Der Westen ist vom Volksaufstand in der DDR überrascht. Niemand hatte mit einer solchen Kraft und Zivilcourage gerechnet, niemand hatte diesen Aufstand in der SED-Diktatur für möglich gehalten. Zunächst erscheint im Westen sogar eine Inszenierung der Sowjets glaubhaft. Das Medienecho ist zunächst groß, der RIAS berichtet am 17. Juni 1953 durchgängig, seine Live-Reportagen von der Sektorengrenze zu Ost-Berlin lassen die RIAS-Hörer in West und Ost gewissermaßen direkt am Aufstandsgeschehen teilhaben. Schlagzeilen zum Volksaufstand bestimmen die Tagespresse, zahlreiche Fotos erscheinen, die durch Berichte und Erzählungen der in den Westen geflüchteten Streikführer ergänzt werden.
QuellentextPressestimmen Juni 1953
Der "Mannheimer Morgen" geht am 18. Juni in seinem Morgenkommentar "Der Aufstand in Berlin" auf die Situation nach dem Auffahren der sowjetischen Panzer ein: "In Berlin hat jedenfalls zunächst der sowjetische Militärbefehlshaber die Zügel in die Hand genommen. Mit seinen Machtmitteln kann er alle freiheitlichen Regungen der Menschen im Blut ersticken. Die Menschen können auch angesichts der schußbereiten Panzer und Maschinengewehre wieder nach Hause und an die Arbeit gehen. Sie haben jedoch ein unmißverständliches Zeichen gegeben, wie ihnen wirklich zu Mute ist. Die Folgerungen ziehen können indessen nur die, die es jetzt in der Hand haben, den Aufstand zu ersticken. Sie müssen entscheiden, ob sie nun über das von ihnen eingesetzte Regime in der Zone hinweg ein Gespräch beginnen oder was sonst sie tun wollen. Sie könnten dann Ernst machen mit den Leitsätzen, die in Moskau von berufener Seite für die neue Politik ausgegeben wurden. Danach ist es Sache der Arbeiter in jedem Lande, selbst zu entscheiden, ob sie die sozialistische Revolution für nötig und nützlich halten. Die Arbeiter von Berlin haben dagegen entschieden."
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21. Juni, Ost
Johannes Dieckmann zieht mit "Nun erst recht für Einheit und Frieden!" im "Morgen" aus Berlin ein Fazit des bisher in der DDR geschafften: "Die Grundlinie unserer Arbeit war und ist richtig. Gegen die faschistische Barbarei setzen wir den sozialen Fortschritt. Einen anderen oder gar besseren Weg zur Sicherung seines neuen Lebens kann kein Volk gehen. Und wir kämpfen seit Jahren mit allen unseren Kräften für die Wiederherstellung der nationalen Einheit unseres deutschen Vaterlandes und für die Befreiung der Menschen von der Kriegsangst. Es gibt keine höheren und schöneren Ziele. Wenn jetzt offenbar wurde, daß manche unserer Mitbürger diese hehren Ziele über den Steinen am Wege aus den Augen verloren hatten, so müssen diese Steine des Anstoßes jetzt weggeräumt werden."
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22. Juni, West
"Terror oder Freiheit" heisst die Alternative, die die "Welt" sieht: "Die sowjetrussische Besatzungsmacht wurde durch die Ereignisse der vergangenen Woche vor eine klare, jedermann erkennbare Alternative gestellt. Sie kann die Herrschaft der Panzer und der Bajonette fortsetzen. Es ist dann völlig gleichgültig, wen sie als Strohmänner vor dieses Regime stellt, ob es diese alten Marionetten oder neue Personen, ob sie abgesetzte oder noch im Amt befindliche Funktionäre sind. Keiner dieser Politiker besitzt das Vertrauen der Deutschen der Ostzone, keiner besitzt auch nur einen Funken von Autorität, der ihn zur Übernahme eines Ministeramtes legitimieren würde. Will sie dies aber nicht tun, dann muß sich die sowjetrussische Besatzungsmacht entschließen, freie Wahlen auszuschreiben, um auf diesem Wege der Ostzone eine dem Volkswillen entsprechende Regierung zu geben, die dann auch die "Regierungsgeschäfte" nach dem Willen des Volkes, nach dem Willen des frei gewählten Parlaments und nicht nach den Anweisungen Moskaus zu führen hat. Andere Möglichkeiten bestehen nicht."
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23. Juni, West
Junius von der "Süddeutschen Zeitung" aus München warnt unter der Überschrift "Hinter einer brüchigen Fassade" vor einem Gesichtsverlust der Sowjets: "Kein Zweifel, durch das Ereignis vom 17. Juni wird die Politik des Ostens wie die des Westens einer Probe unterworfen, möglicherweise sogar einer Umbildung. Auf welche Art es Geschichte machen wird hängt von der Sowjetunion ab und davon, inwieweit der Westen ihr gestattet, sich aus den Belastungen durch das SED-Regime ohne Gesichtsverlust zu lösen. Die Versuchung liegt nahe, den Sowjets durch Dramatisierung und übersteigernde Heroisierung des Vorgangs kurzfristig einen Vorteil abzugewinnen. Man sollte dieser Verlockung widerstehen und abwarten, ob Moskau an einer Entspannung liegt. Läßt man Moskau die Möglichkeit, über die SED moralisch zu siegen, so dient man der Entspannung. Nimmt man den Sowjets diese Chance, so wird der Konflikt verschärft. In dem gleichen Maße, in welchem der Westen den Männern im Kreml das Gefühl eingibt, daß ihnen jeder weitere Schritt zur Normalisierung als Schwäche ausgelegt werden wird, muß sich deren Widerstand versteifen. Was aber wäre es jetzt nutze, die Sowjets durch ein Gerede von Stärke oder Schwäche an die Seite eines abgewirtschafteten Regimes in ihrer Zone zu drängen, wider Willen vielleicht und im selben Augenblick, da sie zeigen könnten, ob sie es nicht in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse für richtig halten, die Pferde zu wechseln."
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27. Juni, Ost
"Partei und Regierung halten Wort" befindet das "Neue Deutschland": "Das große zustimmende Echo, das der neue Kurs unserer Regierung überall fand, versetzte die Kriegstreiber in äußerste Unruhe und ließ sie den seit langem geplanten und organisierten "Tag X" am 17. Juni in der Deutschen Demokratischen Republik in Szene setzen. Sie setzten alles auf eine Karte. Mit den verbrecherischsten Mitteln wollten sie die Verwirklichung des neuen Kurses von Partei und Regierung verhindern. Das ist ihnen mißlungen. Aufs Haupt geschlagen, versuchen sie heute Anhänger für die Meinung zu gewinnen, daß die jetzigen Maßnahmen der Regierung ein Ergebnis des 17. Juni seien. Ein vergeblicher Versuch. Den Kalender können selbst sie nicht hinweglügen: der 9. Juni, der Tag der Verkündung des neuen Kurses durch das Politbüro unserer Partei, liegt zu deutlich vor dem 17. Juni! Und was die letzten Beschlüsse der Regierung betrifft, so wurden sie nicht durch den 17. Juni herbeigeführt; denn es war ja gerade Zweck des politischen Umsturzversuches, solche Maßnahmen zu verhindern, die den Spaltern Deutschlands einen mächtigen Schlag versetzen."
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Die in den Kinos ausgestrahlten Wochenschauen zeigen die zwar nur spärlich vorhandenen, aber eindringlichen Filmsequenzen vom Aufstand. Obwohl auf wenige Schauplätze beschränkt, können sie der westdeutschen Bevölkerung die Brisanz und Dramatik dieses Tages zumindest ansatzweise vermitteln. Marion Gräfin Dönhoff vergleicht in der "Zeit" vom 25. Juni 1953 den Volksaufstand in der DDR mit der Französischen Revolution und folgert: "Der 17. Juni wird einst und vielleicht nicht nur in die deutsche Geschichte eingehen als ein großer, ein symbolischer Tag." In Ermangelung von Handlungsoptionen des Westens gewinnt die symbolische Dimension schon bald ein großes Gewicht, das sich bis zum Ende des Kalten Krieges fortsetzt.
Für die Opfer des Volksaufstandes, derer in der DDR nicht gedacht werden darf, findet am 21. Juni 1953 im Bundestag ein Trauerakt statt. Bundespräsident Theodor Heuss erklärt im Gedenken an die Opfer: "Ihr Blut hat den Mörtel mit gefestigt für das neue Haus einer deutschen staatlichen Einheit und Freiheit, das, im Vollzug der Verpflichtung durch das Grundgesetz, zu errichten der Sinn unseres gemeinsamen Auftrages ist."
Zwei Tage später versammeln sich vor dem Schöneberger Rathaus in West-Berlin rund 125.000 Menschen zu einer Trauerfeier. Vor dem Rathaus sind die Särge von sieben Opfern aufgestellt. Einer der Särge ist leer und steht symbolisch für den am 18. Juni 1953 hingerichteten Westberliner Willy Göttling. Es sprechen Bundeskanzler Adenauer, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter. Im ganzen Bundesgebiet und in West-Berlin werden an diesem Tag zwischen 15.00 und 15.05 Uhr Gedenkminuten für die Opfer des 17. Juni 1953 eingelegt.