnten es mit Ihrem "Gewissen nicht vereinbaren, als Leutnant Thomas Grawe den Angehörigen einer Institution zu spielen, die sich – allem Anschein nach – nicht korrekt verhalten hat". Erst wenn alles auf den Tisch käme, könnten Sie auch wieder glaubhaft einen Polizisten spielen. Aber spätestens als Sie nach der Wiedervereinigung für neue Kommissarrollen ins Gespräch kamen, zum Beispiel 2001 für SOKO Leipzig, hätten Sie doch ihr Plädoyer für Aufrichtigkeit selber ernst nehmen können und klar Tisch machen mit der Stasi, damit Ihnen ein gänzlich unbelasteter Neustart möglich wird?
Ja klar. Aber das sagt sich so leicht. Aber [hält lange inne] nein, das wäre damals so nicht möglich gewesen. Es gab auch zehn Jahre nach dem Untergang der DDR und Stasi nur Jagd auf Stasi-Spitzel, nur Hatz. Vor allem, weil es vielen Medien eher um Auflage ging, nicht um Aufklärung. Und bis heute selten um Differenzierung.
Sind denn nach der Enthüllung ehemalige Kollegen zu Ihnen gekommen und haben gefragt. Hast Du was über mich gesagt? Kannst Du mir das alles mal erklären? Und haben welche mit Ihnen gebrochen?
Eigentlich nein. Ich hatte ja zum Glück die Chance, mich auch in BILD dazu zu erklären. Was kam, waren Anrufe und SMS von Kollegen, die mir Mut machten, sinngemäß "Wir wünschen Dir Kraft, dass Du das durchstehst. Es ist doch auch bekloppt, so etwas hochzuziehen nach so vielen Jahren".
Wäre aber jener Journalist nicht auf Ihre Akte gestoßen, hätten Sie das Stasi-Kapitel in Ihrem Leben je thematisiert, vielleicht einmal in Ihren Memoiren?
Das sind so Fälle von "Wenn" und "Hätte". Ehrlich, weiß ich nicht. Andererseits hatte ich schon lange vorher für mich etwas dazu geschrieben, was mir in der Situation sehr geholfen hat. Aber man packt das weg, lässt das liegen, hakt es ab. Sicher im Nachhinein war mein Verschweigen ein Fehler und für Unbeteiligte sicher nicht leicht zu verstehen. Es war und ist eine doppelte Angst. Anfangs macht man mit, aus Angst vor Nachteilen. Am Ende bringt man es nicht fertig, darüber zu reden. Aus der Angst heraus, pauschal verurteilt zu werden.
Was hätte Sie eher öffnen können?
Dass in der Gesellschaft über Einzelfälle geredet wird und hinterfragt wird: wie kam es dazu, was steckt dahinter? Aber ich kann auch jeden Vorwurf verstehen, der sagt, dass ich den richtigen Zeitpunkt verpasst hab und mein Eingeständnis zu spät kommt.
Haben Sie eigentlich am 4. November 1989 in Ostberlin mit demonstriert?
Ja, trotz eines Verbots durch unseren Arbeitgeber, das DDR-Fernsehen, sind ich und meine Frau mitgelaufen. Aber aus Furcht vor einem Eingreifen von Polizei und Stasi hatten wir unsere Tochter nicht mitgenommen. Denn es war ja vollkommen offen, wie dieser Tag verläuft. Auf den Dächern standen schussbereite Einsatzkräfte, aber unten wurden der Volkspolizei Blumen geschenkt. Und es kamen nicht nur Zehntausend, sondern eine halbe Millionen. Ein unglaublicher Tag.
Konnten Sie über solche Spruchbänder schmunzeln, wie "Stasi in die Produktion!"?
Oja. Da konnte ich lachen und hatte gleich einige von denen vor Augen in ihren so typischen Stasiblousons. Richtige Arbeit könnten die mal gut gebrauchen, hab ich gedacht, um wirklich zu begreifen, wie es dem Volk so geht und wie es denkt.
Prägt Sie eigentlich die Erfahrung mit dem MfS auch heute noch?
Ich fürchte ja. Man reagiert oft nicht so spontan, wie man sein könnte. Und brütet: was sage ich wem wann?
Was empfehlen Sie denn Leuten, die ähnliches mit sich rumschleppen. Sollen die sich trauen, das von sich aus zu erzählen?
Ich kann keine Empfehlung geben, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber ich denke, das Thema Stasi wird auch zu hoch gehängt. Man hätte viel stärker die eigentlichen Machtzirkel der DDR beleuchten müssen. Da haben sich Leute das Leben genommen, andere sind tödlich verunglückt, die Reformer hätten werden können. Wurde das eigentliche Machtsystem wirklich aufgeklärt: Die SED mit ihren inneren Machtkämpfen, Anpassungs- und Unterdrückungsmechanismen? Und wie war das bei uns allen mit unserem Schweigen und blindem Gehorsam, der SED zu applaudieren, obwohl sie uns immer wieder wegen "ideologischer Unzuverlässigkeit" abstrafte? Diese Frage muss ich mir auch stellen lassen, warum war ich da eigentlich Mitglied? Warum habe ich mich von den denen maßregeln und blenden lassen? Und vor allem – warum so lange Zeit?
Herr Schmidt-Schaller, haben sie ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Der Journalist Holger Kulick ist seit 2015 Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Sein Themenschwerpunkt ist Diktaturforschung, in diesem Zusammenhang hat er das Stasi-Dossier der bpb erstellt: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/stasi. Bereits 2006 produzierte er in Kooperation von BStU, WDR und bpb die DVD "Feindbilder – Die Fotos und Videos der Stasi". Ab 1983 arbeitete er über Deutsch-deutsches für das ZDF-Magazin "Kennzeichen D", außerdem für ASPEKTE, die Kindernachrichtensendung "logo" und später für das ARD-Magazin Kontraste. Außerdem mehrere Jahre als Korrespondent für SPIEGEL ONLINE sowie als Autor für mehrere Zeitungen, Filmdokumentationen, Fachzeitschriften und Buchprojekte, darunter als Herausgeber für das "Mut-ABC für Zivilcourage", Leipzig 2008 und "Das Buch gegen Nazis", Köln 2010 gemeinsam mit Toralf Staud. Von 2011 bis 2015 arbeitete er in der Internetredaktion der Stasi-Unterlagen-Behörde, davor leitete er fünf Jahre eine Fachwebsite des Magazins "stern" und der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung über Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland.
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