Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 kam für die SED-Führung überraschend und blieb für sie bis 1989 ein kollektives Trauma. Die Folgen der Proteste waren weitreichend und machten auch vor den obersten Rängen der SED keinen Halt. Nach der Niederschlagung begann innerhalb der Führungszirkel der SED die Suche nach Personen, die für die Missstände verantwortlich gemacht werden konnten: Es traf u. a. Interner Link: Wilhelm Zaisser, den Minister für Staatssicherheit, und Interner Link: Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“. Sie und einige andere, wie beispielsweise der Justizminister Interner Link: Max Fechner, verloren ihre Posten. Auch Interner Link: Elli Schmidt, die Vorsitzende des Interner Link: Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) wurde ihres Amtes enthoben. Die Bewältigung des 17. Juni eröffnete für Menschen in den Führungsetagen der SED aber auch Profilierungsmöglichkeiten. So stieg etwa Hilde Benjamin die Karriereleiter nach oben und avancierte von der Vizepräsidentin des Obersten Gerichtes der DDR zur Justizministerin. Sie war damit zu dieser Zeit weltweit die erste Frau auf solch einem Posten.
Hilde Benjamin und Elli Schmidt – kurze biografische Einordnungen
Hilde Benjamin (geb. 1902) und Elli Schmidt (geb. 1908) erlebten ihre politische Sozialisation in der Interner Link: Weimarer Republik. Hilde Benjamin studierte nach dem Abitur Rechtswissenschaften an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, Elli Schmidt lernte in Berlin Schneiderin. Beide Frauen traten 1927 in die Interner Link: Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein. Die Anwältin Hilde Benjamin vertrat viele KPD-Angehörige. Nach der Interner Link: Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anwaltszulassung und verdiente ihr Geld u. a. als juristische Beraterin der sowjetischen Handelsvertretung. Nach deren Schließung fand sie Anstellung in einem Konfektionswerk. Ihr Mann Georg, ein jüdischer Arzt und Kommunist, war im Laufe der NS-Zeit in mehreren Konzentrationslagern und Zuchthäusern inhaftiert; er starb 1942 im Interner Link: KZ Mauthausen. Ihrem Sohn Michael wurde der Schulbesuch untersagt und sie unterrichtete ihn zuhause.
Elli Schmidt erlebte den Beginn der NS-Herrschaft nicht in Deutschland, sondern in Moskau. Dort absolvierte sie seit 1932 die Internationale Lenin-Schule und qualifizierte sich mit einem Abschluss dieser Kaderschmiede der Kommunistischen Internationale für höhere Posten innerhalb der kommunistischen Bewegung. Sie kehrte 1934 nach Deutschland zurück und arbeitete bis 1937 illegal für die KPD. Danach musste sie Deutschland verlassen und gelangte über Prag und Paris in die Sowjetunion. Bis Kriegsende war Elli Schmidt an vielen zentralen Entscheidungsprozessen der KPD beteiligt, oft als einzige Frau unter Männern: So war sie von 1935 bis 1945 Mitglied im Zentralsekretariat der KPD und ab 1944 stellte sie in der KPD-Kommission in Moskau die Weichen für die Nachkriegszeit mit.
Nach der Kapitulation Deutschlands arbeitete Hilde Benjamin als Juristin in der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz der Interner Link: Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), dem späteren Justizministerium der DDR. Dies brachte ihr zahlreiche Möglichkeiten, sich bei der Staatsgründung der DDR zu engagieren. So saß sie beispielsweise für die KPD in der Kommission für Rechtsfragen vom „Zentralen Frauenausschuss für die SBZ“. Sie bearbeitete dort zahlreiche Themen, darunter die Rechte Alleinstehender - nach dem Zweiten Weltkrieg besonders relevant - sowie Ehescheidung und Abtreibung. Seit 1949 war sie Vize-Präsidentin des Oberstes Gerichtes der DDR. Dort wirkte sie an der Zerschlagung der unabhängigen Justiz in der DDR mit und sprach Urteile in Schauprozessen. Von 1949 bis 1967 war sie Abgeordnete der Interner Link: Volkskammer und von 1954 bis zu ihrem Tod im Frühjahr 1989 Mitglied des Interner Link: Zentralkomitees der SED.
Elli Schmidt bei der Sitzung der Volkskammer am 14. März 1952 nach Beendigung der Regierungserklärung. Links neben ihr Otto Nagel. (Bundesarchiv, Bild 183-13891-0005 / CC-BY-SA 3.0) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Elli Schmidt bei der Sitzung der Volkskammer am 14. März 1952 nach Beendigung der Regierungserklärung. Links neben ihr Otto Nagel. (Bundesarchiv, Bild 183-13891-0005 / CC-BY-SA 3.0) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Elli Schmidt kehrte nach Kriegsende nach Deutschland zurück und wandte sich frauenpolitischen Themen zu. Sie war u. a. Vorsitzende des Frauenausschusses des Magistrats von Groß-Berlin. Gleichzeitig blieb sie weiterhin eine der wenigen Frauen, die in den höheren Reihen der KPD und der späteren SED Einfluss nehmen konnte: ab 1946 als Mitglied des Zentralkomitees der SED, als Leiterin des SED-Frauensekretariats (zusammen mit Interner Link: Käthe Kern) und ab 1949 als Vorsitzende des DFD. Unter ihrer Führung vollzog sich die Entwicklung des DFD von einer feministisch und überparteilich ausgerichteten Organisation zu einer Massenorganisation, die den Machtanspruch der SED durchzusetzen half. Zwar hatte Elli Schmidt zu den Vordenkerinnen eines feministischen und überparteilichen DFD gehört, schwenkte letztlich aber auf die Parteilinie ein. Im Jahr 1950 stieg Elli Schmidt in eines der wichtigsten Entscheidungsgremien der SED – das Politbüro – auf, wenn auch nur im Kandidatenstatus und damit ohne Stimmrecht. Die Karrieren der beiden Frauen nahmen nach dem 17. Juni 1953 entscheidende Wendungen: Während Hilde Benjamin die Verfolgung der Aufständischen nutzte, um sich zu profilieren und letztlich als erste Frau das Amt der Justizministerin zu übernehmen, verlor Elli Schmidt in der Folge des Volksaufstandes ihre Posten.
Elli Schmidt
Elli Schmidt beschäftigte sich in ihrer Funktion als Vorsitzende des DFD und seit Februar 1953 als Vorsitzende der neu gegründeten „Staatlichen Kommission für Handel und Versorgung beim Ministerrat der DDR“ mit einem Thema, das später auch die Protestierenden am 17. Juni 1953 in einer ihrer zentralen Forderungen aufgriffen: die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Beim Volksaufstand zeugten Parolen wie „Die HO macht uns k.o.“ oder „Die Preise der HO sind unser Ruin“ davon, dass Unmut über hohe Preise und fehlende Produkte mit zum Aufstand beigetragen hatten.
Bereits im Dezember 1952 hatte Elli Schmidt als Abgeordnete in der Volkskammer Defizite der Wirtschafts- und Versorgungspolitik des SED-Regimes angesprochen. In ihrer Rede führte sie den Zuhörende vor Augen, dass Probleme auch deshalb entstanden seien, weil in den verantwortlichen Positionen Männer saßen und aus einer männlichen Perspektive Entscheidungen trafen. So sprach sie etwa darüber, dass Kindertextilien nicht ausreichend verfügbar und oft nicht den Jahreszeiten entsprechende Produkte in den Läden zu finden seien:
Zitat
Wir Mütter müssen unserem Ministerium für Leichtindustrie bittere Vorwürfe darüber machen, dass vergessen wurde, Stoffe produzieren zu lassen, die für die Herstellung einer preiswerten Kinderkonfektion geeignet sind. Sicher hat der Minister für Leichtindustrie keine Kinder; (Heiterkeit) denn sonst könnte er in der Sorge um unsere Jüngsten, um unseren Nachwuchs nicht vergessen, dass sie Strümpfe, Windeln, Babywäsche, Hosen, Kleider und Mäntel brauchen, und zwar der Jahreszeit angepasst!
Im Plenum löste die zugespitzte und ironische Bemerkung Heiterkeit aus. Doch Elli Schmidt wusste um die Probleme im Alltag der Frauen. Denn in der Regel waren sie es, die sich tagtäglich für die meist noch rationierten Lebensmitteln anstellten und damit umgehen mussten, wenn es mal wieder keine Margarine oder kein Mehl zu kaufen gab. Wie groß die Sprengkraft dieses Themas war, zeigte sich ab Frühjahr 1953. Hunderte von Menschen wandten sich an Elli Schmidt als Vorsitzende der „Staatlichen Kommission für Handel und Versorgung beim Ministerrat der DDR“ und beklagten sich über Versorgungsengpässe oder die schlechte Qualität der Waren. Sie sprach dies in den Führungsgremien der SED auch immer wieder an: so z. B. bei einer Tagung des Zentralkomitees im Mai 1953, knapp einen Monat vor dem Volksaufstand im Juni.
Elli Schmidts Kritik lief ins Leere und wurde ihr letztlich zum Verhängnis. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes gehörte sie zu denjenigen im Politbüro, die Walter Ulbricht und seinen Führungsstil mit für die Proteste verantwortlich machten. In einer nächtlichen Politbüro-Sitzung vom 7. auf den 8. Juli 1953 soll sie den Generalsekretär hart angegangen sein. Rudolf Herrnstadt erinnert ihre Ausführungen wie folgt:
Zitat
Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast Du die meiste Schuld, und das willst Du nicht eingestehen, dass es ohne alledem keinen 17. Juni gegeben hätte.
Laut den handschriftlichen Aufzeichnungen Otto Grotewohls soll Elli Schmidt in dieser Sitzung an Walter Ulbricht gerichtet gesagt haben: „Du kannst nicht mehr an der Spitze der Partei stehen.“
Elli Schmidt war nicht die Einzige in der Parteiführung, die Ulbricht offen kritisierte. Doch letztlich konnte sich der Generalsekretär an der Macht halten. Vielmehr machte er die beiden Politbüromitglieder Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt, für die Konflikte in der Parteiführung mitverantwortlich und letztlich auch für den Volksaufstand. Beide verloren ihre hohen Parteiposten und mit ihnen alle Personen, die zu ihrem Umfeld gezählt wurden – darunter Elli Schmidt. Sie musste den Posten der DFD-Vorsitzenden räumen und erhielt 1954 eine Parteistrafe, weshalb sie auch ihren Sitz im Zentralkomitee der SED verlor.
Zwar wurde Elli Schmidt 1956 rehabilitiert, in die Parteiführung stieg sie jedoch nicht wieder auf. Sie war bis 1967 Direktorin des Modeinstituts der DDR.
Hilde Benjamin
Für Hilde Benjamin brachte das Jahr 1953 ebenfalls Änderungen im beruflichen Umfeld. Mit Interner Link: Stalins Tod im März und dem proklamierten „Neuen Kurs“ musste sie ihre bisherige Rechtsprechung, die an stalinistischen Grundsätzen ausgerichtet und von Schauprozessen und willkürlichen Verurteilungen geprägt war, überdenken. Das Kommuniqué des Ministerrats vom 9. Juni forderte die Jurist*innen der DDR auf, Strafverfahren der vergangenen Jahre auf unverhältnismäßige Härte zu überprüfen. Als Vize-Präsidentin des Obersten Gerichtshofes musste sich auch Hilde Benjamin diesem Kurswechsel beugen.
Doch nach der Niederschlagung der Proteste am 17. Juni standen zunächst andere Aufgaben im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Bereits am 18. Juni gründete Hilde Benjamin im Auftrag des Politbüros einen Operativstab beim Obersten Gerichtshof, der sich mit den Strafen für die Aufständischen des 17. Juni befassen sollte. Mit der Verurteilung der Demonstrierenden sollten „parteitreue“ Richter*innen und Schöff*innen betraut werden. Der Operativstab und in vielen Fällen Hilde Benjamin selbst beschäftigte sich mit jedem Urteil gegen Aufständische, das mehr als fünf Jahre Zuchthaus vorsah. Die SED wusste, dass Massenverurteilungen nicht nur zu Störungen in den Betriebsabläufen führen würden, sondern den Unmut der Menschen erneut anfachen könnte. Insgesamt wurden über 3.000 Ermittlungsverfahren geführt und keiner der besonders heiklen Fälle wurde ohne Benjamins Zutun bearbeitet. So war sie unter anderen in die Verhaftung einer Frau involviert, die als „Interner Link: Erna Dorn“ zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
Hilde Benjamin war darauf bedacht, weitere Eskalationen zu verhindern. So schrieb sie in den Tagen nach dem Volksaufstand an den DFD, man möge sich in der gegebenen Situation gut um die Familien der Verhafteten kümmern, damit diese „nicht in das Lager des Feindes“ wechseln.
Als Justizministerin hielt sich Hilde Benjamin bei der Bestrafung der Aufständischen an die Vorgaben des Politbüros. Anders als ihr Vorgänger Max Fechner, ein ehemaliger Sozialdemokrat, der schon länger auf der Liste derjenigen gestanden hatte, die aus der SED-Führung entfernt werden sollten. Max Fechner hatte sich Ende Juni im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zur Bestrafung der Aufständischen geäußert. Er hatte u.a. betont, dass in der DDR das Streikreicht gelte. Nur Personen, die sich während der Streiks eines Verbrechens schuldig gemacht hatten, hätten eine Strafe zu erwarten. Dies hatte die SED-Führung zum Anlass genommen, ihn zu entlassen und Hilde Benjamin am 14. Juli 1953 als neue Justizministerin einzusetzen.
Hilde Benjamin blieb knapp 14 Jahre Justizministerin. Die westliche Presse stürzte sich auf sie. Schnell wurde sie zur Verkörperung des Unrechtsstaates DDR. Beinamen wie „Bluthilde“ oder „Rote Guillotine“ zeugen davon. Besonders eindrücklich war der häufig bediente Vergleich mit dem NS-Strafrichter Roland Freisler. Dieser hatte Hilde Benjamin wenige Jahre zuvor ein Berufsverbot erteilt und mit seiner Teilnahme an der Interner Link: Wannseekonferenz den Tod von Millionen von Juden mitgetragen, darunter Hilde Benjamins Ehemann Georg. Bis zu ihrem Rücktritt als Justizministerin 1967 formte Hilde Benjamin maßgeblich die Justiz der DDR und nutzte ihre Macht, um die bereits zur Zeit der DFD-Gründung geäußerten Interessen an einer höheren Frauenquote in den DDR-Gerichten durchzusetzen. Hilde Benjamin verfestigte eine Justiz der DDR, die vor allem durch fehlende Rechtsstaatlichkeit charakterisiert war. Dazu trugen v. a. ihre unbedingte Loyalität zur SED und die Bereitschaft, stalinistische Justizvorgaben durchzusetzen, bei.
Fazit
Die politische Gemengelage des 17. Juni, das Chaos und die politischen Interessen der Machthaber brachten für Elli Schmidt und Hilde Benjamin entscheidende Wendungen ihrer politischen Karrieren. Während für Hilde Benjamin die Verfolgung der Aufständischen das Sprungbrett war, das sie letztlich als erste Frau zur Justizministerin der DDR machte, verlor Elli Schmidt in der Folge des Volksaufstandes ihre Posten und konnte nie wieder an ihre zurückliegende Karriere anknüpfen.
Andrea Bahr, Jahrgang 1981, ist promovierte Historikerin und Referentin für historisch-politische Bildung beim Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat u.a. zu den Kreisleitungen der SED und zur Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Partei „Die Grünen“ publiziert.
Michèle Matetschk, Jahrgang 1997, ist seit 2018 Mitarbeiterin in der Abteilung historisch-politische Bildung des Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie studierte Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Identität US-amerikanischer Astronautinnen im späten 20. Jahrhundert.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.