Eine Zeitreise zurück in den Spätherbst des Jahres 1989 der Friedlichen Revolution... Der Versuch, zu retten, was sich retten ließ, zeigte sich seinerzeit besonders deutlich im Kampf um das wichtigste Machtinstrument der SED: die Staatssicherheit. Ihr dichtes Netz von fast einer Viertelmillion hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern war noch immer funktionsfähig, auch wenn eine beträchtliche Zahl von IM inzwischen ihren Dienst aufgekündigt hatte oder einfach nicht mehr zu den Treffen mit ihren Führungsoffizieren erschien. Gregor Gysi warb am Runden Tisch mit Eifer um den Erhalt wenigstens einiger Teile des MfS, und die stille Umwandlung des gefürchteten Ministeriums für Staatssicherheit in ein sogenanntes Amt für Nationale Sicherheit war im vollen Gange. Dass in diesem neuen Amt die alten Offiziere auch künftig arbeiten würden, verstand sich von selbst.
In den Dienststellen, die das MfS in allen Bezirken und Kreisen, teilweise auch in Großbetrieben, besaß, vernichteten die Offiziere auf Befehl und systematisch große Mengen Akten. Das geschah zwar unter strenger Geheimhaltung, den aufmerksamen und zu Recht argwöhnischen Beobachtern draußen entgingen aber nicht die Lkw-Transporte und der Rauch, der aus den Schornsteinen drang. Empörung griff um sich, vor allem die Befürchtung, dass die Verbrechen der Staatssicherheit verschleiert und wichtige Beweise vernichtet werden könnten. Hier und da räumten dies Stasi-Offiziere später ein, so wie Oberstleutnant Werner Müller von der Bezirksverwaltung Neubrandenburg: "Man wusste: Die kommen irgendwann ins Haus. Das sind wahrscheinlich auch die, über die etwas in den Akten steht. Und dann ist es besser, die Akten sind nicht mehr da."
Erste Besetzungen in Rathenow und Erfurt
In der Tat: Sie kamen irgendwann ins Haus. Das DDR-weite Signal dafür ging am Morgen des 4. Dezember 1989 von der Erfurter Gruppe "Frauen für Veränderung" aus. Aus einer kleinen Versammlung vor den Toren des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit, wie die Stasi damals schon hieß, wurde dank ihrer Courage bald eine große Menschenmenge, die sich schließlich Einlass verschaffen konnte. Wenig bekannt ist, dass ein paar Männer und Frauen in der Kreisstadt Rathenow im heutigen Brandenburg noch schneller als die Erfurterinnen waren. Sie hatten nur wenige Minuten früher die MfS-Kreisdienststelle, die SED-Kreisleitung und das Gebäude der Polizei blockiert, um den Abtransport von Unterlagen zu verhindern.
Die Nachricht von der Besetzung der Erfurter Stasi-Dienststelle verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Noch am selben Abend folgten Aktionen in Leipzig, Suhl und Rostock, in den nächsten Tagen und Wochen in Chemnitz, Cottbus, Dresden, Frankfurt (Oder), Gera, Halle, Magdeburg, Neubrandenburg und Potsdam. Nicht zu vergessen die ungezählten Kreisstädte. Die Besetzer leiteten damit – noch völlig ungewiss über den Ausgang und die persönliche Gefahr – den endgültigen Niedergang des wichtigsten Machtinstruments der SED in die Wege. Den Schlusspunkt markierte am 15. Januar 1990 die Besetzung der Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg. Die Fernsehbilder davon gingen um die Welt und erreichten vor allem die Wohnzimmer der DDR. Nun war es für alle sichtbar: Dieser Apparat hatte keine Macht mehr über die Menschen. Die endgültige Auflösung der Stasi-Zentrale unter ziviler Kontrolle begann, das Ende der Staatssicherheit war unumkehrbar geworden.
"Angst, dieses verfluchte Erbe der Staatssicherheit"
Wenige Tage vor dem Ende der DDR kam es zu einer Kontroverse zwischen Parlament und Regierung, bei der sich schließlich die Abgeordneten durchsetzten. Es ging auch hier um das Thema Staatssicherheit. Am 28. September 1990, in der 37. Tagung der Volkskammer – derselben, in der Joachim Gauck seinen Bericht über die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit ablieferte und zum Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt wurde –, stellte mein Fraktionskollege Peter Hildebrandt den Bericht des Überprüfungsausschusses vor. Das Parlament hatte bereits im April als öffentliches Zeichen der Glaubwürdigkeit die Stasi-Überprüfung der Abgeordneten und Regierungsmitglieder beschlossen. Am Ende einer langwierigen und sorgfältigen Einzelfallprüfung wurde festgestellt, dass von den Überprüften 56 Personen als IM geführt worden waren, neun Abgeordnete hatten sich der Überprüfung entzogen. Der Ausschuss empfahl in fünfzehn Fällen die sofortige Niederlegung des Mandats beziehungsweise den Rücktritt vom Amt. Namen wurden nicht genannt. Es folgte eine sehr emotional geführte Auseinandersetzung, in der ich für die Offenlegung warb, nicht ohne ausdrücklich die Namen zweier Fraktionskollegen zu nennen, die als IM geführt worden waren – wir hatten zuvor fraktionsintern und in großer Offenheit darüber diskutiert.
Während ich angesichts einiger meiner Volkskammer-Redebeiträge nachträglich eingestehen muss, mich geirrt zu haben, ist es hier anders. Diese Rede hätte ich auch viele Jahre später, als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, nicht anders gehalten:
"Muss man nicht befürchten, dass auf dem Namen einmal Genannter dauerhaft ein Schatten liegt? Kann dieser Schatten nicht schädlich für das Ansehen der Bürgerbewegungen sein? Geht man nicht erst recht in Wahlkampfzeiten sehr vorsichtig mit derartigen Informationen um? Und schließlich: Weiß man denn, was die Medien daraus machen? – Angst! Schon wieder soll Angst, dieses verfluchte Erbe der Staatssicherheit, unsere Entscheidungen beeinflussen. Wir haben Angst vor dieser Angst, dieser Angst, die uns lähmt und unsicher macht und korrumpierbar machen kann … Oder glaubt hier jemand, dass geflüsterte Namen und unausgesprochener Verdacht weniger schädlich sind als die offene Auseinandersetzung? Nur diese Offenheit, mit der die Volkskammer ein wichtiges Zeichen setzen könnte, macht es möglich, dass sich hierzulande ein Klima entwickeln kann, in dem auch ehemalige Täter über ihre Vergangenheit sprechen und damit einen Neuanfang wagen können … Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion sehr dringend, dafür zu stimmen, dass die Namen der am schwersten Belasteten öffentlich gemacht werden."
Parlamentsdebatte mit abgeschalteten Mikrofonen
Die weitere Debatte verlief turbulent, unterbrochen durch mehrere Beratungspausen und einen Sitzstreik auf dem Fußboden vor dem Präsidium, mit dem wir die Nennung der Namen einforderten. Als diese auch durch Geschäftsordnungstricks nicht mehr aufzuhalten war, beantragte Günter Krause im Namen seiner Fraktion den Ausschluss der Öffentlichkeit, was wiederum dazu führte, dass einige Abgeordnete, solange die Kameras noch liefen, die Zeit für persönliche Erklärungen über ihre Stasi-Kontakte nutzten. Dann wurden Journalisten und Gäste aufgefordert, den Plenarsaal zu verlassen, Kameras und Mikrofone wurden abgeschaltet. Wir Abgeordneten waren unter uns.
Was innerhalb der darauffolgenden geschlossenen Sitzung passierte, ist im Protokoll nicht überliefert. Ich erinnere mich daran, dass der Streit noch heftiger als zuvor fortgesetzt wurde. Günter Krause, dessen Gesicht inzwischen eine grünliche Färbung angenommen hatte, ließ nun alle Beherrschung fahren, schrie herum und versuchte, Wolfgang Ullmann, der die Liste mit den Namen aus seiner Sakkotasche gezogen hatte und sich anschickte, sie zu verlesen, den Zettel zu entreißen. Vergebens. Die Namen wurden bekanntgegeben. Wie nicht anders zu erwarten, war die Liste außerdem längst einigen Medien zugesteckt worden. Es war eine Illusion zu meinen, Stasi-Belastungen von öffentlich bekannten Personen könnten auf Dauer geheim bleiben – das sollte die Zukunft uns noch des Öfteren lehren. Leider galt dies auch für ungerechtfertigte Vorwürfe. Später zeigte sich immer wieder, dass der beste Schutz vor falschen Beschuldigungen Transparenz und Ehrlichkeit waren.
Doch noch war ja nicht einmal sicher, dass die Akten der Staatssicherheit über den Tag der deutschen Einheit hinaus zugänglich bleiben würden. Die Pläne der Regierungen Kohl und de Maizière sahen anders aus, und erst nach einer zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale – auf die ich später noch zurückkomme – und dem heftigen Protest der Abgeordneten war es entschieden: Die Akten würden offen bleiben.
Die nächste Hürde – das Stasi-Unterlagengesetz
Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass es das Stasi-Unterlagen-Gesetz überhaupt gab. Die Öffnung der Akten eines Unterdrückungsapparates – ein bis dahin weltweit einmaliger Vorgang – war von Anfang an umstritten gewesen: "Hexenjagd", "Siegerjustiz", "Racheakte" – kein Szenario war Anfang der neunziger Jahre zu dramatisch, um nicht als Warnung zu taugen. Die Reihe der Bedenkenträger war lang: Die einen sahen die Errungenschaften langjähriger Debatten um den Daten- und Persönlichkeitsschutz in Gefahr, Kanzler Helmut Kohl und Innenminister Wolfgang Schäuble fürchteten, dass der Streit um die Vergangenheit die innere Einheit Deutschlands belasten würde. Manch einer bemühte, wenn auch zumeist hinter vorgehaltener Hand, als Argument die bundesdeutschen Erfahrungen nach 1945. Konrad Adenauer jedenfalls sei schließlich auch gegen die "Naziriecherei" gewesen. "Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat", hatte er mit Bezug auf frühere Nazis im Auswärtigen Amt gesagt. Die meisten von ihnen hätten sich doch schließlich zu guten Demokraten entwickelt.
Es gab noch eine andere Befürchtung: Was würden die Akten des MfS alles über Politiker des Westens zutage fördern? Nein, seitens der Bundesregierung gab es wenig Interesse, die Akten zu öffnen. Und die einstigen Verantwortlichen und Täter im Osten, die ahnten, dass ihre millionenfachen Gemeinheiten und Untaten öffentlich bekannt würden, waren sowieso dagegen. Dass die Stasi-Akten heute trotzdem zugänglich sind, ist, wie im Kapitel zuvor geschildert, vor allem jenen Frauen und Männern zu verdanken, die noch im Winter 1989/90 mutig die Dienststellen des MfS besetzt hatten, um dem Treiben der Staatssicherheit eine Ende zu bereiten und die Vernichtung der Akten zu stoppen. "Freiheit für meine Akte" hatte jemand auf eine Tür gesprüht, und "Die Akten gehören uns!" hieß es auf den Transparenten vor den Stasi-Dienststellen.
Aktensicherung im Einigungsvertrag nicht vorgesehen
Zwei elementare Bedürfnisse begründeten die Forderung nach der Öffnung der Akten: mit ihrer Hilfe herauszufinden, wie die Stasi in das eigene Leben eingegriffen hatte, zu erfahren, wer die Täter waren, und zu verhindern, dass sie unentdeckt neue Ämter übernahmen. Nachdem schon der Runde Tisch die ersatzlose Auflösung der Staatssicherheit durchgesetzt hatte, beschloss die erste frei gewählte Volkskammer der DDR im August 1990 nahezu einstimmig ein "Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS". Umso größer das Unverständnis, als wenige Tage später bekannt wurde, dass dieses Gesetz im Einigungsvertrag nicht verankert war: Die beiden verhandelnden Regierungen waren sich offenbar einig, dass das Thema mit dem Ende der DDR erledigt sein sollte. Die Abgeordneten waren empört, und Innenminister Peter-Michael Diestel erklärte, sich vor dem Mikrofon windend, dass die Vertreter der DDR gegenüber der Bundesrepublik nun mal in der schwächeren Position seien.
Noch am selben Tag, dem 30. August, stimmte die Volkskammer mit überwältigender Mehrheit einer Erklärung zu, die ich im Auftrag meiner Fraktion eingebracht hatte: Die Regierung sollte durchsetzen, dass das Gesetz über die Stasi-Unterlagen im Einigungsvertrag zum fortgeltenden Recht erklärt wurde. Parallel versuchte Joachim Gauck, Abgeordneter von Bündnis 90 und Vorsitzender des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, im Innenministerium in Bonn einen Sinneswandel herbeizuführen.
Erneute Stasibesetzung im September
Die größte Wirkung aber hatte eine Aktion von Aktivisten der Bürgerbewegung: Stephan Konopatzky, Christian Halbrock und ungefähr dreißig weitere Personen, darunter Ingrid Köppe, Bärbel Bohley, Till Böttcher, Hans Schwenke, Frank Ebert, Tom Sello und Reinhard Schult, besetzten am 4. September erneut die Stasi-Zentrale und forderten mit einem Hungerstreik, die Akten auch im vereinten Deutschland zugänglich zu machen. Wolf Biermann beteiligte sich, Kamerateams belagerten den Ort, das Interesse im In- und Ausland war groß, und viele Abgeordnete der Volkskammer solidarisierten sich mit den Besetzern. Vier Wochen vor dem 3. Oktober schien die Zustimmung zum Einigungsvertrag plötzlich nicht mehr sicher zu sein.
Schließlich lenkten die Regierungen ein, und der Einigungsvertrag erhielt eine eilig aufgesetzte Zusatzklausel: Darin wurde zum einen der Bundestag beauftragt, ein Gesetz zu verabschieden, das die Grundsätze des Volkskammergesetzes berücksichtigte, und zum anderen die Bundesregierung, einen noch von der Volkskammer nominierten Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu ernennen. Es war geschafft! Gemeinsam hatten sich die Hungerstreikenden in der Normannenstraße und Abgeordnete der Volkskammer gegen den Willen der Regierungen Kohl und de Maizière durchgesetzt. Die Akten sollten offen bleiben.
Aufarbeitungswille Ost traf auf Rechtsstaat West
Das neue Stasi-Unterlagen-Gesetz war dennoch nicht nur ein Ost-, sondern auch ein Westkind: Aufarbeitungswille Ost traf auf Rechtsstaat West, Aktenöffnung auf Datenschutz, Leidenschaft auf Vorsicht und Verwaltungserfahrung: Die Gegensätze prallten während des Gesetzgebungsverfahrens ziemlich heftig aufeinander, aber in ihrer Verbindung lag das Geheimnis des Erfolges. Ende Dezember 1991 verabschiedete der Bundestag das neue Stasi-Unterlagen-Gesetz, die bis dahin provisorische Behörde des Sonderbeauftragten Gauck arbeitete von da an auf gesetzlicher Grundlage, und am 2. Januar 1992 saßen rund zwei Dutzendprominente Ex-Dissidenten in einem provisorisch hergerichteten Lesesaal der Behörde und lasen unter großer öffentlicher Anteilnahme ihre Akten.
Über eine Million Menschen haben inzwischen gelesen, was die Stasi über sie an Informationen und Einschätzungen zusammengetragen und wie sie in ihr Leben eingegriffen hat. Den einen konnten wir nur eine Karteikarte zeigen, andere saßen an einem Tisch, auf dem sich ein Dutzend Ordner stapelte. Manche haben den Lesesaal erschüttert oder traurig verlassen, manche kopfschüttelnd oder belustigt, manche enttäuscht, weil sie die erhofften Antworten auf quälende Fragen nicht fanden. Wieder andere fühlten sich nach der Lektüre wie von einer großen Last befreit. "Ich habe jahrelang gezögert, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen, weil ich Angst vor bösen Enttäuschungen hatte", erzählte mir eine Frau. "Doch jetzt, nachdem ich meine Akten gelesen habe, weiß ich endlich, dass mich niemand von meinen Leuten verraten hat." Die große Erleichterung war ihr anzusehen, und ich verstand, wie quälend Zweifel und Misstrauen zwischen Menschen sind. Diese Gefühle gibt es zwar immer, auch unabhängig von den politischen Verhältnissen, doch nirgendwo so ausgeprägt wie in Diktaturen.
Das Recht auf die eigene Akte
Am wichtigsten war die Lektüre für diejenigen, die von der Staatssicherheit verfolgt, inhaftiert oder "zersetzt" worden waren. Endlich konnten sie Licht in das Dunkel ihrer Lebensgeschichte bringen, endlich hatten sie Beweise für das ihnen widerfahrene Unrecht. Wie wichtig diese Genugtuung war, habe ich oft in Gesprächen erfahren. Und anders, als von vielen befürchtet, führte die Öffnung der Archive nicht zu Unfrieden und Racheakten. Diejenigen, die die Namen ihrer Verräter und Peiniger erfahren hatten, gingen fast immer besonnen mit ihrem Wissen um.
Die ersten Leser von Stasi-Akten in der am 2. Januar 1990 eröffneten Stasi-Unterlagen-Behörde, darunter der vom MfS verfolgte Schriftsteller Jürgen Fuchs und der 1976 aus der DDR ausgewiesene Liedermacher Wolf Biermann. (© Peter Wensierski)
Die ersten Leser von Stasi-Akten in der am 2. Januar 1990 eröffneten Stasi-Unterlagen-Behörde, darunter der vom MfS verfolgte Schriftsteller Jürgen Fuchs und der 1976 aus der DDR ausgewiesene Liedermacher Wolf Biermann. (© Peter Wensierski)
Neben dem "Recht auf die eigene Akte" war es die Frage nach den Tätern, die die Menschen bewegte. Die meisten waren entschieden dagegen, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter neue Ämter und Mandate eroberten oder unerkannt im öffentlichen Dienst arbeiteten. Das hatte nicht nur moralische Gründe: Wer seine frühere Zusammenarbeit mit der Stasi verheimlichte, war auch erpressbar, und diejenigen, die sein Geheimnis kannten, könnten ihren Vorteil daraus ziehen, etwa wenn es um die Erteilung einer Baugenehmigung oder um eine Beförderung ging. Wenigstens im öffentlichen Dienst waren solche Überprüfungen vom Gesetz erlaubt. In der Privatwirtschaft war das anders. Die Deutsche Bank zum Beispiel hatte mehrere Tausend Mitarbeiter der Staatsbank der DDR übernommen, ohne dass jemand von ihnen überprüft worden wäre. Ähnliches galt für viele andere Unternehmen, aber auch für Anwaltskanzleien, Einrichtungen der Jugendhilfe, privat geführte Schulen, Krankenhäuser oder Heime sowie für Verlage und Redaktionen.
Täter beklagten "mittelalterliche Inquisition"
Doch dort, wo Überprüfungen zulässig waren, waren sie auch umstritten. Insbesondere einige Prominente, die der Zusammenarbeit mit dem MfS bezichtigt worden waren, bemühten sich eifrig, die Beweiskraft der Akten in Zweifel zu ziehen und die Vorwürfe als Versuche darzustellen, unbequeme Stimmen zum Schweigen zu bringen oder eine beliebte ostdeutsche Persönlichkeit zu diffamieren. Das war die Strategie von Manfred Stolpe und Gregor Gysi, aber auch die von Heinrich Fink: Der Theologieprofessor aus Ost-Berlin war 1990 zum Rektor der Humboldt-Universität berufen worden. 1991 tauchten Teile seiner MfS-Akte auf, die zweifelsfrei auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS unter dem Decknamen als IM "Heiner" hinwiesen. Fink wurde 1992 entlassen, klagte dagegen und verlor jeden Prozess, zuletzt 1997 vor dem Bundesgerichtshof. Während meiner Amtszeit, im Jahr 2005, wurden mehrere Hundert weitere Blätter seiner einst zerrissenen Akte rekonstruiert. Fink hatte von 1968 bis Oktober 1989 Spitzelberichte und Beurteilungen verfasst und Geldprämien, Geschenke und Auszeichnungen von der Stasi entgegengenommen. Diese schätzte besonders, dass er von sich aus auf Einzelpersonen aufmerksam gemacht, über seine Studierenden und über Details aus vertraulichen seelsorgerlichen Gesprächen berichtet hatte. Heinrich Fink streitet die Zusammenarbeit bis heute ab und vergleicht die Vorwürfe gegen ihn mit mittelalterlicher Inquisition.
So weit, so schlecht – Inoffizielle Mitarbeiter, die bestreiten, IM gewesen zu sein, gibt es wie Sand am Meer. Das Besondere am Fall Fink war, dass er es zuließ, dass sich junge Menschen, die ihm offenkundig glaubten, sich mit ihm solidarisierten. Es gefiel ihm, wie die Studierenden 1991 zu Tausenden gegen seine Entlassung demonstrierten, Protestveranstaltungen abhielten und "Unsern Heiner nimmt uns keiner" riefen. Wie jene berichten, die nicht zu Finks Unterstützern zählten, herrschte eine fürchterliche Stimmung an der Universität – der kleinen Gruppe der Studierenden, Mitarbeiter und Professoren, die offen gegen Fink auftraten, begegnete man mit Verachtung, Hass und Drohgebärden. Er hat die Studierenden aus meiner Sicht bewusst für sich missbraucht. Und auch wenn die damals Beteiligten die Dinge heute etwas nüchterner sehen mögen: Das Gefühl, dass unter Zuhilfenahme von Stasi-Akten Unrecht geschehen sein könnte, mag viele bis heute nicht ganz verlassen haben. Das gilt auch für andere, die sich damals lautstark mit Fink gemeingemacht hatten: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zum Beispiel sprach vom offenkundigen Versuch, "alle Ansätze einer selbstbestimmten Demokratisierung der Universität zu ersticken und sie insgesamt unglaubwürdig zu machen"
Im Stasi-Archiv heute. Nur wenig erinnert noch an die Unübersichtlichkeit 1989/90. (© Holger Kulick)
Im Stasi-Archiv heute. Nur wenig erinnert noch an die Unübersichtlichkeit 1989/90. (© Holger Kulick)
Der Wunsch, die Täter und Verräter zu benennen, und die Forderung, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, standen seit 1990 gegeneinander und sorgten immer wieder für Streit. Es ist nicht verwunderlich, dass sich der Zorn derer, die die Wahrheit über die Täter fürchteten, zuerst gegen die Stasi-Unterlagen-Behörde richtete. "Nein, die Behörde überprüft niemanden. Wir erteilen nur Auskünfte aus den Akten, und auch nur, wenn diese bei uns beantragt wurden. Wem gekündigt wird und wem nicht, wird dort entschieden, wo die Überprüfung erfolgt." Gefühlte tausend Mal habe ich das erklärt, doch in der Öffentlichkeit hatte sich unverrückbar die Meinung festgesetzt, dass in der Stasi-Unterlagen-Behörde über Schicksale entschieden wird, und zwar nur auf der Grundlage der Akten.
Pauschalisierungen bei IM nicht möglich
Tatsächlich aber sind es die Parlamente, die Rathäuser, die Schulämter oder Universitäten, die bestimmen, ob ihr Personal auf frühere Tätigkeit für die Staatssicherheit überprüft wird oder nicht, wie die Überprüfung erfolgt und wer am Ende bleibt oder gehen muss. Keine leichte Aufgabe für alle Beteiligten, vor allem, wenn sie ihren Auftrag ernst nehmen und erst nach gründlicher Prüfung entscheiden. Ich wurde in all den Jahren nicht müde, dazu zu ermutigen: "Bitte sehen Sie immer genau hin. Kein Fall ist wie der andere, auch wenn auf beiden Akten ‚IM‘ steht. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand vor zwanzig Jahren als Siebzehnjähriger angeworben wurde und nach zwei Jahren ausgestiegen ist, oder ob jemand bis zum Herbst 1989 zahlreiche Berichte über seine Mitmenschen abgeliefert hat." Über eineinhalb Millionen solcher Auskunftsersuchen wurden im Lauf der Jahre bearbeitet. Gelegentlich fiel es mir und meinen Mitarbeitern schwer, IM-Akten mit der gebotenen Neutralität herauszugeben. Manchmal hätte ich auch gern einen Zettel drangeklebt: "ganz kleiner Fisch" oder "bitte die Lebensumstände berücksichtigen" oder "Achtung, ganz schlimmer Finger!". Aber das war – aus guten Gründen – natürlich nicht erlaubt...
Marianne Birthler war von 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit.