Die SED feiert 1961 die Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie sie die Mauer nannte, als großen Sieg, rühmt die militärische Präzision aller Maßnahmen und verhöhnt die pathetischen Anklagen westlicher Politiker. Und doch ist der 13. August 1961 die größte Niederlage ihrer Geschichte. Sie muss vor der Welt und vor sich selbst eingestehen, dass nur Stacheldraht und Betonmauern ihre eigenen Bürger am Weglaufen hindern kann. Nach einer Phase brutaler Repression beginnt man auch in den Führungszirkeln der SED, über einen Umbau der ineffektiven Wirtschaft nachzudenken. Auch die SED weiß, dass der Systemkonflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus letztlich durch die höhere Arbeitsproduktivität entschieden wird.
NÖSPL
Nach langen Diskussionen unter Wirtschaftsfachleuten wird 1963 das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) entwickelt. Die zentrale Wirtschaftsplanung soll durch eigenverantwortliche Entscheidungen der unteren Ebene ergänzt werden. Die Betriebe sollen Gewinn erwirtschaften, der auch den Betriebsangehörigen zu Gute kommt. Das Ziel besteht darin, sowohl für den Binnenmarkt als auch für den Export Gebrauchsgüter zu schaffen, über deren Erfolg letztlich der Kunde entscheidet. Die Partei erhoffte sich von der Wissenschaft und der modernen Technik Wunderdinge. Auf der Basis des sowjetischen Erdöls sollte die Chemieindustrie formschöne, haltbare und billige Produkte schaffen. Es gab auf diesem Weg durchaus Erfolge. Moderne Haushaltsgeräte, pflegeleichte Kleidung und Fertiggerichte ermöglichen die Berufstätigkeit eines großen Teils der Frauen. Auch Fernsehapparate, elektrische Kühlschränke und Waschmaschinen ziehen in die DDR-Haushalte ein.
Neue Zeiten – alte Hüte
Die Partei setzt auf die Intelligenz – so nannte sich die Schicht der Wissenschaftler und Techniker – und auf die Jugend. Sie fordert neue Ideen und offene Kritik. Filme, Theaterstücke und Bücher sollen diesen Dialog beflügeln. Dadurch gerät die Reformpolitik in Widerspruch zur Herrschaft der Partei und ihrer Ideologie. Der konservative Flügel innerhalb der Führung nimmt 1965 den wachsenden Einfluss westlicher Musik und Kleidung zum Vorwand, die Wirtschaftsreformen zu bremsen. Über Filmemacher und Schriftsteller bricht ein Strafgericht herein, das zu zahlreichen Verboten führt. Dennoch gehen die Erneuerungsbemühungen weiter. Eine Hochschul- und Akademiereform wirbelt die Bildungseinrichtungen durcheinander, viele Ressourcen werden für den Ausbau sozialistischer Stadtzentren ausgegeben und eine neue Verfassung wird am 6. April 1968 per Volksabstimmung beschlossen.
Der Prager Frühling
Parallel zu den Entwicklungen in der DDR begann in der Tschechoslowakei ein ähnlicher Erneuerungsprozess. Doch hier gelingt es der Parteiführung nicht, die Geister zu beherrschen, die sie gerufen hatte. Aus der Reform von oben wird eine Freiheitsbewegung, die zunächst Schriftsteller, Filmleute und Wissenschaftler, aber auch Funktionäre der Partei erfasst. Im Januar 1968 wird Alexander Dubček zum Parteichef gewählt. Innerhalb weniger Monate brechen alle Dämme. In allen Medien gibt es offene Diskussionen. Westliche Zeitungen und Filme unterliegen keiner Beschränkung mehr und die Bürger können frei reisen. In der DDR war das alles unvorstellbar. Viele junge Leute reisen ins Nachbarland und genießen dort die Freiheit. Umso heftiger ist der Schock, als am 21. August 1968 die Truppen des östlichen Militärbündnisses – des sogenannten Warschauer Paktes – die Tschechoslowakei überrollen und das hoffnungsvolle Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ beenden. Die Armee der DDR ist entgegen den damaligen offiziellen Verlautbarungen nur indirekt an der Invasion beteiligt, was erst nach der Wende bekannt wird. In oppositionellen Kreisen der DDR, insbesondere unter Intellektuellen, bleiben die Ideen des Prager Frühlings bis 1989 lebendig. Seit Beginn der Perestroika in der Sowjetunion Mitte der achtziger Jahre erhält diese Vorstellung sogar noch neue Nahrung. Viele hoffen damals neuerlich auf einen Demokratischen Sozialismus in der DDR.