Stolz nannte sich die DDR ein „Leseland“ und führte zum Beweis gerne die hohen Auflagen „guter Literatur“ sowie die statistisch festgestellte Leselust der Bürger an. Einer nüchternen Aufrechnung halten solche Behauptungen nicht stand. In der DDR wurden 1989 insgesamt 6.073 Titel veröffentlicht. Das lag etwa im Durchschnitt der vorhergehenden Jahre. In der Bundesrepublik dagegen erschienen 1989 insgesamt 65.680 Titel. Zudem stand dort das gesamte deutsch- und fremdsprachige Buchangebot, einschließlich der DDR-Bücher, jedem Käufer zur Verfügung.
Verhältnis zur Literatur
Dennoch gab es unter der DDR-Bevölkerung ein besonders enges Verhältnis zum Buch. Zum einen lag das am Anspruch der Partei. Die Werktätigen sollten die Höhen der Kultur erstürmen, wie eine Parole der fünfziger Jahre lautete.
In den Anfangsjahren wurde insbesondere die antifaschistische Literatur des Exils gepflegt. Dazu gehörten Schriftsteller, die nach 1945 in die DDR gekommen waren, wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Bertolt Brecht oder Heinrich Mann, der diese Absicht angekündigt hatte, aber vorher in Los Angeles verstarb, aber auch Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger. Alle diese Schriftsteller hatten in der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre hinein einen schweren Stand. Ebenso wichtig war die Rezeption der russischen und sowjetischen Literatur.
Die eigene Literatur, insbesondere soweit sie Themen in der unmittelbaren Gegenwart wählte, war schwierig. Das aus der Sowjetunion übernommene Dogma vom Sozialistischen Realismus war nicht sehr förderlich, zumal niemand genau wusste, wie er aussehen sollte. 1959 wurde auf einer Konferenz in Bitterfeld die Kampagne „Greif zur Feder Kumpel“ eröffnet. Die Schriftsteller sollten in die Betriebe gehen und vom Arbeitsalltag berichten. Doch wenn sie dies taten, gab es Ärger, weil die reale Welt so gar nicht mit der Propagandawelt übereinstimmen wollte.
Zensur
In den Augen der Partei sollte die Literatur eine unmittelbare Produktivkraft sein, die den Weg zu neuen Horizonten öffnet. Das führte zu einer nahezu rührenden Überschätzung der Literatur aber auch zu einer permanenten Gängelung und Disziplinierung. Gerade weil man die Literatur so wichtig nahm, war sie für die Partei ideologisch vermintes Gelände. Die Zensur war streng bis zur Lächerlichkeit.
Das betraf Autoren aus aller Welt, auch aus der Sowjetunion und den Bruderstaaten. Außerdem öffnete sich die Kulturpolitik nur stockend und widerwillig der gesamten Moderne seit Marcel Proust oder Franz Kafka.
Zudem erschloss sich die Welt dem DDR-Bürger vor allem durch Bücher. Wer niemals die Chance hatte, nach Paris oder London zu fahren, griff zu den Romanen von Balzac, Zola oder Dickens. Die Nachfrage war sehr groß. Trotz hoher Auflagen fand nahezu jeder Titel reißenden Absatz, der irgendwie als interessant und lesbar galt. Die Perlen befanden sich grundsätzlich nur unter dem Ladentisch. So gab es im Einzelhandel nicht nur Bückware sondern auch "Bückliteratur" – eine eigene Form der Ehrerbietung gegenüber dem Buch.