"Beispiel Karl-Marx-Stadt: Der Einfluss der Stasi in der Provinz" herunterladen als:
Beispiel Karl-Marx-Stadt: Der Einfluss der Stasi in der Provinz
/ 8 Minuten zu lesen
Für die SED war die Stasi das überlebenswichtige "Ohr an der Masse" – insbesondere in den Bezirken. Das MfS sollte Misstände aufklären und "Feindtätigkeit" aufdecken - in bedingungsloser Gefolgschaft zur Regionalführung der Partei.
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezeichnete sich bekanntlich als "Schild und Schwert" der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und war deren wichtigstes Instrument zur Machtsicherung. Mittlerweile ist das Verhältnis beider Organisationen auf politischer Führungsebene gut erforscht.
Zur Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt gehörten 22 untergeordneten Kreisdienststellen. Sie verfügte über ein jährliches Budget von 110 Millionen Mark. Ihre besondere Stellung nahm sie nicht zuletzt aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung des Bezirkes ein. Er zählte mit zwei Millionen Einwohnern (1989) zu den bevölkerungsreichsten Bezirken in der DDR. Während eine Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in der Regel etwa 2.000 Personen beschäftigte, zählte sie in Karl-Marx-Stadt im Jahr 1989 3.684 hauptamtliche und zirka 12.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM).
Der Chef der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt war gleichzeitig Mitglied im Sekretariat der SED-Bezirksleitung – dem obersten politischen Gremium der SED im Bezirk. Das Sekretariat bildete das Machtzentrum im Apparat der SED-Bezirksleitung. In der Regel tagte es einmal wöchentlich und legte die politischen und wirtschaftlichen Leitlinien für den Bezirk fest. Es sollte ebenso als Anleitungsorgan für das MfS dienen, spielte aber eine untergeordnete Rolle.
MfS-Zentrale und regionale SED dirigierten die Stasi im Bezirk
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt hatte die Stasi dennoch gewissermaßen zwei Auftraggeber: die SED und die Berliner MfS-Zentrale. Wessen Anweisungen galt nun höhere Aufmerksamkeit, denen der SED-Bezirksleitung oder denen der MfS-Zentrale? Der militärische Charakter der Institution stärkte die Ausrichtung der täglichen Arbeit an den Befehlen Mielkes. Detaillierte Einblicke in die geheimdienstliche Arbeit waren der SED verwehrt. Nur ausgewählte Personen, wie etwa der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung als Chef der SED im Bezirk, wurden über das Anlegen "operativer Vorgänge" informiert. Dies bedeutet nicht, dass die SED-Funktionäre nicht wussten, welche Mittel und Methoden die Stasi gegen das eigene Volk einsetzte. Bei der Unterdrückung der Opposition war der Parteiführung ein rigoroses Vorgehen nur allzu recht, hier herrschte völliges Einvernehmen zwischen Bezirksleitung und MfS.
Zur Herrschaftssicherung war eine Anleitung seitens der SED oder gar parlamentarische Kontrolle, wie wir es heute kennen, gar nicht notwendig. Mielkes Maßnahmenpläne folgten den Leitlinien der Partei bedingungslos. Die SED legitimierte die perfiden Methoden der Staatssicherheit zur rigorosen Unterdrückung politisch Andersdenkender und gewährte ihrem wichtigsten Herrschaftsapparat dabei einen großen Handlungsspielraum. Dies nutzte die Stasi im Bezirk offenbar ausgeprägter als auf zentraler Ebene.
Die SED entschied über die Politik vor Ort, nicht das MfS. Dennoch: Der sozialistische Alltag hatte regional mehr Einfluss auf die Arbeit der Stasi und das Verhältnis zu seinem Auftraggeber als auf der Führungsebene in Berlin. Der Bezirk war kein Miniaturmodell der Zentrale, hier bedarf es weiterer Forschung.
Straßensperren mit Polizei und Betriebskampfgruppen und Wasserwerfereinsatz in der Innenstadt von Karl-Marx-Stadt am 7. Oktober 1989 (© BStU MfS KMSt Abt XX-2734, S. 2, Bild 12)
"Das Ohr an der Masse"
Die Staatssicherheit sammelte nicht nur Informationen über die "Feindtätigkeit" von Personen, die in irgendeiner Art Kritik am Sozialismus äußerten, sondern registrierte und wirkte ebenso auf alltägliche Probleme der Bevölkerung. Sie hatte mittels Überwachung und Bespitzelung, wie sie selbst behauptete, das "Ohr an der Masse". Wenn sich ein Betrieb aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt direkt an die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit wandte, um die bürokratischen Hürden der SED-Bezirksleitung zu umgehen oder Bürger aufgrund von Wohnraummangel in Dienststellen des MfS vorsprachen, dann war die Stasi spätestens ab diesem Zeitpunkt in die Alltäglichkeiten des sozialistischen Lebens im Bezirk Karl-Marx-Stadt eingebunden.
Wichtig waren dabei die sog. "Parteiinformationen"
Die Zusammenarbeit der Bevölkerung mit dem MfS war ein entscheidender Quell für die Erfassung der Stimmungslage in der Bevölkerung. Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt führte neben den 12.000 IM ebenso offizielle Kontakte, Kontaktpersonen und "gute Menschen" – Personen also, die aus eigenem Antrieb in unterschiedlichster Weise Informationen an die Stasi übermittelten. Deren Anzahl lässt sich gegenwärtig nicht exakt ermitteln. Hier müsste von Fall zu Fall unterschieden werden, was die Zusammenarbeit mit dem MfS charakterisierte und welche Art von Auskünften die Staatssicherheit erhielt. Die Zusammenarbeit als IM war teils freiwillig, teils erzwungen. Die Masse von Informanten im Bezirk führte zu einem erheblichen Informationsaufkommen, das wiederum zu einem gewaltigen administrativen Aufwand. Die Bearbeitung der eingehenden Informationen beanspruchte einen entsprechend großen Mitarbeiterstab. Nur etwa jeder zehnte IM-Bericht aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt fand in der operativen Arbeit des MfS im Durchschnitt Verwendung. Im Jahr 1981 waren von ca. 175.000 IM-Informationen etwa 22.200 "operativ bedeutsam".
1989: Vergebliches Warten auf Anweisungen von oben
Bürgerprotest für Reisefreiheit am 7. Oktober in Plauen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom MfS fotografiert (© BStU, BV KMSt, XX-2733; S.1, Bild 46-t)
Bürgerprotest für Reisefreiheit am 7. Oktober in Plauen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom MfS fotografiert (© BStU, BV KMSt, XX-2733; S.1, Bild 46-t)
Über 40 Jahre sicherte das MfS im Bezirk die uneingeschränkte Herrschaft der Partei. Anlass zur Kritik bot sich kaum. Warum dankte das SED-Regime mit seinem mächtigen Sicherheitsapparat dann aber 1989 nahezu widerstandslos ab? Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt war auf den "Ernstfall" bestens vorbereitet: "Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt ist bereit und in der Lage, die spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen zu realisieren [und] alle gegnerischen Angriffe kompromisslos zu zerschlagen."
(Fast) alle hatten Angst
Ein Augenzeugenbericht aus Karl-Marx-Stadt vom 7. Oktober 1989 schildert, wie verängstigt Menschen damals den Beginn der Friedlichen Revolution erlebten. Von Jörg List.
Nach knapp einem Jahrzehnt lag im Sommer und Herbst für eine kurze Zeit Veränderung in der Luft von Karl-Marx-Stadt bis Berlin. Doch einiges war anders. Ich hatte Angst, wir hatten Angst, (fast) alle hatten Angst. Im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR wurde viel gemunkelt über die Bürgerrechtsbewegung Neues Forum (NF). Ich hatte nichts mit dem NF zu tun –außer zu sympathisieren-, wusste nur, dass der Theater-Direktor eine Resolution des NF im Kino Luxor Palast verlesen wollte. Mit meiner Frau, meinem sechsjährigen Sohn und einem Bekannten fuhr ich mit der Straßenbahn in das Stadtzentrum meiner Heimatstadt Karl-Marx-Stadt. Aus Vorsichtsgründen trennten wir uns. Meine Frau ging auch nicht zu den offiziellen, üblichen Veranstaltungen, sondern in die Buchläden. Der Bekannte und ich näherten uns dem Veranstaltungsort und umliefen erstmal zur Erkundung der Situation. Das was ich sah, gefiel mir nicht. Das hatte ich vorher noch nie bei uns gesehen!
Neben dem Veranstaltungsort waren viele Busse geparkt mit Genossen unserer Kampfgruppen. Viele waren schon angetreten oder in Warteposition – nur worauf? An allen strategischen Punkten waren Volkspolizisten aufmarschiert, so an der Straßenkreuzung, an Einmündungen, gegenüber vom Kino. Und über uns allen kreiste niedrig ein Hubschrauber mit Videokamera. Auf den anliegenden Dächern waren Beobachtungsposten, z.T. auch mit Kameras. Dazu sperrte eine ganze Reihe von Lederol-Männern (so ähnlich wie die Gestapo-Leute in Ledermänteln im 3. Reich), von denen wir wussten: das sind Stasi-Leute, den Veranstaltungsort und den Vorplatz komplett ab. Diese Lederol-Männer standen Arm an Arm nebeneinander, nur in der Mitte ließen sie eine kleine Öffnung, wo man hindurch musste, wenn man hinein wollte, falls man sich überwinden konnte. Ich wollte und konnte, hatte aber ein sehr flaues Gefühl in meiner Magengegend. Wir wahrscheinlich die meisten anderen von uns auch. Also ging ich durch diese Drohkulisse durch und hinein. Auf dem Vorplatz waren ca. 500 bis 900 DDR-Bürger. Auf Grund seiner imposanten Erscheinung (1,90 m, 110 kg, Ex-Leistungssportler) sah ich aus einer Gruppe den Bruder meiner Frau herausragen. Ich schlich mich von hinten an, wahrscheinlich meine spezielle Art mit so einer Lebenssituation um zugehen. Von hinten tippte ich ihm ganz cool auf seine Schulter und sagte in nahezu perfektem DDR-Amtsdeutsch und mit pseudo-polizeilichem Befehlston „Bürger ihren Personal-Ausweis, bitte“. Die 110 durchtrainierten kg meines Schwagers zuckten zusammen, sehr sogar, so als hätte er ein Starkstromkabel berührt. Dann drehte er sich sehr blass, nein kreideweiss, um. Nun habe ich ja schon gesagt, dass dies meine spezielle Art war, in dem Fall wurde ich dadurch gerade ziemlich locker. Aber als ich meinen Schwager so grundtief erschrecken sah, erschrak ich endgültig selbst. Ich dachte sofort, wenn dieser große, kräftige Kerl (er ist auch fast 10 Jahre älter, damit erfahrener) schon solche Angst hat- dann, ja dann wird unsere Situation wohl noch gefährlicher sein…
Ich selbst ließ mir allerdings nicht anmerken, dachte ich jedenfalls. Um mit dieser Situation besser umzugehen, versuchten wir uns locker, aber ziemlich leise zu unterhalten und uns auszutauschen. Jeder von uns kannte die meisten Gruppierungen von vielen Treffen oder Szene-Veranstaltungen. Untereinander konnten wir uns - eingeschränkt - vertrauen. Jeden den wir nicht kannten, oder den andere Gruppierung nicht kannten, ordneten wir zivilen MfS-Leuten zu, da unsere Szene relativ überschaubar war. Immerhin 300.000 Einwohner hatte damals Karl-Marx-Stadt und im weiteren Einzugsgebiet (Landkreis, Erzgebirge) wohnten insgesamt so eine Mio DDR-Bürger. Und nun hatten sich hier weniger als ein Promille an engagierten Karl-Marx-Städtern eingefunden. Weder draußen auf dem Vorplatz, noch drinnen im Kino passierte etwas. Wir pendelten immer abwechselnd zwischen beiden. Im Kino gab es Vorführungen vom Theatertechniker Frieder P.. Dann hat wohl unser Theaterchef eine Erklärung abgegeben, aber wohl die verabschiedete Resolution vom NF nicht verlesen. Da nichts Entscheidendes mehr passiert ist, verblassen hier nach fast 20 Jahren meine Erinnerungen.
Danach zerstreuten wir uns und gingen nach Hause. Ich kam zu Hause sehr enttäuscht, frustriert, resigniert an. Weil ich jetzt wusste, hier in diesem Land, wird sich nie etwas ändern! Wenn sich weniger als 1 von Tausend Bürgern dafür interessieren bzw. sich trauen, dann wird das wohl niemals ausreichen zur Veränderung, dann bleiben wir immer eine Minorität. Aber ich dachte auch bzw. befürchtete, dass die Majorität eben doch zufriedener ist als von mir eingeschätzt. Zu Hause erfuhr ich dann, dass nicht alle von uns sofort nach Hause gegangen sind, sondern als Schweige-Demo zur Zentralhaltestelle gepilgert sind. Diese soll dann mit Polizeigewalt und Wasserwerfern aufgelöst worden sein.
Am Abend trafen wir uns mit Freunden in Aue (Handball-Oberliga, Georg) und ich berichtete im kleinen Kreis über die heutigen Erlebnisse. Und selbst dort unter Freunden, nur ca. 40 km von Kmst. entfernt, war ich mit meinem Denken ein Außenseiter. Meinem Bericht wurde nicht wirklich geglaubt. Und die Bedeutung heruntergespielt. Damit wuchs meine Resignation noch mehr. Und als wir dann in den Nachrichten die Berichte über die Feierlichkeiten in Berlin, die bestellten Demos und die Bilder vom unsäglichen Fackelmarsch „unserer“ FDJ-Jugend mit entsprechender Begleitmusik (wie im 3. Reich)gemeinsam ansahen, da brach in mir eine Welt zusammen. Da spürte ich so stark wie nie vorher und nie hinterher die bleierne Zeit des Sozialismus. Und ich verlor jegliche Hoffnung. An eine Veränderung war aus meiner Sicht überhaupt nicht mehr zu denken. Die bleiernen Jahre hatten mich / uns nun wohl endgültig…
An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass dies eben meine Erfahrungen als Individuum sind. Es wird viele weitere, auch andere geben. Dass es schon ein paar Wochen später ganz anders aussah, ahnte ich damals nicht. Aber das sollte einmal eine der größten, friedlichen, positivsten Veränderung werden, für uns in der ach so kleinen DDR, und eine weltgeschichtliche für uns alle.
Auszug aus einem Romanfragment des Chemnitzer Autors Jörg List (Jg. 1957): „Die wunderbaren Jahre von Karl-Marx-Stadt“, erstveröffentlicht auf www.die-stadt-bin-ich.de.
Der Chemitzer Politikwissenschaftler und Historiker Gunter Gerick hat 2013 in einer ausführlichen Studie auf lokaler Ebene das Verhältnis der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit 1961 bis 1989 untersucht und Befehlsstrukturen und Interdependenzen analysiert. Er lehrt an der Universität Chemnitz.