Schon am Morgen des Externer Link: 15. Juni 1953 herrscht Unruhe auf den Baustellen in der Ostberliner Stalinallee. Die Arbeiter der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain bleiben an diesem Montagmorgen in ihren Baubuden. Sie protestieren gegen die Normerhöhung, die sich bei ihnen als zehnprozentige Lohnsenkung auswirkt. In der vorangegangenen Woche hatten sie das in ihren Lohntüten schmerzlich festgestellt. Auch eine gewerkschaftlich organisierte Dampferfahrt zwei Tage zuvor, bei herrlichem Sonnenschein mit Frauen und Kindern ein Ausflug über den Müggelsee, hatte nicht zur Entspannung, sondern zu Verschärfung des Protestes geführt: Ein Maurerbrigadier war während des Ausflugs auf einen Gartentisch des Lokals "Rübezahl" gestiegen und hatte die Bauarbeiter zum Streik aufgerufen.
Nun streiken die Bauarbeiter tatsächlich am Morgen des 15. Juni und fordern die Zurücknahme der Normerhöhung. Eine entsprechende Resolution wird Ministerpräsident Otto Grotewohl am Abend überbracht.
Auch am Morgen des Externer Link: 16. Juni bleibt es auf der Baustelle still. Die Arbeiter warten auf eine Antwort des Ministerpräsidenten. Stattdessen erklären FDGB-Funktionäre, die Normerhöhung könne nicht zurückgenommen werden.
In der Stalinallee formiert sich um 10.25 Uhr ein Demonstrationszug von etwa 700 Bauarbeitern. "Wir Bauarbeiter fordern die Senkung der Normen" ist auf ihrem Transparent zu lesen. Bauarbeiter anderer Baustellen schließen sich an. Vor dem Haus der Ministerien, dem Sitz der DDR-Regierung, kommt der Zug mit mehreren tausend Demonstranten zum Stehen. Industrieminister Fritz Selbmann stellt sich vor dem Gebäude auf einen Tisch und gibt bekannt, dass die Normerhöhung zurückgenommen sei. Doch er wird kaum gehört. "Wir fordern freie Wahlen", wird Selbmann entgegengehalten. Ein Arbeiter ruft unter Jubel für den 17. Juni zum Generalstreik auf.
Externer Link: Zeitzeugenbericht von Martin Hartung
parteiloser Angestellter im Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen in Berlin, über die Demonstration am 16. Juni.
Quelle: Lange/Roß (Hg.), 17. Juni 1953 - Zeitzeugen berichten, Münster 2004.
Mit diesen politischen Forderungen zieht die Demonstration durch die Ostberliner Innenstadt zurück zur Stalinallee. Unterwegs wird über einen Lautsprecherwagen, den sie erobert haben, verkündet: "Morgen Generalstreik! Treffpunkt: Strausberger Platz, um 7.00 Uhr!" Zahlreiche Berliner, darunter viele Jugendliche, schließen sich den Demonstranten an, auf den Straßen entstehen Diskussionsrunden. Schließlich demonstrieren an diesem Abend 20.000 Menschen an mehreren Orten in der Stadt.
"Nicht einschreiten, totlaufen lassen", gibt Stasi-Chef Wilhelm Zaisser als Befehl aus. Während sich der DDR-Rundfunk in Schweigen hüllt, berichten die Westsender, vor allem der RIAS, ausführlich und verbreiten die Forderungen der Demonstranten. Am Nachmittag hatte eine Arbeiterdelegation das RIAS-Funkhaus aufgesucht, um die Forderungen der Bauarbeiter und den Aufruf zum Generalstreik zu verbreiten. Ohne den Aufruf zum Generalstreik zu erwähnen, sendet der RIAS ab 19.30 Uhr in seinen Nachrichten eine Resolution mit folgenden Forderungen: "1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereits wieder nach den alten Normen; 2. Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; 3. Freie und geheime Wahlen; 4. Keine Maßregelungen von Streikenden und Streiksprechern." Durch diese Rundfunkberichterstattung sowie über Pendler, Dienstreisende, Reichsbahner und auch über Betriebstelefone erfährt die ganze DDR von den Ostberliner Ereignissen.
Externer Link: Der deutsche Programmdirektor des RIAS, Eberhard Schütz, kommentiert am 16. Juni 1953 die Ereignisse in Ost-Berlin
Die SED-Führung rechnet nach der Rücknahme der Normerhöhung mit einer Beruhigung der Situation. Die sowjetische Besatzungsmacht löst in der Nacht trotzdem erhöhte Alarmbereitschaft für ihre Truppen rund um Berlin aus. Was am nächsten Tag passiert, kommt jedoch für SED und Sowjets gänzlich überraschend.
Externer Link: Erklärung des SED-Politbüros zur Normenfrage im DDR-Rundfunk, 16. Juni 1953
Der 17. Juni 1953
Am Morgen des 17. Juni ist es kühl und regnerisch in Berlin. Seit 5.36 Uhr wird insgesamt viermal ein Aufruf des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski an die "Ostberliner Kolleginnen und Kollegen" vom RIAS gesendet. Einen Aufruf zum Generalstreik über den Sender zu verbreiten, haben die westalliierten Stellen in West-Berlin untersagt. Aber Scharnowski fordert die Ostberliner Bevölkerung auf, die Bauarbeiter nicht im Stich zu lassen: "Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei, und sucht Eure Strausberger Plätze überall auf."
Externer Link: Aufruf des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski an die demonstrierenden Arbeiter in Ost-Berlin, RIAS, 17. Juni 1953
Demonstranten am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin. (© Landesarchiv Berlin)
Demonstranten am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin. (© Landesarchiv Berlin)
Seit 6.00 Uhr finden in unzähligen Betrieben Versammlungen statt. Die Normerhöhungen sind nur noch der Anlass von Unzufriedenheit und Protest. Fast überall werden jetzt - wie im Funkwerk Köpenick - politische Forderungen erhoben: 1. Rücktritt der Regierung, 2. freie und geheime Wahlen, 3. für die Einheit Deutschlands. Die Streikbewegung weitet sich auf unzählige Betriebe aus. Neben den Baustellen beteiligen sich auch Großbetriebe, Handwerksbetriebe und Einzelhandelsunternehmen. Aus allen Stadtbezirken sind Demonstrationszüge in Richtung Stalinallee zum vereinbarten Treffpunkt unterwegs. Der RIAS berichtet ab 7.00 Uhr halbstündlich über die anlaufenden Demonstrationen in Berlin. Um 7.45 versucht die Volkspolizei vergeblich, den Strausberger Platz zu räumen. Ihre Kräfte reichen nicht aus. Dass die Sicherheitskräfte eingreifen, ist damit klar. Und auch, dass dieser Tag nicht gewaltfrei ablaufen wird.
17. Juni 1953: Demonstrationszug der Stahlwerker von Hennigsdorf nach Ost-Berlin. (© AdsD der FES, Signatur 6/FOTB001831)
17. Juni 1953: Demonstrationszug der Stahlwerker von Hennigsdorf nach Ost-Berlin. (© AdsD der FES, Signatur 6/FOTB001831)
Die Menschenmassen ziehen zum Haus der Ministerien in die Leipziger Straße, immer neue Demonstrationszüge stoßen hinzu. In der Leipziger Straße, am Brandenburger Tor, am Alexanderplatz – in der ganzen Stadt demonstrieren zwischen ab 8.00 Uhr zehntausende Menschen. Aus dem Berliner Umland stoßen weitere Demonstranten hinzu. Aus Hennigsdorf bewegt sich ein riesiger Demonstrationszug durch West-Berlin ins Ostberliner Stadtzentrum.
Externer Link: Reportage vom Demonstrationszug der Hennigsdorfer Arbeiter am 17. Juni 1953 im RIAS
Während die Hennigsdorfer Arbeiter noch durch den Wedding ziehen, geht es im Ostberliner Stadtzentrum bereits drunter und drüber. An mehreren Orten kommt es zu Ausschreitungen und zu Auseinandersetzungen mit der Volkspolizei sowie zu Schlägereien mit SED-Funktionären. Funkwagen und zivile Fahrzeuge von Volkspolizei und Staatssicherheit werden umgekippt, Gebäude gestürmt und Einrichtungen demoliert, Propaganda-Buden und Zoll-Häuschen an der Sektorengrenze werden angesteckt.
Auf dem Brandenburger Tor (Ost-Berlin) weht am 17. Juni 1953 die Schwarz-Rot-Goldene Fahne. (© Landesarchiv Berlin)
Auf dem Brandenburger Tor (Ost-Berlin) weht am 17. Juni 1953 die Schwarz-Rot-Goldene Fahne. (© Landesarchiv Berlin)
Ab 11.00 Uhr ist der öffentliche Verkehr stillgelegt. Damit soll die schnelle Ankunft unzähliger Demonstrationszüge aus den Außenbezirken unterbunden werden. Um 11.10 Uhr meldet die Westberliner Polizei, um 11.20 Uhr die Ostberliner Volkspolizei, dass Jugendliche die rote Fahne vom Brandenburger Tor entfernt haben. Die Fahne wird vor den Augen russischer Soldaten zerrissen. Begeistert feiert die Menschenmenge die Jugendlichen.
Sowjetische Panzer erreichen gegen 11.30 Uhr am 17. Juni 1953 das Ost-Berliner Stadtzentrum. (© Landesarchiv Berlin)
Sowjetische Panzer erreichen gegen 11.30 Uhr am 17. Juni 1953 das Ost-Berliner Stadtzentrum. (© Landesarchiv Berlin)
Gegen 11.30 Uhr rollen sowjetische Panzer in die Ostberliner Innenstadt. Es ist 11.35 Uhr, als die ersten Tanks in die Wilhelmstraße einbiegen und dort Position beziehen. Dann rücken sie weiter in Richtung Leipziger Straße und Potsdamer Platz vor. Immer wieder knallen Schüsse: Es gibt Tote und Verletzte. Gegen 13.00 Uhr räumen sowjetische Einheiten das Haus der Ministerien, in das mehrere hundert Demonstranten eingedrungen sind, Mobiliar zerstört und Feuer gelegt haben. Die Verhafteten werden direkt den sowjetischen Dienststellen übergeben. Nur noch für kurze Zeit weht die Schwarz-Rot-Goldene Fahne auf dem Brandenburger Tor. Gegen die dort und am Brandenburger Tor versammelten 2.000 bis 3.000 Demonstranten gehen um 14.30 Uhr sowjetische Truppen vor und eröffnen erneut das Feuer. Rufe und Schreie kommen als Antwort zurück: "Iwan raus!" "Domoi! Domoi!" "Iwan nach Hause!" Zahlreiche Demonstranten werden schwerverletzt in Westberliner Krankenhäuser transportiert.