Am 3. Oktober 1990 um null Uhr erklingt vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die dritte Strophe des Deutschlandliedes und ein schwarz-rot-goldenes Fahnentuch steigt langsam empor. Dazu läutet die Freiheitsglocke vom Schöneberger Rathaus und Feuerwerksraketen steigen in den nächtlichen Himmel über Berlin. Innerhalb eines Jahres haben die Menschen der DDR Freiheit, Demokratie und Vereinigung erkämpft. Die DDR ist Geschichte. Es gibt also genügend Gründe zur Freude, dennoch ist die Stimmung an diesem Abend eher nachdenklich. Es beginnt die Zeit der Rückschau. Waren die vergangenen viereinhalb Jahrzehnte eine verlorene Zeit? War die DDR ein Unrechtsstaat, eine Diktatur und ein sowjetischer Satellitenstaat? Ist mit der DDR auch eine große Utopie gescheitert, für die es sich zu kämpfen gelohnt hat? Hatte die Gesellschaft auch gute Seiten? Gab es dort auch Lebensglück und Erfüllung? Um diese Fragen drehen sich seitdem alle Debatten über die DDR und es wird niemals eine endgültige Antwort geben. Doch einige Grundtatsachen können bei der Diskussion hilfreich sein.
Die DDR als Teil der politischen Ordnung Europas
Die DDR war ein Kind des Kalten Krieges. Seit 1947/48 ging die Front dieser Systemauseinandersetzung – wie man in der DDR sagte – mitten durch Deutschland und dessen Hauptstadt Berlin. Auf der einen Seite stand die Sowjetunion, auf der anderen das westliche Bündnis mit den USA als Führungsmacht. Es handelte sich aber keineswegs nur um den Konflikt zweier Großmächte, wie ihn die Welt schon oft gesehen hatte sondern um einen Kampf der Ideologien, der mit allen Mitteln der Propaganda geführt wurde. Beide Seiten unterstellten einander Kriegsabsichten, Expansionsgelüste und Unterwanderungsabsichten. Sie bestritten die historische Legitimität der Gegenseite und sagten deren baldigen Untergang voraus. Trotz aller Bekenntnisse zur Friedlichen Koexistenz ging die marxistische Ideologie vom weltweiten Sieg des Sozialismus aus und die westliche Seite erwartete den Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Je eisiger der Wind des Kalten Krieges wehte, desto sicherer war die Existenz des ostdeutschen Separatstaates. Es hat in der Epoche des Kalten Krieges weltweit militärische Konflikte gegeben, in Korea, Vietnam, im Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika. Oft sprach man von Stellvertreterkriegen. in Deutschland standen sich amerikanische und sowjetische Soldaten im buchstäblichen Sinne Auge in Auge gegenüber. Deswegen waren hier die Konflikte besonders gefährlich, aber deswegen war Deutschland auch eine Art Experimentierfeld der Entspannungspolitik. Das Berlinabkommen im Jahr 1971 bewies die Möglichkeit einer Einigung und eröffnete den Weg zum Grundlagenvertrag des Jahres 1972 zwischen der DDR und der Bundesrepublik. So ist es auch kein Zufall, dass der Fall der Mauer in Berlin das symbolische Ende des Kalten Krieges werden sollte.
Deutsche Vergangenheit und deutsche Nation
Die DDR bezog ihre Legitimation aus der Geschichte. Sie sah ihre Wurzeln im antifaschistischen Kampf der Arbeiterklasse, die im Bruderbund mit der Sowjetunion die 1945 Herrschaft der Konzernherren und reaktionären Junker beendet hatte. Dieses Konstrukt machte es der SED möglich, jenen Teil der Bevölkerung zu integrieren, der bereit war, sich ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Schuld am Nazismus und am Krieg waren nicht die einzelnen Personen, sofern sie einfache Arbeiter oder Bauern gewesen waren, sondern die herrschenden Kreise des Monopolkapitals. Genau jener sozialen Schicht also, die im Westen unter einem demokratischen Mäntelchen ihrer Macht restauriert hatte. Die Bundesrepublik wurde als "klerikal-faschistisch" oder "neonazistisch" bezeichnet. Insofern war auch der Vorwurf, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sei ein "faschistischer Putsch" gewesen, zwar sachlich abwegig, im Sinne der SED-Ideologie aber in sich logisch. Ähnlich sah es mit der Bezeichnung "antifaschistischer Schutzwall" für die am 13. August 1961 errichtete Mauer aus.
Die Propagandatöne wurden im Laufe der siebziger Jahre zwar gemäßigter, doch grundsätzlich ist die SED von diesem Denkmuster nie abgerückt. Dafür setze sich seit 1973 eine strikte Abgrenzungspolitik durch. Die DDR definierte sich eigene Nation, die mit der imperialistischen BRD auch historisch und kulturell nichts mehr zu haben wollte. Die Nationalhymne von 1949 wurde klammheimlich aus dem Verkehr gezogen, viele Bezeichnungen, die das Wort Deutschland oder deutsch enthielten, wurden geändert. Lediglich die Staatsbezeichnung DDR und die Namen der Parteien (SED usw.) blieben erhalten, was bereits das ganze Dilemma zeigte. Der Gedanke der eigenständigen Nation war insofern eine reine Kopfgeburt der Parteiideologen, die keinerlei Wurzeln schlug, wie die Ereignisse von 1989/90 zeigten, als eine große Mehrheit der DDR-Bevölkerung die Wiedervereinigung erstrebte und durchsetzte.
Wirtschaft
Die Grundidee des Sozialismus war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Sie sollten dem Volke gehören, also dem Staat. Dieser organisiert im Dienste der Gemeinschaft die Produktion und die Verteilung der Güter. Am Anfang des vom Staate verwalteten Volkseigentums standen in Sowjetischen Besatzungszone die Enteignungen von angeblichen oder tatsächlichen Nazi- und Kriegsverbrechern. Wer Nazi war, entschied die Besatzungsmacht und sie fasste den Rahmen sehr weit. Teilweise arbeiteten die Betriebe direkt für die Sowjetunion, teilweise wurden sie den deutschen Wirtschaftsbehörden übergeben. Mit der Gründung der DDR setze für die Jahre 1949 bis 1951 ein Zweijahresplan ein. Nach sowjetischem Vorbild stand die Entwicklung der Schwerindustrie im Vordergrund. Stahlwerke wurden aus dem Boden gestampft, wie in Stalinstadt, dem späteren Eisenhüttenstadt. Doch waren diese Riesenwerke teilweise unwirtschaftlich. In großem Umfang wurde Braunkohle abgebaut und damit die Kraftwerke betrieben. Seit 1959 wurde auf die Veredelung von sowjetischem Erdöl gesetzt. Die Reformpolitik der frühen sechziger Jahre setzte auf weniger Plan und mehr Eigenverantwortung. Produkte sollten sich auf dem Markt behaupten, also auch miteinander konkurrieren. Das "neue ökonomische System der Planung und Leitung" (NÖSPL) aber passte nicht zu den starren politischen Strukturen der Parteiherrschaft. Mit dem Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honecker wurden die überstürzten Wirtschaftsreformen abgebrochen. Die Führung setzte wieder auf strenge Zentralisierung. Mit Erich Honecker begann eine Politik der nicht ausreichend gegenfinanzierten Sozialleistungen. Während das Bruttosozialprodukt stagnierte wurden die Ausgaben ständig erhöht, Gleichzeitig verteuerten sich die Rohstoffpreise und die Sowjetunion ließ sich ihr Erdöl mit Weltmarktpreisen bezahlen. Die DDR geriet in eine Spirale kaum noch bezahlbarer Auslandsschulden. 1983 sprang der Klassenfeind ein und gewährte einen Milliardenkredit. Doch in größerem Umfang konnten nur durch Exporte Devisen erwirtschaftet werden.
Doch der ökonomische Verfall war nicht mehr aufzuhalten. Als im Oktober 1989 eine neue SED-Führung den Kassensturz machte, sagten die Fachleute, eine Rettung der DDR sei nur auf Kosten des Lebensstandards möglich. Preissteigerungen durch Aufgabe von Subventionen, reale Mieten, Abbau von Sozialleistungen und anderes wären nötig gewesen. Das hätte 1989 zu einer sozialen Explosion mit nicht absehbaren Folgen geführt.
Diktatur und Unrechtsstaat
Der Begriff der SED-Diktatur klingt sehr hart und viele Menschen, die in der DDR gelebt haben, wehren sich dagegen. Dabei wird vergessen, dass die SED selbst in Anlehnung an Karl Marx den sozialistischen Staat als Diktatur bezeichnet hat, nämlich als Diktatur des Proletariats. Das Modell der Demokratie als Mehrheitsentscheidung wurde ausdrücklich abgelehnt. Nicht bei der numerischen Mehrheit sondern bei der Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse läge das Recht, Entscheidungen zu treffen. Die Legitimität der Herrschaft ergäbe sich aus der historischen Mission der Arbeiterklasse, also aus der Gesetzmäßigkeit der Geschichte.
Trotzdem fanden in regelmäßigen Abständen Wahlen statt. Die Mitglieder der Gemeindevertretungen, der Kreis- und Bezirkstage sowie der Volkskammer wurden wurden in einem Wahlakt bestimmt, der formal den Abstimmungen in demokratischen Systemen entsprach. Der Unterschied war nur, dass das Ergebnis der Wahl vorher festgelegt war. Faktisch waren keine Gegenstimmen möglich. Zudem wurden bei den sogenannten Volkswahlen Gremien gewählt, die ohnehin wenig zu sagen hatten. So kam es, dass bei allen Wahlen seit 1950 Ergebnisse von etwa 99 Prozent Zustimmung erzielt wurden. Wenn es für die Traumergebnisse nicht ganz reichte, wurde etwas nachgeholfen.
Doch nicht wegen einzelner Rechtsverletzungen ist es angemessen, von einem Unrechtsstaat zu sprechen, sondern wegen des grundsätzlichen Fehlens einklagbarer Rechte. Natürlich heißt das nicht, dass jegliche Rechtsvorgänge, der in der DDR vollzogen wurden, wie Eheschließungen, Erbschaften, Kaufverträge, unrechtmäßig gewesen wären, wie es gelegentlich bewusst missverstanden wurde. Rechtsstaatlichkeit aber heißt, dass kodifizierte Rechte für alle, auch für die Staatsmacht, gelten. Davon konnte in der DDR keine Rede sein.
Rückzug ins Private
Mit Beginn der achtziger Jahre setzte sich in der DDR eine neue Form der Herrschaftsausübung durch, die es in Ansätzen freilich schon früher gegeben hat. Die SED-Führung akzeptierte die Konsumwünsche der Bevölkerung und sorgte sich um ihr soziales Wohlergehen. Mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Stabilität verteilte sie nicht ausreichend finanzierte Sozialgeschenke. Die dadurch wachsenden Versorgungsprobleme hatten eine zwiespältige Wirkung. Auf der einen Seite "meckerten" die Leute ständig, auf der anderen Seite waren sie rund um die Uhr beschäftig, die Probleme des Alltags zu bewältigen. Viele Menschen waren auf Wohnungssuche und saßen jeden Dienstag beim Wohnungsamt oder versuchten bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) Handwerksleistungen zu erlangen. Andere waren auf der Jagd nach Ersatzteilen für ihr Auto oder mit dem Ausbau ihrer Datsche beschäftigt. Denn auch Baumaterial gab es nur unter größten Schwierigkeiten. Es entwickelte sich eine Beziehungs- und Tauschwirtschaft, die ihre eigenen Gesetze hatte. Nun war nicht mehr die Stellung in der Hierarchie des Staates ausschlaggebend, sondern der Zugang zu seltenen Waren und Dienstleistungen. Wer aus dem Betrieb etwas mitgehen lassen konnte, war glücklich. Wer einen Betonmischer auf der Laube hatte oder gar Gerüstteile konnte mit diesem Pfund wuchern. Handwerker waren die kleinen Könige des grauen Marktes und zahlungskräftige Westverwandte Gold wert. Da es fast nichts auf legalem Weg zu kaufen gab, zog die Westmark als heimliche Zweitwährung ein. Diese Zustände hatten kurzfristig eine gewisse stabilisierende Funktion, langfristig aber untergruben sie die ideologischen und ökonomischen Grundlagen des Systems.