Geschichte ohne Masterplan: Der Sturm auf die Stasi 1989/90
Dr. Christian BooßDr. Christian Booß u.a.
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Wissenschaftler streiten. War die Besetzung der Stasizentrale in Berlin am 15. Januar 1990 der etwas verspätete Sieg der Friedlichen Revolution? Oder ein kalkulierter Stasi-Erfolg?
In diesem Beitrag skizziert der Historiker Christian Booß mehrere Handlungsstränge, die am 15. Januar 1990 zu einem Bürgererfolg führten - ohne zentrale Regie. Im daran anschließenden Text entwickelt Interner Link: Klaus Bästlein eine andere Perspektive. Aus seiner Sicht stellte die Stasi noch einmal erfolgreich die Weichen.
Am 15. Januar 1990 stürmten mehrere Tausend Berliner in die alte Zentrale des ehemaligen MfS, das deren Leiter damals zu einem "Verfassungsschutz der DDR" transformieren wollten. Die einst gefürchteten DDR-Geheimpolizisten setzten den Demonstrierenden erstaunlicherweise keinen Widerstand entgegen. Nur wenige Offiziere saßen, meist unbemerkt, in abgedunkelten Büros. Die Volkspolizei, die das Gelände schützen sollte, ließ die aufgebrachten Bürgerinnen und Bürger gewähren. Noch in der Nacht bildete sich ein Bürgerkomitee. Mit diesem Ereignis war das Ende der Staatssicherheit unumkehrbar besiegelt.
Dieser späte Erfolg der Friedlichen Revolution wurde zum Mythos von der Besetzung der Normannenstraße. Was für die Französische Revolution der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 war, sollte für Ostberlin die Besetzung des Ministeriums für Staatssicherheit am 15. Januar 1990 werden.
Doch schon das Pariser Ereignis war anders verlaufen, als die kollektive Phantasie erinnert. Und auch beim Sieg über den alten DDR Überwachungsapparat wurde schon früh gemunkelt, er könnte von den Stasistrategen selbst manipuliert worden sein. Zu leicht ließ sich das schwere Stahltor am Eingang öffnen. Hell beleuchtete Gebäude lockten die Protestierenden an, während weitaus wichtigere Räume unbeachtet im Dunkeln blieben.
Daher wird auch die These vertreten, der 15. Januar sei "eine von der Staatssicherheit selbst inszenierte Aktion zur Legendierung der weiteren Aktenvernichtung gewesen". Mit der Besetzung habe die Stasi radikalere Auflösungspläne, wie sie am Runden Tisch verabschiedet werden sollten, unterlaufen, um hinter den Kulissen, das Heft in der Hand zu behalten. Von daher sei der 15. Januar ein „Erfolg“ für die Stasi gewesen.
Mehrere Handlungsstränge
Doch bis heute konnte kein Masterplan zur Manipulation gefunden werden. Weil es ihn offensichtlich gar nicht gab. Der Fall der Stasi-Zentrale ist das Ergebnis verschiedener Handlungsstränge, in dem mehrere Akteure teilweise unkoordiniert nebeneinander handelten. Die Stasi-Generäle versuchten dabei zweifelsohne zu retten, was zu retten war, mussten aber immer weiter zurückweichen. Das Ergebnis war kein Erfolg, sondern ein Rückzugsgefecht, bei dem die alte Stasi-Riege noch Einfluss ausüben konnte und durch Aktenzerstörungen und Zugeständnisse durchaus Punkte machte. Aber sie holte keinen Sieg.
Die Akteure des 15. Januar
Die Offensive: Für den Nachmittag des 15. Januar 1990 war zu einer Großdemonstration vor den Toren der alten Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg aufgerufen worden. Das Flugblatt des neuen Forums Berlin forderte zu kreativem Protest mit "Fantasie gegen Stasi und Nasi" auf, ebenso wurde geworben, "Kalk und Mauersteine" mitzubringen. Der Gebäudekomplex des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit sollte symbolisch zugemauert werden. Doch der Aufruf wirkte doppeldeutig. Organisatoren der Demonstration, wie Interner Link: Reinhard Schult aus den Reihen der Bürgerrechtsgruppierung Neues Forum, hofften insgeheim, das Gelände besetzen zu können, sofern genügend Demonstranten kämen.
Der strategische Kompromiss: Die Situation in der alten Berliner Stasi-Zentrale ärgerte und beunruhigte viele. Während die Arbeit der Staatssicherheit außerhalb Berlins seit Dezember 1989 weitgehend zum Erliegen gebracht worden war, arbeitete die Zentrale unter der neuen Bezeichnung AfNS weiter. Im Dezember 1989 wurde sogar ein neues Lagezentrum gebildet, um die Regierung mit Berichten versorgen zu können. Diese Situation kritisierten vor allem die regionalen Bürgerkomitees, die in Städten wie Leipzig, Dresden oder Schwerin das Ende der Staatssicherheit überwachten. Manche von ihnen beunruhigte zudem, dass der Demonstrationsaufruf des Neuen Forum zur Eskalation führen könnte. Sie wollten sichern, dass die Revolution friedlich verlief. Sie planten daher, auch die Arbeit in der Stasi-Zentrale Mitte Januar unter Bürgerkontrolle zu beenden. Ihr Modell war eine Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft, wie sie in den Bezirksstädten schon praktiziert wurde.
In der Defensive: Von den politischen Ereignissen getrieben wurde der letzte Regierungschef der DDR, Hans Modrow, der noch der ehemaligen Staatspartei SED angehörte. Modrow war seit Jahresanfang DDR-weit mit Protesten und Streikdrohungen wegen der Stasi-Frage konfrontiert. Selbst im alten Pseudoparlament, der Volkskammer, drohte ihm Mitte Januar der Verlust seiner Gefolgschaft. Um nicht selbst die Macht zu verlieren, gab er bereits am 12. Januar 1990 nach. Die Stasi sollte nicht weiter zum Verfassungsschutz reformiert und vor freien Wahlen kein neuer Geheimdienst gegründet werden.
Die Verhandler: Seit dem 7. Dezember 1989 tagte in Ostberlin nach polnischem Vorbild der Runde Tisch, live vom Fernsehen übertragen. Kräfte der Opposition und Vertreter der alten Macht saßen sich gegenüber, um einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu verhandeln. Schon in seiner ersten Sitzung hatte der Zentrale Runde Tisch die Regierung aufgefordert, das Amt für Nationale Sicherheit aufzulösen und bekundete in den Folgesitzungen seine Unzufriedenheit über den schleppenden Fortgang der Auflösung und Entwaffnung der Stasi. Daraufhin beauftragte am 11. Dezember der Ministerrat den amtierenden Leiter des AfNS, Wolfgang Schwanitz, mit der Auflösung seiner Behörde sowie mit der Benennung eines zuständigen zivilen Beauftragten. Am 14. Dezember 1989 erklärte die Regierung die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit, die bis zum 20. Juni 1990 zu vollziehen war. Die Opposition wollte durch die Verhandlungen am Runden Tisch die Regierung aber auch dazu zwingen, die Strukturen der DDR-Geheimpolizei offenzulegen und die Auflösung zu forcieren. Am 15. Januar vormittags gab die Regierung Modrow nach, legte erstmals Fakten zur Überwachung offen und sagte zu, den Apparat zügig weiter abzubauen.
Die Taktierer: Die einst fast 90.000 Stasi-Mitarbeiter reagierten seit dem Rücktritt des SED-Chefs Erich Honecker und von Stasi-Chef Mielke erstaunlich passiv. Offenkundig wurde versucht, Regierung und Bürgerkomitees hinzuhalten. Es verschwanden weiterhin Akten. Doch es kam es zu keinem ernstzunehmenden Widerstand und auch die für den Ernstfall deponierten Waffen schwiegen. Obwohl ständig auf den „Kampf gegen die Feinde des Sozialismus“ getrimmt und für den Ernstfall als eine Bürgerkriegsarmee hoch gerüstet, wagten es die Stasi-Leute nicht, sich eigenmächtig der Demokratisierungsbewegung entgegenzustellen. Da sie als "Schwert und Schild" der Partei gedient hatten, waren sie orientierungslos, als die Vorherrschaft der SED zusammenbrach und Order zur Gegenwehr ausblieben
Der Geheimdienst ordnete sich der letzten SED-Regierung unter. Sie plante aufgrund des öffentlichen Drucks, den aufgeblähten Apparat abzubauen und zu einem modernisierten Verfassungsschutz und Spionagedienst umzuformen. Nachdem die alte Führungsschicht entlassen war, bemühten sich Führungskräfte der zweiten und dritten Hierarchieebene, durch Reform des Apparates ihre Interessen, so gut es ging, zu wahren: Möglichst viel Personal sollte erhalten, die übrigen sozial abgefedert werden. Die bisherigen "Quellen", gemeint waren Spitzel und Auslandsagenten sollten geschützt werden, auch vor juristischer Verfolgung. Erste Umsetzungen von MfS-Bediensteten zu anderen Behörden im Bereich des Innenministeriums, aber auch Entlassungen, waren bereits in vollem Gang, viele Büros wurden schon nicht mehr genutzt. Auf diese Weise war das MfS Anfang 1990 weitgehend mit sich selbst beschäftigt, Angst ging kaum noch von ihm aus.
Die Kapitulation am Nachmittag: Die Stunden vor der "Besetzung"
Die Bürgerkomitees aus den DDR-Bezirksstädten außerhalb Berlins ergriffen am 15. Januar 1990 die Initiative. Dazu hatten sie sich auf zwei gemeinsamen Treffen am 4. Januar in Leipzig und am 12. Januar in Berlin verabredet. Dort berieten sie am Vorabend des 15. Januars erneut und teilten sich in Gruppen auf:
Am 15. Januar stand das Thema Staatssicherheit auf der Tagesordnung des Zentralen Runden Tischs. Dort sollte eine Gruppe versuchen, ein Rederecht zu erhalten, auch, um auf geplante Besetzung hinzuweisen. Eine andere Gruppe sollte Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft überzeugen, Archive und Einzelobjekte versiegeln zu lassen. Die Vertreter der regionalen Bürgerkomiteevertreter sollten dann versuchen, das Gelände in "Sicherheitspartnerschaft" mit Polizei und Stasi unter zivile Kontrolle zu nehmen.
Tatsächlich gelang es den Vertretern der regionalen Bürgerkomitees am Runden Tisch ihre Pläne zu verkünden. Doch die Mehrzahl der Mitglieder des Runden Tischs verhielt sich erstaunlich passiv. Es kam zu keinem Beschluss, wie mit dieser Forderung umzugehen sein. Es gab keine Handlungsempfehlung für den laufenden Tag.
Vor Ort auf dem Gelände der Stasi-Zentrale bemühten sich indessen Vertreter der regionalen Bürgerkomitees, einen Kompromiss mit der Regierung zu erzielen. Sie trafen sich mit Vertretern der ehemaligen Stasi, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Regierung. Offenbar griff auch das seit Dezember existierende Komitee, das mit staatlicher Hilfe gegründet war, immer stärker in das Geschehen ein. Sein Vorsitzender leitete dann gegen 14.30 Uhr jene Sitzung, auf der man sich auf eine Sicherheitspartnerschaft einigte. Ein Regierungsvertreter erklärte anschließend, er sei angesichts der brisanten Situation "für die Initiative der Bürgerkomitees dankbar".
Wie ging das Tor auf?
Die Stasi und die Regierung Modrow hatten somit am 15. Januar 1990 bereits vor 17 Uhr kapituliert - deutlich vor Beginn der angekündigten Bürger-Demonstration. Allerdings herrschte im Stasi-Komplex eine Art Machtvakuum. Die Stasi-Mitarbeiter waren mittlerweile fast alle nach Hause gegangen, um Demonstranten nicht durch ihre Anwesenheit zu provozieren. Die anwesenden Polizeikräfte waren zu schwach, um sich vielen Bürgern entgegenstellen zu können. Doch die aktuellen Enthüllungen über die Stasi-Machenschaften am Runden Tisch, die am Vormittag im Fernsehen übertragen worden waren, hatten Tausende Berliner bewogen, dem Demonstrationsaufruf zu folgen und sich vor den Toren des alten Stasi-Komplexes zu versammeln. Viele rüttelten an den Toren und skandierten "Macht das Tor auf, macht das Tor auf!".
Die Vertreter der Bürgerkomitees bestanden nur aus einer Handvoll Leuten, ohne Verbindung zu den Organisatoren der Demonstration draußen vor dem Tor. Sie waren in Berlin auch kaum bekannt, so dass sie nicht auf die Demonstranten einwirken konnten. Zweimal versuchten dies vergeblich Konrad Taut aus Leipzig und Interner Link: Pfarrer Martin Montag aus Zella-Mehlis mit Megaphonen. Sie befanden sich als Vertreter der regionalen Bürgerkomitees mit Polizisten direkt im Eingangsbereich. Weil man sie nicht erkannte, wurden sie als "Stasi-Schweine" beschimpft. Als sogar Steine über das Tor flogen, zogen sich die Polizisten zurück. Um zu deeskalieren und mangels ausreichender Polizeikräfte beschlossen die Vertreter der Bürgerkomitees am Tor und die Bewachungsmannschaften der Polizei nichts dagegen zu unternehmen, als in dieser Situation ein (bis heute unbekannter) Demonstrant über das Tor sprang und es von innen entriegelte. Die nachdrängenden Demonstranten öffneten dann von innen ein weiteres Tor, so dass zahlreiche Bürger auf das Gelände strömen konnten.
Die Vorgeschichte
Mit der MfS-Zentrale fiel die letzte Machtbastion des SED-Staates. SED-Generalsekretär Erich Honecker war schon drei Monate zuvor gestürzt worden – am 18. Oktober 1989. Die Mauer, die die Menschen in der DDR eingesperrt hatte, fiel am 9. November. Am 1. Dezember hob die Volkskammer mit überwältigender Mehrheit die in der Verfassung verankerte Führungsrolle der SED auf und ab dem 4. Dezember besetzten Bürger in den Bezirken die Stasi-Dienststellen. Am 7. Dezember tagte erstmals in Ostberlin der Zentrale Runde Tisch von Opposition und Regierung. Regierungschef Hans Modrow jonglierte im Januar ohne berechenbaren Rückhalt und musste gegenüber dem demonstrierenden Volk und der Opposition am Runden Tisch Kompromisse eingehen. Warum es so lange dauerte, bis die MfS-Zentrale in Berlin aufgelöst wurde, hat mehrere Gründe:
Die besondere Berliner Situation
In Ostberlin als Hauptstadt der DDR war die Versorgung besser als in der Provinz. Hier wohnten zahllose Funktionäre und Mitarbeiter aus Ministerien, die staatsloyal waren. Die Opposition war demgegenüber klein, größere Demonstrationen fanden in Ostberlin daher weniger und erst später statt als im unruhigen Süden der DDR. Die Stasi-Führung hatte in dieser Situation in Ostberlin geschickt taktiert. Seit Dezember 1989 löste sie von sich aus ihre Kreisdienststellen in den Stadtbezirken und die Bezirksverwaltung in Berlin Friedrichsfelde auf, die für die Überwachung der Ostberliner zuständig waren. Damit kam sie Forderungen der Bürger zuvor, noch bevor sich ähnlicher Unmut in der Stadt artikulieren konnte, wie in vielen Bezirken. Sogar das erste Berliner Bürgerkomitee wurde zunächst von staatlicher Seite als Kontrollausschuss ins Leben gerufen, um die Bevölkerung zu beschwichtigen.
Dennoch kam es seit Anfang Dezember immer wieder zu kleineren Protestkundgebungen vor den Toren des alten Ministeriums. Die MfS-Oberen federten dies dadurch ab, dass sie Delegationen einluden, um sich vom Rückbau des Stasi-Apparates selbst überzeugen zu können. Während also außerhalb Berlins die Kreis- und Bezirksverwaltungen lahm gelegt waren, hoffte den übrig gebliebenen Stasi-Strategen durch dieses Taktieren einen Teil ihres Apparates sichern zu können.
Die Stasiauflösung in den Bezirken
In der übrigen DDR hatte die Stasi-Auflösung früher und anders begonnen als in Berlin. Bürger registrierten Anfang Dezember beunruhigt, wie das MfS Akten verbrannte oder anders zu vernichten versuchte. Die Stimmung eskalierte, als nahe Rostock ein Lager für Waffenhandel entdeckt worden war, und der mit der Stasi eng verbundene Devisenbeschaffer der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, am Abend des 3. Dezember 1989 in den Westen floh. Im Land bildeten sich mit neuem Elan weitere Bürgerrechtsgruppen, die Bürgerbewegung Neues Forum rief zur "Volkskontrolle" auf. Am Morgen des 4. Dezember gelang es mehreren Bürgergruppen in Erfurt Einlass in die dortige MfS-Bezirksverwaltung zu erlangen, angeführt von einer Interner Link: Gruppe engagierter Frauen. Sie bildeten schließlich ein Bürgerkomitee. Das Erfurter Modell wurde am Abend des 4. bis zum 6. Dezember in weiteren DDR-Bezirksstädten umgesetzt.
Um Spannungen vorzubeugen, gab es seitdem zahlreiche Gesprächskontakte zwischen der Opposition und Vertretern der alten Macht. Auch in Leipzig, wo die immer größer werdenden Montagsdemonstrationen seit Oktober 1989 DDR-weit Maßstäbe setzten.
Dort hatte die Bürgerbewegung Neues Forum befürchtet, dass es am Montag, den 5. Dezember zu Zusammenstößen zwischen Stasi und Bürgern kommen könnte, sollten aufgebrachte Bürger versuchen, in die "Runde Ecke", die Leipziger Stasi-Zentrale, einzudringen. Daher suchten Bürgerrechtler bereits am Abend des 3. und am Morgen des 4. Dezember Kontakte zu reformorientierten SED-Politikern wie Gregor Gysi, Markus Wolf und Hand Modrow. Soweit rekonstruierbar, wurde vereinbart, eine Delegation vor Beginn der Demonstration in die Leipziger Stasi-Zentrale an der "Runden Ecke" einzulassen, um die Demonstranten über die geplante Bürgerkontrolle informieren und beruhigen zu können. Am 4. Dezember 1989 fand gegen Mittag sogar ein Treffen von Bürgerrechtlern mit dem amtierenden Chef des Stasi-Nachfolgeamtes statt. Dort wurde verabredet, dass Bürger die Stasi-Gebäude besichtigen dürfen und keine weiteren Akten mehr vernichtet werden sollen. Mit Sicherheitspartnerschaften, in die Polizei und Staatsanwaltschaft eingebunden wurden, sollte deeskaliert und Gewalt vermieden werden. Manche Regionalchefs des MfS gaben dennoch nur widerstrebend nach. An anderen Orten wiederum, wie z.B. in Cottbus und Berlin wurden Bürgerkomitees sogar durch staatliche Initiative ins Leben gerufen, um besagte Sicherheitspartnerschaften zu organisieren. Auf Kreisebene verlief der Auflösungsprozess besonders rasant. Rund 98 Prozent aller Kreisdiensstellen des MfS waren aufgrund des Bürgerengagements vor Ort Mitte Dezember schon außer Betrieb - die Stasi war kein Machtapparat mehr.
Umstritten ist die These, ob SED-Ministerpräsident Hans Modrow die Stasi bewusst geopfert hat, um ihr die Verantwortung für die SED-Misere in die Schuhe zu schieben. Angeblich habe Modrow gesagt: "Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige". Doch dafür, dass Modrow die Stasi gezielt opferte, gibt es keinen weiteren konkreten Anhaltspunkt. Modrow wollte den Geheimdienst zwar radikal verändern. Zu seiner Idee von einer eigenständigen DDR gehörte aber auch ein eigener Geheimdienst. Allerdings zeigte sich Modrow letztlich bereit, die Stasi Stück für Stück aufzugeben, offenbar in der Hoffnung damit die DDR, seine Regierung oder zumindest die SED retten zu können. Außerdem hoffte er, mit Sicherheitspartnerschaften Teile der Bürgerbewegung in eine Verantwortungsgemeinschaft einzubinden und für eine reformierte DDR zu gewinnen.
Aktenvernichtung und Archivmodelle
Trotz Bürgerkontrollen gelang es dem MfS auch nach den Besetzungen im Dezember weiterhin verfängliche Akten verschwinden zu lassen. Aber es wurde immer schwieriger, dies angesichts der Bürgerproteste unentdeckt zu realisieren. Daher ersann die ehemalige Stasi-Führungsriege Ende 1989 Alternativen.
Dazu gehörte der Vorschlag, Akten mit einem hohen Datenschutz über Jahrzehnte unzugänglich in einem Staatsarchiv zu lagern: "Das gesamte Archivgut […] wird einschließlich der Gebäude und Anlage dem zentralen Staatsarchiv übergeben. Im Interesse des Quellenschutzes sind alle entsprechenden Unterlagen […] langfristig vor unberechtigtem Zugriff zu schützen (in den USA beispielsweise beträgt diese vom Archivar der USA festgelegte Sperrfrist 50 Jahre)".
Ein weiterer Vorschlag lautete: Wenn die Akten schon nicht vernichtet werden könnten, sollten Findmittel, Datenbänke und Karteikarten unzugänglich bleiben, um es schwerer, wenn nicht unmöglich zu machen, schnell etwas Belastendes in den Akten zu finden, das Spannungen auslösen könnte. Schon im Dezember 1989 übersendeten ehemalige MfSler entsprechende Vorschläge an die Regierung: DDR-Regierung und sogar Bundesregierung favorisierten eine Zeitlang ein solches Staatsarchivmodell. Und ein Teil der Bürgerrechtler machte sich die Idee zu eigen, relevante elektronische Datenträger, Karteien und Akten zu zerstören. So forderten Schweriner Vertreter des Neuen Forum im unverkennbaren Stasi-Deutsch: die "sofortige […] Vernichtung der Verzeichnisse sogenannter Patrioten", einem Stasibegriff für Agenten. Laut einem Schweriner Plan sollten in drei Stufen alle "auf konspirativer und illegaler Grundlage erarbeiteten Dossiers über Privatpersonen, Personengruppen, Organisationen, Parteien Institutionen, Betrieben usw." vernichtet werden.
Selbst nach dem 15. Januar 1990 wurden noch sehr große Mengen von Stas-Unterlagen zerstört - teils mit Zustimmung der Bürgerkomitees und des Runden Tisches, teils hinter deren Rücken. Die Bürgerkomitees die aus wenigen Laien bestanden, waren aufgrund ihres mangelnden Vorwissens, aber auch auf Grund ihrer geringen Anzahl überfordert, die Archivierung der Akten effektiv zu kontrollieren:
In der Stasi-Zentrale waren zahlreiche Stasi-Offiziere damit beschäftigt, Akten zu bündeln und abzutransportieren, denen nur einige Handvoll Bürgerkontrolleure gegenüberstand.
Auch nach dem 15. Januar waren z.T. hochrangige Stasivertreter im staatlichen Auflösungsapparat, aber auch als Berater auf dem Stasi-Gelände tätig und konnten Einfluss auf die Geschehnisse nehmen.
Im Februar 1990 wurden mit Zustimmung des Runden Tisches zahlreiche elektronische Dateien und Karteisysteme zerstört.
Weil sich die Auslandspionage HV A selber auflösen durfte, nutze sie dies, um Agentenakten zu vernichten.
Ein großer Teil der Akten der Militäraufklärung wurde unter nicht geklärten Umständen vernichtet.
Mit Zustimmung des Bürgerkomitees vor Ort, wurde im Februar 1990 mit Billigung des BKB sogar die Verkollerungsmaschine in der alten Stasi-Zentrale wieder in Gang gesetzt. Gezielt zerstört wurden mit der Billigung des Bürgerkomitees 50 bis 80 LKW-Ladungen mit Grenzübertrittsdokumenten der HA VI, 100 LKW-Ladungen mit Protokollen von abgehörten Telefonaten bzw. der HA III.
Gänzlich ohne Aufsicht gab jene Diensteinheit ihre Akten ab, die für die Überwachung der Opposition und des Staates zuständig war.
Über das gesamte Ausmaß aller Vernichtungen gehen Schätzungen stark auseinander. Manche behaupten alarmistisch, dass die Hälfte der Akten vernichtet sei, ohne dies belegen zu können. Andere halten die Verluste nicht für substanziell wichtig. Bisherige Einzelbefunde besagen, dass sich in der Berliner MfS Zentrale 47 lfm entleerte Aktendeckel befanden, was 10.000 Personenakten entspräche. Es gibt aber auch die Behauptung, 1990 sei der Abgang von einer halben Million Personendossiers an Hand von Stasi-Statistiken nachzuvollziehen. Andere differenzieren, dass in der Hauptabteilung XX, die den Staat und die Opposition überwachte quantitativ "nur" 11,26%, in der für die Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung XIII dagegen ca. 53% der Dossiers zu Personen fehlen, die Ende 1989 noch als Spitzel genutzt oder geheimpolizeilich bearbeitet wurden. Besonders hoch scheinen die Verluste bei dem Massenschriftgut der Abschriften, Kopien und Zusammenfassungen der Telefon-, Brief- und Funküberwachung, die in die DDR aber auch Richtung Westen wirkte. Hier wurden 78-96% vernichtet.
Einen verlässlichen Überblick über die Vernichtung von Akten in den Bezirken gibt es noch nicht. Doch um die Strukturen der Arbeit der Staatssicherheit prinzipiell aufzuhellen und ihren Einfluss auf den Alltag in der DDR belegen zu können, reichen all die Unterlagen, die gesichert werden konnten, zweifelsohne aus. Dies ist mit Sicherheit der größte Erfolg der Bürgerkomitees.
Allerdings lassen vorhandene Vernichtungsbefehle, -pläne und -protokolle darauf schließen, dass tatsächlich vieles beseitigt werden konnte, was Brisantes beinhaltet hat. Dennoch wog damals mehr, dass nun Bürger den Schlüssel zu einem Geheimdienstmodell in der Hand hielten, aus der sich seit der sowjetischen Oktoberrevolution eine einflussreiche, parteieigene Geheimpolizei herausgebildet hatte - von Wladiwostok bis Havanna, modifiziert auch in Belgrad, Bukarest China und Korea. Die gesicherten Akten waren ein Schatz von historischem Wert.
Dennoch war anfangs umstritten, ob und wie man diese Akten nutzen sollte. Im Vordergrund stand im Winter 1989 noch nicht die Frage nach der historischen Forschung. Damals ging es primär darum, der Krake Stasi den Kopf abzuschlagen, sie zu entmachten, die Überwachung der Bevölkerung zu beenden, Erpressung und Vernichtung von Beweismaterialien zu verhindern. „Genug gespitzelt jetzt!“ lautete ein Graffiti am 15. Januar. Vor allem ging es darum, Gewalt zu vermeiden und die Revolution friedlich zu halten. Die Stasi war, was oft vergessen wird, noch bis zur Jahreswende 1989/90 stark bewaffnet. Als einige Bürgerrechtler forderten, die Akten "unter Bürgerkontrolle" zu stellen, konterten andere, "ich wäre dagegen das jetzt zu machen. Denn da sind so viel persönliche Daten drin […] Diese Auswertung können Sie in 50 Jahren machen, wenn wir unter der Erde sind."
Auch bürgerkriegsähnliche Zustände malte die Stasi als Drohkulisse an die Wand: "Eine unbefugte Einsichtnahme und Offenlegung […] kann zu großen Gefahren für die Gesellschaft […] bis hin zu Mord und Terror" führen, hieß es in einem Stasi-Strategiepapier vom Januar 1990. Auf ungeklärte Weise, wurde diese These von vielen Politikern übernommen, auch solchen, die wie Lothar de Maziere laut Akten selber Stasi-Kontakte gehabt hatten.
Zum entscheidenden Umschwung in der der öffentlichen Meinung kam es erst, als Oppositionspolitiker in Verdacht gerieten, Stasi-Informanten gewesen zu sein. Nur der Einblick in die Akten konnte Klarheit schaffen. Daraus resultierte die Forderung, Neupolitiker auf Stasi-Verstrickungen zu überprüfen, um nicht künftig von Stasi-Spitzeln regiert zu werden. Auch für die Rehabilitierung von politisch Verfolgten und zur Aufdeckung von Stasi-Straftaten wurden die Akten als unerlässlich betrachtet. So kam im Frühjahr 1990 der Begriff "Aufarbeitung" in aller Munde. Eingeschränkt sollten Akten auch für die historische Forschung bereit gestellt werden. Insgesamt blieb die Aktennutzung, wie sie die frei gewählte DDR-Volkskammer im August 1990 beschloss, aber noch sehr restriktiv. Bürger sollten ihre Akten nicht selber einsehen dürfen.
Aktenaufarbeitung beinahe an der Deutschen Einheit gescheitert
Die Stasi-Aktenaufarbeitung wie sie heute existiert, wäre beinahe an der Regierung Helmut Kohls gescheitert. Die damalige Bundesregierung wollte einen Großteil der Stasi-Akten schon nach wenigen Monaten vernichten. Gründe waren einmal der Datenschutz. Zum zweiten befürchteten Politiker im Westen Enthüllungen, weil die Stasi viele Unterredungen abgehört hatte. Zum Dritten drängten Sicherheitskreise auf ein Arrangement mit der ehemaligen MfS-Führung. Es sollte verhindert werden, dass Stasi-Leute zum KGB überliefen, mit ihrem Wissen andere erpressten oder sogar Anschläge verübten. Ob das Gefahrenpotential real so hoch war, ist zweifelhaft. Es waren vor allem ehemalige Stasileute selbst, die solche Ängste schürten. Die Bundesregierung wollte auf jeden Fall die neuen DDR-Regeln zur Stasi-Aktenaufarbeitung zunächst nicht in den Vertrag zur deutschen Einheit übernehmen. Es gab sogar einen Beschluss der altbundesrepublikanischen Innenministerkonferenz, rechtsstaatswidrig entstandene Stasi-Akten sofort zu vernichten. Das hätte nach der Deutschen Einheit zu einem Akten-Kahlschlag geführt.
Doch die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung und viele Medien protestierten gegen diesen Versuch, diese Errungenschaft der Friedlichen Revolution rückgängig zu machen. Wie im Herbst 1989 wurden Unterschriften gesammelt. Aus Städten und Regionen gingen Bürger-Petitionen an die DDR-Regierung, das DDR-Parlament fasste eine Resolution. Und die alte Stasi-Zentrale wurde Anfang September 1990 ein zweites Mal von Bürgerrechtlern besetzt, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Zukunft der Stasiakten zu lenken. „Meine Akte gehört mir!“ lautete nun eine zentrale Forderung der Demonstrierenden. Zahlreiche Künstler unterstützten sie.
Da über diesem Konflikt der Fahrplan zur Deutschen Einheit in Gefahr geriet, kam Bewegung ins Spiel. Hinter den Kulissen verhandelte der Vorsitzende des Volkskammerausschusses für die Stasi-Auflösung in der alten Bundeshauptstadt Bonn mit der Bundesregierung einen Kompromiss. Es war der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck, der sich damit durch sein Verhandlungsgeschick auch persönlich bei der Politik in Bonn Vertrauen erwarb.
Durch einen Zusatz zum Einigungsvertrag, wurde der Gedanke der Aufarbeitung in den Einigungsprozess aufgenommen. Die Akteneinsicht sollte vom Bundestag gesetzlich geregelt, die Akten alle erhalten bleiben. Eine Sonderbehörde sollte schließlich die Akten verwalten. An ihrer Spitze: Joachim Gauck, den die DDR-Volkskammer am 28. September 1990 in ihrer letzten Arbeitssitzung zum "Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR" wählte. Am Tag der Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, wurde er von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl in diesem Amt bestätigt, nun betitelt als "Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes". Die Stasi war damit endgültig Geschichte. Das Ringen um die Form ihrer Aufarbeitung begann.
Das Gesetz zur Aktenöffnung
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz wurde Ende 1991 nach langem Für und Wider beschlossen. Es ermöglichte ab 1992 Opfern den Einblick in ihre Akten, organisiert nach einem rechtsstaatlichen Verfahren, das Datenschutz und Persönlichkeitsrechte in den Mittelpunkt stellt. Dies war eine Konsequenz aus der Bundesdeutschen Datenschutzdebatte. Wenn rechtsstaatswidrig erhobenen Daten aufbewahrt wurden, sollten sie wenigstens Betroffenen zugänglich sein, aber ohne sie gegen Andere, die in Akten auftauchen, instrumentalisieren zu können.
Das Gesetz schaffte außerdem Möglichkeiten, Stasi-Verfolgte zu rehabilitieren und Straftaten gegen die Bevölkerung der DDR zu verfolgen. Mitglieder von Regierungen, Parlamentsabgeordnete aller Ebenen und Angehörige des öffentlichen Dienstes konnten seither auf Stasi-Verstrickungen untersucht werden. Wissenschaft und Presse erhielten Zugang zu Sachakten und Akten von hauptamtlichen Mitarbeitern und Spitzeln.
Den Bundestagsabgeordneten war es vor allem wichtig, den Opfern der SED-Diktatur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese kleine und private Form der Aufarbeitung wurde zur eigentlichen Erfolgsgeschichte des StUG. Anders, als manchmal behauptet, ist diese Akteneinsicht jedoch keine unmittelbare Folge der Friedlichen Revolution. Der Anschub kam aus Ostdeutschland, die juristische Machart aus dem Westen. So gesehen, ist die heute bestehende Akteneinsicht eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte, die auf Bürgerengagement und juristischer Spitzfindigkeit beruht. Beides kam spontan und ohne Masterplan zustande.
Der 15. Januar 1990. Ein Bürgertriumph - oder doch ein Erfolg der Stasi?
Im Gegensatz zu Christian Booß sieht der Berliner Jurist und Historiker Klaus Bästlein die Stasi als treibende Kraft des Geschehens in der Normannenstraße, der die Bürgerrechtler damals auf den Leim gegangen seien. Hier Bästleins Beitrag: Interner Link: Der 15. Januar 1990 - ein Stasi-Erfolg?. Schon vor einigen Jahren hat die bpb Interviews mit mehreren beteiligten Bürgerrechtlern geführt. Hier die Interner Link: Zusammenschnitte aus 2005. Auch Interner Link: SPIEGEL-TV war damals mit einem Reporter vor Ort.
Dr. Christian Booß ist Historiker und Journalist und derzeit Projektkoordinator in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Themen Rechtsanwälte in der späten DDR und die Auflösung des MfS und Entstehung der BStU. Jüngst erschienen ist sein Buch "Im goldenen Käfig" über Rechtsanwälte in der DDR, Vandenhoeck und Ruprecht 2017, und (gemeinsam mit Helmut Müller-Enbergs): Die indiskrete Gesellschaft: Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern, Verlag für Polizeiwissenschaft 2014 und Für die BStU erstellte er eine Wanderausstellung über verschwiegene Maueropfer. Seit September 2016 ist Booß Vorsitzender des Aufarbeitungsvereins "Bürgerkomitee 15. Januar e.V." in Berlin. Sein Text über den 15. Januar 1990 enthält eine Reihe Ergänzungen von Holger Kulick aus der Redaktion der bpb.
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