Die Orte der nichtoffiziellen Ausstellungskultur – ob in Wohnungen, Ateliers oder auch staatlichen Galerien und Institutionen – waren stets auch Orte der literarischen Kommunikation, der Zusammenarbeit von Autoren mit Malern und Grafikern und nicht zuletzt Stätten literarischer Innovation. Lesungen zur Eröffnung von Ausstellungen dienten sowohl der Vorstellung neuer Namen und Arbeiten als auch dem Testen von ästhetischen Neuansätzen.
Den Autoren garantierten sie ein gewisses Maß an Öffentlichkeit, denn ein Großteil der zwischen 1950 und Anfang der 1960er Jahre geborenen Generation sah sich Anfang der 1980er Jahre aus dem Literaturbetrieb der DDR ausgeschlossen. Während Schriftsteller wie Adolf Endler, Wolfgang Hilbig, Gert Neumann oder Monika Maron im Westen veröffentlichen konnten, bestanden für jüngere Autoren kaum Chancen zu publizieren. Ein engagierter Versuch Franz Fühmanns, auf die Situation jüngerer Autoren mit Hilfe einer für die Akademie der Künste erarbeiteten Sammlung aufmerksam zu machen, scheiterte im Herbst 1981. Die sogenannte Akademie-Anthologie wurde verboten. Autoren, die nicht über bereits bestehende Vertragsbindungen zu Verlagen, Zeitschriften, Rundfunk oder das Fernsehen verfügten, wurden zunehmend kriminalisiert.
Mikado – Autoren und Maler gründen eine Zeitschrift
Der Maler Hans Scheib begann im Herbst 1980 damit, Ausstellungen in seinem
Uwe Kolbe, dessen 1979 erschienener Gedichtband "hineingeboren“ der ganzen Generation den Namen gab, hatte um 1980 in Berlin eine Sammlung literarischer Texte unter dem Titel "Laternenmann“ publiziert. Daraufhin schlug ihm Hans Scheib das Projekt einer gemeinsamen Zeitschrift vor, in der Texte von Autoren, die bis dahin nur im Westen erscheinen konnten, nun auch im Osten präsent gemacht werden sollten. Dafür würde der Freundeskreis um Hans Scheib die notwendigen technischen Voraussetzungen wie den Druck und die Herstellung der Umschläge zur Verfügung stellen. Es war die Geburtsstunde der literarischen Zeitschrift "Mikado“, die von Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner von 1983 bis 1986 herausgegeben wurde, versehen mit Umschlägen und einem Signet mit dem chinesischem Schriftzeichen von "Mikado“ (dt. Kaiser) Hans Scheibs. "Wir wollten“, so hieß es rückblickend, "keine Sammlung der literarischen Opposition, wir wollten einfach eine andere Öffentlichkeit.“
Handelte es sich um größere Ausstellungsprojekte, fanden diese zeitgleich im Atelier von Hans Scheib in der Raumerstraße und von Ursula Scheib in der Sredzkistraße 64 statt. Anfang Dezember 1981 waren hier Bert Papenfuß und seine Band zu Gast. Im März 1986 plante Volker Henze aus Anlass der Herausgabe der zehnten Nummer der nichtoffiziellen Zeitschrift "Schaden“
Auch Möglichkeiten des politischen Protests von Autoren und bildenden Künstlern wurden im Atelier von Hans Scheib besprochen. So wollten die Beteiligten im Juli 1984 ein Zeichen gegen die drohende Sprengung der Gasometer an der Dimitroffstraße (heute Danziger Straße) setzen. Die Gasometer des Anfang der 1980er Jahre stillgelegten Gaswerkes waren dem Prenzlauer Berg fast ein Jahrhundert lang weithin sichtbare Wahrzeichen gewesen. In Vorbereitung der 750-Jahrfeier Berlins 1987 wurde an ihrer Stelle die Errichtung eines Wohnviertels, des späteren Thälmann-Parks, geplant. Der Aufruf, sich am Tag der Sprengung zu einer Kundgebung zusammenzufinden, traf zur Verwunderung der Initiatoren kaum auf Resonanz. Zum vereinbarten Termin erschienen nur Hans Scheib und Uwe Kolbe; Bernd Wagner war von der Polizei vorbeugend in Gewahrsam genommen worden. Als Reaktion auf die Gasometer-Sprengung erklärte Hans Scheib seinen Austritt aus dem Verband Bildender Künstler.
Zersammlung – Ein unabhängiger Künstlerverband von Malern und Autoren
Zu Beginn des Jahres 1984 machten Bernd Wagner und Uwe Kolbe mit einer Initiative zur Gründung eines unabhängigen Künstlerverbandes von sich Reden. Eingeladen wurde zu einer mehrtägigen Lese- und Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Zersammlung“, die vom 5. bis 10. März 1984 in einem Atelier in der Lychener Straße 6 im Prenzlauer Berg stattfand.
Der Versuch, sich offensiv mit der Kulturpolitik auseinanderzusetzen, scheiterte auf doppelte Weise: Am 21. März 1984 in das Ministerium für Kultur beordert, wurde Kolbe unter Androhung sofortiger Ausbürgerung ultimativ aufgefordert, weitere Aktionen zu unterlassen, auf die Veröffentlichung des "Offenen Briefes“ zu verzichten und die noch im Umlauf befindlichen Abschriften zu übergeben. Darüber hinaus fand der Aufruf, eine gemeinsame Interessenvertretung zu gründen, bei der Mehrzahl der anwesenden Autoren nur verhaltene Zustimmung. Von der Schaffung eines unabhängigen Künstlerverbandes hatten sich Kolbe und Wagner einen authentischen Austausch von Informationen, Rechtssicherheit, vor allem aber eine breitere Öffentlichkeit versprochen, die von der Gründung einer auflagenstarken, überregionalen Zeitschrift begleitet werden sollte. Bis zu deren Gründung boten Kolbe und Wagner an, "Mikado“ zum Sprachrohr des zu schaffenden Verbands zu machen.
Von der „Zersammlung“ inspiriert, unterbreitete Hans Scheib die Idee zu einem größeren Ausstellungs- und Lesungsprojekt mit dem Arbeitstitel "Pfeiler und Brücken“, das zeitgleich in Ateliers in Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig und Berlin, aber auch in Rostock und Neubrandenburg stattfinden sollte. Von den Korrespondenzen zwischen literarischen Texten und Bildern erhoffte sich Scheib eine stärkere Vernetzung Gleichgesinnter und darüber hinaus Impulse für das künstlerische und politische Engagement. Es sollte aber weder zur Zeitschriftengründung noch zur Formierung eines Künstlerverbandes kommen. Beim dritten Nachfolgetreffen Ende April 1984 war von einem Künstlerbund bereits nicht mehr die Rede. Sascha Anderson schlug stattdessen im Auftrag der Staatssicherheit – das ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand seiner Mitstreiter – vor, demnächst eine Busfahrt in das Erzgebirge zu unternehmen und Fußballspiele zu organisieren.
Für Autoren, die in der DDR nicht veröffentlichen konnten, hatte sich so im Laufe der Jahre eine gut funktionierende literarische Infrastruktur entwickelt, die auch nach der Ausreise wichtiger Akteure stabil blieb. Bei Frank-Wolf Matthies in der Lottumstraße etablierte sich das Grundmodell der sogenannten "Wohnungslesungen“ und literarisch-politischen Diskussionen. Nach Matthies’ Ausreise im Januar 1981 entstanden durch Lesungen bei Gerd und Ulrike Poppe in der Rykestraße und bei Ekkehard Maaß in der Schönfließer Straße literarische Orte, die zu Schnittpunkten zwischen der Literatur-, Kunst- und Oppositionsszene wurden. Ab Mitte der 1980er Jahre kamen Wohnungslesungen bei Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn hinzu, die bis 1989 die Edition "Radix-Blätter“ herausgaben. Große Ausstrahlungskraft entwickelten aber auch Kunst- und Literaturabende im Sprachenkonvikt, der kirchlichen Hochschule in Berlin.
Randlagen
Ausstellungen in Wohnungen, Künstlerwerkstätten und Ateliers gab es nicht nur in Berlin, sondern in nahezu allen Großstädten der DDR. Nicht alle Galerien wurden aber auch zu Orten des literarischen und künstlerischen Austauschs. Zu den wichtigen Zentren der Literatur außerhalb Berlins zählten die Galerie Bahß in Magdeburg, die
Die Magdeburger Wohngalerie von Ingrid und Dietrich Bahß entwickelte sich in den Jahren 1981 bis 1983 zu einem Knotenpunkt der Kunst- und Literaturszenen Berlins, Leipzigs und Erfurts. Hier begegneten sich unter anderen Sascha Anderson, Adolf Endler, Franz Fühmann, Eberhard Häfner, Gabriele Kachold (Stötzer), Uwe Kolbe, Christa Moog, Heiner Müller, Bert Papenfuß, Lutz Rathenow oder Michael Rom. In der Galerie Bahß begann auch die Karriere Rainer Schedlinskis als Dichter und IM der Staatssicherheit, der sich bald darauf in Berlin einen Namen als Autor und Zeitschriftenherausgeber machen sollte.
Die Ausstellungen und Lesungen in der Förstereistraße 2 der Dresdner Neustadt sind als Ausnahmefall zu betrachten: Das sich nach außen hin als "inoffiziell“ darstellende Projekt war eine hundertprozentige Gründung der Staatssicherheit. Ausgestattet mit einer großen 4-Zimmer-Wohnung, begann Sören Naumann, Techniker und organisatorischer Leiter der Jazz-Formation "Dresdner Musikbrigade“ und im Mai 1980 als IM "Michael Müller“ verpflichtet, ab dem Sommer 1982 Ausstellungen und Lesungen zu organisieren. Diese Lesungen füllten eine Lücke im inoffiziellen "Kunstbetrieb“, da jüngere Autoren kaum
noch Zugang zu etablierten Orten des alternativen künstlerischen Lebens wie der
Der „Anschlag“ und die Galerie Eigen+Art in Leipzig
(© Archiv Uta Grundmann (Grafiker unbekannt))
(© Archiv Uta Grundmann (Grafiker unbekannt))
Von den nichtoffiziellen Editionen, die in den 1980er Jahren in Leipzig entstanden,
Im Laufe des Jahres 1986 war in der Galerie neben dem Leipziger "Anschlag“ die Berliner Zeitschrift "Schaden“ ausgelegt worden. Die von Micha Brendel in Dresden herausgegebene Zeitschrift "usw“ konnte ab dem Frühjahr 1987 eingesehen werden, und ab 1988 lagen die in Berlin herausgegebenen Zeitschriften "Liane“ und "Verwendung“ aus. Da sich die Galerie Eigen+Art schnell zu einem Schnittpunkt des
Ausgabe des „Foto-Anschlages“ in der Galerie Eigen+Art, Leipzig, 1988: Bertram Kober, Gerd Harry Lybke, Herausgeber Karim Saab, Christiane Eisler, Tina Bara, Uwe Frauendorf, Karin Wieckhorst, Werner Lieberknecht (v.l.n.r.). (© Ernst Goldberg)
Ausgabe des „Foto-Anschlages“ in der Galerie Eigen+Art, Leipzig, 1988: Bertram Kober, Gerd Harry Lybke, Herausgeber Karim Saab, Christiane Eisler, Tina Bara, Uwe Frauendorf, Karin Wieckhorst, Werner Lieberknecht (v.l.n.r.). (© Ernst Goldberg)
Informationstransfers zwischen Ost und West entwickelte, erreichten die Zeitschriften bald überregionale Aufmerksamkeit.
Eine umfassende Dokumentation der Galeriearbeit mit Interviews der beteiligten Künstler wurde von Karim Saab unter dem Titel "Eigen+Art im Gespräch“ in einem "Anschlag“-Sonderheft 1988 zusammengestellt. Im Juni des darauffolgenden Jahrs gab der "Anschlag“ ein Sonderheft zur Fotografie heraus, das ebenfalls in der Galerie vorgestellt wurde. Im selben Jahr zog Karim Saab das Resümee: "Die Werkstattgalerie ist das Werk einer Generation, die sich nicht länger mit Ideal- und Wunschbildern herumplagt. Ihre Kunst liefert keine pathetischen Gegenentwürfe, sondern lediglich Proben der eigenen Art ...“
Künstlerbücher
Eng verbunden mit den Aktivitäten von Künstlern als Organisatoren von unabhängigen Ausstellungen und der Herausgabe von Zeitschriften war die Herstellung von Künstlerbüchern, Mappenwerken und originalgrafischen Heften. Gab es bei den künstlerisch-literarischen Zeitschriften bis zum Ende der DDR etwa dreißig regelmäßig erscheinende Editionen, so ging die Zahl der Künstlerbücher in die Hunderte. Die wichtigsten Grafikeditionen für die Kunstgeschichte und zugleich für das künstlerische Selbstverständnis sind die Mappenwerke von Carlfriedrich Claus in der eikon Presse, die von einer Künstlergruppe um Eberhard Göschel herausgegebenen Grafikmappen der Obergrabenpresse in Dresden, die Künstlerbücher der Ursus-Presse und der Jahn-Bach-Günther-Edition in Berlin und ab Mitte der 1980er Jahre die Künstlerbücher des Dresdner Leitwolfverlages. Künstlerbücher wurden aber auch von der Galerie Eigen+Art in Leipzig herausgegeben. Bei Grafikmappen und Künstlerbücher entfiel das komplizierte Zensur- und Druckgenehmigungsverfahren, das bei der Veröffentlichung literarischer Publikationen vorgeschrieben war. Kleine Auflagen bis 100 Exemplare konnten die behördlichen Barrieren in der Regel ohne größere Einschränkungen passieren, oder wurden umgangen bzw. einfach ignoriert.
Durch die enge Zusammenarbeit mit Grafikern und Malern erhielten Autoren nicht nur die Möglichkeit, Texte zu veröffentlichen, die im offiziellen Literaturbetrieb der DDR keine Chance hatten, die Zusammenarbeit führte auch zu literarischen und künstlerischen Innovationen. Die Verschränkung von Text und Bild in den schriftgrafischen Strukturen, das Prozessuale, Unabgeschlossene und Grenzüberschreitende des Arbeitsprozesses, die Montage- und Collagetechniken und nicht zuletzt die Wiederentdeckung des künstlerischen Fragments schufen neue ästhetische Leitbilder und führten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Traditionen der Klassischen Moderne und Avantgarde, mit Expressionismus, Surrealismus und Dadaismus. Ein Bindglied zwischen den Künstlerbüchern und Künstlerzeitschriften stellten die Leporellohefte der von Künstlern um Ralf Kerbach, Helge Leiberg, Cornelia Schleime und Sascha Anderson Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre in Dresden herausgegebenen Reihe "Poe sie all bum“ dar, die sich im Titel ironisch auf die im Verlag Neues Leben erscheinende Lyrikserie bezog. Umschläge und Leporelloeinlagen wurden nicht gedruckt, sondern gezeichnet oder aquarelliert, die Texte wurden als Typoskripte eingeheftet.
In ihrem Unikatcharakter wurden im Laufe der 1980er Jahre die Grenzen der Künstlerbücher sichtbar. Trotz vielfältiger innovativer Ansätze und zahlreicher Erstveröffentlichungen von Autoren hatten Künstlerbücher nur einen geringen Anteil an der Durchsetzung neuer Literatur. Dazu war die Auflagenhöhe und die Verbreitung zu gering und die Herstellung zu kostspielig. Künstlerbücher waren nicht zuletzt auch Sammlerstücke, die – über den offiziellen oder nichtoffiziellen Kunstmarkt vertrieben – zur Lebenssicherung von Künstlern und Druckern beitrugen. Eine größere Öffentlichkeit in Ost und West und eine wesentlich größere Bedeutung zur Durchsetzung einer neuen und "anderen“ Literatur erreichten dagegen die Künstlerzeitschriften mit Auflagen bis zu 200 Exemplaren.
Wie die zahlreichen Orte der unabhängigen Ausstellungskultur erfüllten die zugleich vorgestellten literarischen und künstlerischen Zeitschriften, aber auch die Künstlerbücher mehrere Funktionen: Sie waren sowohl Medien der sozialen Kommunikation, von künstlerischen Gruppierungen und generationsspezifischen Überzeugungen als auch Podien zur schnellen Verbreitung neuer Werke und zur Diskussion ästhetischer Entwürfe der künstlerischen Selbstverständigung. Werke und Ideen konnten so in der künstlerischen und politischen Vor-Öffentlichkeit eines mehr oder minder herrschafts- und interessefreien Raums getestet, durchgesetzt oder verworfen werden.