Das Entstehen alternativer künstlerischer Milieus, die sich dem ideologischen und ästhetischen Eindeutigkeitsgebot von Partei und Staat verweigerten, ist zum einen durch den Mauerbau 1961 entscheidend befördert worden. Da sie nicht mehr einfach in den Westen ausweichen konnten, waren unangepasste Künstler gezwungen, innerhalb der DDR eigenständige Infrastrukturen aufzubauen. Das neue antiautoritäre Denken im Gefolge der 1968er-Bewegung, die sich im östlichen Europa in den Ereignissen des Prager Frühlings offenbarte, führte zum anderen zu einer kulturellen "Binnendifferenzierung" (Detlef Pollack), weil es sich nicht in politisches und gesellschaftliches Handeln transformieren ließ.
Widerstand und Anpassung
Die Künstler, die Anfang bis Mitte der 1960er Jahre in die DDR-Öffentlichkeit traten, verlangten vor allem mehr Freiraum innerhalb der Institutionen. Das Vertrauen in die Legitimität und Reformfähigkeit der DDR und ihrer Kunst- und Kultureinrichtungen war zwar nach dem 11. Plenum der SED empfindlich gestört, wurde aber nicht in Frage gestellt.
Ein Beispiel dafür ist die so genannte "Leipziger Schule“: Ihre Repräsentanten – Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke, aber auch die Jüngeren wie Sighard Gille, Volker Stelzmann und Arno Rink – waren zu Beginn ihrer Laufbahn in den 1960er Jahren selbst Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Nachdem sie von der Kulturbürokratie anerkannt worden waren, glaubten diese Künstler jedoch, dass damit die Kunst als solche in der sozialistischen Gesellschaft liberalisiert sei. Sie verwechselten ihre eigene Befreiung mit der der Kunst. Mit ihrer Institutionalisierung – nahezu alle renommierten Vertreter bekamen Lehrstühle und zogen die nächsten Jahrgänge in ihrem Geist heran – begann die Erstarrung. Die Kunst verband sich untrennbar mit politischer Opportunität.
Der Gang durch die Institutionen
Die Studentenbewegung in Westeuropa, besonders aber die Reformbewegungen in Warschau und Prag wurden für die Akteure der 1970er und frühen 1980er Jahre zur prägenden Generationserfahrung. Sie wendeten sich nicht gegen Staat und Partei, sondern klagten das immer wieder proklamierte Ziel der sozialistischen Menschengemeinschaft ein: Die eigenen Reformbemühungen sollten dabei dem notwendigen "Umbau“ des Sozialismus dienen und stellten die staatliche Hegemonie zunächst nicht zur Disposition. Das änderte sich nach der Biermann-Ausbürgerung 1976, die als eine Aufkündigung des zwar brüchigen, aber dennoch "bewährten“ Vertrauensverhältnisses zwischen Künstlern und staatlichen Verwaltern verstanden wurde. Seit Ende der 1970er Jahre kehrte deshalb die Künstlerszene den Institutionen mehr und mehr den Rücken. Eigene Produktions- und Lebensräume, die Etablierung von Öffentlichkeit außerhalb und unabhängig vom DDR-Kulturbetrieb wurden wichtig.
Beispielhaft für diese Generation stehen die Leipziger Lutz Dammbeck, Hans Hendrik Grimmling, Frieder Heinze, Günther Huniat, Karin Plessing, Gregor-Torsten Schade und Jürgen Schäfer. Sie entwickelten 1977 die Idee der "grenzüberschreitenden“ Ausstellung
Obwohl sie mit ihrem Projekt gescheitert waren, glaubten die Künstler auch weiterhin, die erstarrten Verhältnisse innerhalb des Verbandes aufbrechen und verändern zu können. Hans Hendrik Grimmling, Frieder Heinze und Günther Huniat gelang es, in die Sektionsleitung Malerei und Grafik gewählt zu werden, wo sie bei der Vergabe von Aufträgen oder Ausstellungsbeteiligungen mitbestimmen konnten. Vor allem aber wollten sie die lange schwelenden Konflikte innerhalb der Leipziger Künstlerschaft diskutieren: die Dominanz der
Zum Eklat kam es, als ein Großteil der Anträge, im Frühjahr 1984 die Beckmann-Ausstellung in Westberlin besuchen zu dürfen, abgelehnt wurde. 46 Mitglieder des Bezirksverbandes Leipzig unterzeichneten ein Schreiben an den Präsidenten des Verbandes Bildender Künstler, Willi Sitte, in dem sie forderten, die Kriterien für die Auswahl und Befürwortung von Reisen in das NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) offenzulegen und Ablehnungen von Reiseanträgen umfassend zu begründen. Es war ein Politikum von höchster Brisanz. Nicht nur die Verbandsgremien und die Bezirksleitung der Partei sahen sich von dieser Anmaßung attackiert, sondern auch das ZK der SED.
Die Institutionalisierung der Alternative
Die Produktionsbedingungen für Künstler wandelten sich in den 1980er Jahren fundamental. Der ökonomische und gesellschaftliche Niedergang der DDR ebenso wie die Verkommenheit ihrer politischen Utopie spiegelten sich im äußeren Verfall vieler Innenstädte. Junge Künstler, Studenten und Absolventen der Universitäten und Hochschulen erkannten die "Nische“ und besetzten stillschweigend die leerstehenden Wohnungen in der Dresdner Neustadt, im Osten, Westen und Süden von Leipzig, im Prenzlauer Berg und im Friedrichshain in Berlin, um jenseits von Familie und Arbeitsbrigade den Ausweg zwischen widerspruchloser Anpassung und verzichtendem Ausstieg zu finden.
Anders als in den vorangegangenen Jahrzehnten waren soziale Aufstiegschancen blockiert. Die Hierarchien waren auf Lebenszeit von Funktionären besetzt. Höherer Schulabschluss, attraktive Ausbildung und beruflicher Erfolg – noch immer mit Indoktrination und affirmativen politischen Alltagsdemonstrationen verbunden – versprachen kaum mehr sinnvolle Verwirklichung oder soziale Vorteile. Die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen waren oft denkbar schlecht und materielle Gewinne keine Verlockung, weil es immer weniger zu konsumieren gab. Vor allem die Generation der in den 1960er Jahren Geborenen verweigerte sich zunehmend geradliniger Sozialisation, weil der Ausstieg eben nicht nur Verzicht bedeutete, sondern auch, einer permanenten Demütigung durch Inkompetenz und Bevormundung zu entkommen. Für die nötige Rückendeckung der Aushandlung von Spielräumen und die Behauptung individueller Ansprüche sorgten familiäre Beziehungen, Freundeskreise, kirchliche Integrationsangebote (so man wollte) und die staatliche Sozialpolitik. Mit einer Krankenversicherung für zehn Mark, der subventionierten Miete und Pfennigen für Butter und Brot war der Rückzug ins Private gesichert. Die mögliche Kriminalisierung wegen "asozialen Verhaltens“ wurde dabei in Kauf genommen.
Für das Besetzen kultureller Terrains zeichnete sich darüber hinaus ein neues Vorgehen ab: Das Misslingen des Versuchs, durch das Abschieben lästiger Intellektueller, Schauspieler, Dichter und bildender Künstler den nicht enden wollenden Unmut nach der Biermann-Ausweisung zu befrieden, veranlasste die Behörden, eher "flexibel“ auf die Künstler zu reagieren. Doch die jüngste Künstlergeneration hatte aus dem Scheitern der Älteren gelernt: Wollten sie nicht nur privat oder in kirchlichen Räumen unabhängig von Fremdbestimmung sein, mussten sie einen „eigenen“ Kulturbetrieb etablieren – und zwar auch innerhalb oder mittels staatlicher Strukturen. Kaum in Gefahr, noch korrumpiert zu werden, suchte diese Generation offensiv die Spannung zwischen Divergenz und Assimilation, Verweigerung und Entgegenkommen.
Die staatlichen Bemühungen, die alternative Kunstszene, soweit sie nicht zum politischen Widerstand zu rechnen war, wieder in den offiziellen Kulturbetrieb zu integrieren, führte denn auch nicht zur erhofften Stabilisierung der kulturellen Institutionen, sondern beschleunigte deren Verfall. So waren beispielsweise mit den Jugendklubs und Kulturhäusern im Umfeld der Kunsthochschulen und der Universitäten sowie den Stadtbezirks- und Kulturbundgalerien schon seit den 1970er Jahren staatliche Institutionen entstanden, die sich die alternative Szene aneignen konnte.
Beispiele für die Strategien junger Künstler dieser "Früchtegeneration“ (Hans Hendrik Grimmling) sind die Aktionen der „Plagwitzer Interessengemeinschaft“ (PIG) und des ihr nahestehenden Freundeskreises um die 1985 gegründete
Auch mehre Multimediainszenierungen fanden dort statt – so vier Veranstaltungen der Reihe "Akustischen Aspekte“ der
Verleihung des „Prix de Jagot“ für bildende Kunst, Kulturhaus „Nationale Front“, Leipzig, 3. März 1984: Akos Novaky, Thorsten Schilling, Jens Pfuhler (v.l.n.r.). (© Matthias Hildebrand, Archiv Uta Grundmann)
Verleihung des „Prix de Jagot“ für bildende Kunst, Kulturhaus „Nationale Front“, Leipzig, 3. März 1984: Akos Novaky, Thorsten Schilling, Jens Pfuhler (v.l.n.r.). (© Matthias Hildebrand, Archiv Uta Grundmann)
„bei der Abwehr und Unterbindung feindlicher Aktivitäten im kulturellen Bereich der Stadt Leipzig“ fest: Die zuständigen Genossen waren nicht nur "in der Regel nicht informiert“, weder über "Vorkommnisse und Probleme“, noch über die "politisch-operativ relevanten Personen und ihre Aktivitäten“, sie unternahmen nicht einmal die "Anstrengung“ dazu.
Zu den legendärsten Aktionen des Freundeskreises um Götz Lehmann, Gerd Harry Lybke und die "Plagwitzer Interessengemeinschaft“ gehörte die 1984 die mit geradezu mondänem Aufwand organisierte Preisverleihung des "Prix de Jagot“ („Jagot“ entstand aus den Vornamen der Initiatoren) für Literatur, bildende Kunst und Musik im Klubhaus "Nationale Front“. Im offiziellen Mitteilungsblatt des Verbandes Bildender Künstler erschien daraufhin mit größter Selbstverständlichkeit die sachliche Meldung, der ungarische Maler Akos Novaky – der bald darauf für Lybke die zukünftigen Räume der Galerie Eigen+Art mietete – habe den "Prix de Jagot“ für bildende Kunst erhalten. Die Alternative war damit zur Institution geworden.
Kunst als Widerstand?
Die Herausbildung der Kunst- und Kulturszene jenseits der DDR-Staatskultur ist nicht im Ausschluss des offiziellen Diskurses und nicht ohne die ausgefochtenen Kämpfe der jeweils älteren Generationen zu denken. Beides beeinflusste das subversive Verständnis von Kunst und ihrer Funktion in der Gesellschaft. Den meisten Künstlern der sich in den 1980er Jahren durchsetzenden alternativen Szene ging es weniger um einen neuen Formbegriff als darum, neben den Ausstellungen und Aktionen ein kommunikatives Umfeld zu schaffen, an dem alle partizipieren konnten. Was die einen mit den anderen verband, war das Zugehörigkeitsgefühl zu einer losen Solidargemeinschaft, die gesellschaftliche Konventionen ignorierte und dies durch den Lebensstil von Bohemiens demonstrierte. Womöglich nur von den Umständen diktiert, haben sich hier die traditionellen Kunstkonzepte aufgelöst: Die ästhetische Produktion war Mittel, Identität zu stiften, sich abzugrenzen und zu positionieren, gleichzeitig Freiraum für den Austausch, der dafür notwendig war – und somit Affront gegen die Reduktion der Kunst auf Bilder. Als gemeinsame Erfahrung provozierte das einen Kunstbegriff, für den Kunst Experiment und Kulturraum war. Es ergab sich von selbst, dass weder die Abkehr vom Gesellschaftssystem um jeden Preis noch direktes politisches Engagement zum vorrangigen Prinzip avancierten, sondern das der Vernetzung – von Leben und Wohnen auf der einen, ästhetischer Organisation auf der anderen Seite, von Publikum und Kunstprodukt, privat und öffentlich.
Die Konzepte alternativer Kunst und Kultur waren weder homogen, noch ließen sie sich mit einer einheitlichen politischen Zielsetzung verbinden. Es gab gruppenspezifische Verhaltensmuster, unterschiedliche künstlerische Formensprachen und kommunikative Codes. Während in den 1970er Jahren ästhetische Neukonzeptionen durchaus politische Alternativkonzepte beinhalten konnten, war das Meiden der politischen Festlegung für die jüngere Künstlergeneration in der DDR konstitutiv. Die Motive für das Entstehen der sich als autonom verstehenden Kunstszenen – die von außen als Orte der Einheit von Revolution, Kunst und Leben imaginiert wurden – sind daher weniger im bewussten Widerstand gegen den Staat als in der Erfahrung kultureller Ausgrenzung zu suchen. Im Gegensatz zu den politisch oppositionellen Gruppen, die für eine generelle Reform der DDR und für einen Umbau des politischen Systems eintraten, zeigte sich, dass das kritische Engagement von Künstlern in der Regel auf die Durchsetzung individueller oder künstlerischer Freiheiten beschränkt blieb. Ihnen ging es in erster Linie um einen Autonomiebegriff von Kunst und den autonomen Status des Künstlers, der sich als Außenseiter in der Gesellschaft definiert.