Grundlage der Macht der SED war ihr Wahrheitsmonopol, an dem sie unnachgiebig festhielt. Während es in der praktischen Politik taktische Änderungen geben konnte, durfte es ihrer eigenen Aussage zufolge im ideologischen Klassenkampf keine Kompromisse geben. Basis der Parteiideologie waren die Werke der Klassiker Karl Marx, Friedrich Engels und W.I. Lenin, deren Werke kanonisiert wurden. J.W. Stalin verlor 1956 seinen Rang als Klassiker und seine Werke verschwanden 1961 aus der Öffentlichkeit. Die Werke von Marx und Engels wurden vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML) herausgegeben. Ebenso die Werke von W.I. Lenin.
Die Werke der Klassiker waren auf allen Ebenen der Ausbildung immer wieder Gegenstand von Schulungen. Bereits in der Schule wurden sie ausschnittsweise gelesen. Zusätzlich gab es im Rahmen der FDJ das Abzeichen für gutes Wissen, das für eine abgelegte mündliche Prüfung in Gold, Silber und Bronze vergeben wurde. Auf den Universitäten und noch einmal beim Erwerb des Doktortitels wurden Kenntnisse in ML, wie es verkürzt hieß, vermittelt und schriftlich wie mündlich abgefragt. Dabei sollte stets das Wirksamwerden der Thesen der Klassiker in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit hervorgehoben werden. Auch in wissenschaftlichen Publikationen aller Art sollten die Verweise auf die Klassiker wie auf die aktuellen Beschlüsse der Partei richtungsweisend sein.
Marxismus und Realität
Die Schriften von Karl Marx waren keine einfache Lektüre, vor allem betrafen sie die ökonomische Analyse des Kapitalismus und prognostizierten den bevorstehenden Untergang dieser Gesellschaftsformation. Die Aussagen über die künftige Gesellschaft des Sozialismus bzw. Kommunismus dagegen waren recht allgemein. Insofern waren die Werke von Marx und dessen Freund Engels sehr stark interpretationsfähig. Noch mehr trifft das für die Schriften von Lenin zu, die in der Regel sehr zeitgebunden waren, sich also um konkrete Fragen der revolutionären Strategie und Taktik vor 1917 drehten.
Gerade der kanonische Charakter der Schriften aber machte sie insofern angreifbar, als das der Widerspruch zu den späteren Entwicklungen offenbar war. Marx und Engels betonten beispielsweise immer wieder, dass es keine absolute Wahrheit gäbe. Diese aber nahm die Partei für sich in Anspruch. Allein die Frage ob der von Marx als oberster Grundsatz bezeichnete Spruch „De omnibus dubitandum“ (An allem ist zu zweifeln) auch für Beschlüsse der SED gälte, brachte die Funktionäre in Erklärungsnot. Die Widersprüche aber gingen noch tiefer. Für Marx und Engels war der Sozialismus das Reich der Freiheit, das das Reich der Notwendigkeit ablösen würde. Er meinte damit Freiheit von ökonomischen Zwängen, speziell von entfremdeter Arbeit. Den real existierenden Sozialismus – so die seltsam defensive Formel der späten Jahre der SED – aber als Reich der Freiheit zu definieren, bedurfte beträchtlicher dialektischer Verrenkungen. So kam es, dass gerade Kritiker der SED oft und gerne auf die Werke der Klassiker zurückgriffen, um die Realität an dem Anspruch zu messen. Dies tat Robert Havemann in seinen Vorlesungen und Artikeln, Rudolf Bahro in seinem Buch „Die Alternative“, das ihn ins Gefängnis brachte, aber auch viele Schüler und Studenten, die aus den vom IML herausgegeben Editionen die kritischen Stellen heraussuchten, um Staatsbürgerkundelehrer und ML-Dozenten in Verlegenheit zu bringen.