"Nobody seemed to care", ("Niemand schien sich zu interessieren") spricht die Voice-Over-Stimme des türkischen Regisseurs Can Candan zu Beginn des Dokumentarfilms "Duvarlar – Mauern – Walls". Zu diesen Worten zeigt uns die Kamera eine glänzende Turbine, in der sich das Flugzeug spiegelt, mit dem Candan 1991 aus den USA nach Berlin reiste. Der damals 20-jährige Filmstudent wollte die Sicht türkischer Migrant*innen auf den Mauerfall dokumentarisch festhalten.
Und tatsächlich sollte der Regisseur mit seiner Aussage Recht behalten: Das Interesse an dem Thema blieb auch in den Folgejahren überschaubar. So stellt "Duvarlar – Mauern – Walls" des inzwischen wieder in der Türkei lebenden und an einer Istanbuler Universität lehrenden Can Candan bis dato den einzigen (dokumentar-)filmischen Versuch dar, die Transformationsprozesse rund um den Mauerfall aus der Perspektive türkischer Migrant*innen zu erzählen, von denen Anfang 1991 140.000 in Berlin lebten.
Candan spricht in dem Film mit engagierten Expert*innen, genauso wie mit Studierenden, Jugendlichen, Geflüchteten oder Arbeiter*innen. Sie erzählen von den Folgen des Mauerfalls und ihren Zukunftsperspektiven im wiedervereinten Deutschland. Und so unterschiedlich sich die soziale Herkunft der Befragten gestaltet – dominantes Thema bei allen Interviewpartner*innen ist ihre Sorge vor dem zunehmendem Rassismus im Land.
Betroffenheitsperspektive
Schon kurz vor Candans einleitenden Worten, in denen er seine Reiseabsicht erklärt, ertönen Klänge einer traditionellen türkischen Flöte (dilli kaval). Sie weckt Assoziationen an die Musik, die zahlreiche Filme des deutsch-türkischen Kinos der 1970er bis 90er Jahre ("Betroffenheitskino") begleitete. Auch der vorliegende Film lässt sich jener Phase des Migrationskinos zuordnen: Er entwickelt Betroffenheit für die dargestellte Welt der Migrant*innen, die in Deutschland zwischen zwei Kulturen ihren Platz zu finden versuchen. Der Regisseur bleibt während des gesamten Films weitgehend unsichtbar und reflektiert über das Voice-Over Themen wie Heimat, Zugehörigkeit und Fremdheit.
Der Film folgt einer impliziten Dreiteilung. Der erste Teil erklärt das Phänomen der Arbeitsmigration mit Hilfe von Interviews mit Expert*innen sowie den nahezu ikonisch gewordenen Fotos aus dem Bildband "Arbeitsemigranten" des Kunstkritikers John Berger und des Fotografen Jean Mohr (1976). Der Band zeigt u.a. Bilder von deutschen Ärzten, die "Gastarbeiter*innen" auf ihre Tauglichkeit hin untersuchten. Dadurch, dass der Film die Arbeitsmigration selbst in einen Zusammenhang von Ausbeutung arbeitsuchender und verarmter Menschen stellt, schließt Candan hier wie an vielen anderen Stellen an kritische und linke Diskurse zur Arbeitsmigration an.
Im zweiten Teil des Films lässt der Regisseur dann besonders die Skepsis der Migrant*innen zur Maueröffnung deutlich werden. Illustriert werden die Vorbehalte insbesondere durch Aussagen von türkischen Souvenirverkäufer*innen, die Mauerstücke oder andere Andenken an interessierte Tourist*innen verkaufen. Die Ostberliner*innen werden von den Interviewten vorrangig als neue Konkurrent*innen auf dem Arbeitsmarkt und als ursächlich für die zunehmende Arbeitslosigkeit, aber auch als in Teilen offen rassistische Menschen dargestellt, die ihren Frust über das eigene Abgehängtsein nun auf Türk*innen projizieren würden. Stadtteile, so die Interviewten, würden sich durch die geografische Rejustierung Berlins und den daraus resultierenden Verdrängungsprozessen und Wohnungsnöten zu Ungunsten der Westberliner Migrant*innen verändern. Candan lässt diese Aussagen unkommentiert. Mit Blick auf rassistische Anschläge in Westdeutschland in den 1980er-Jahren (so etwa 1984 auf die türkische Familie Satır in Duisburg Wanheimerort mit sieben Toten – der Fall wurde vom Migrationsmuseum Domid erst kürzlich wieder recherchiert und publik gemacht) ist die Verortung des Rassismus lediglich im Osten jedoch eine problematische Narration, die der gesamtgesellschaftlichen Dimension schon seinerzeit nicht gerecht wurde.
Schlüsselthema Rassismus
Im dritten Teil des Films geht es dem Regisseur um die Sichtbarmachung der rassistischen Gefahren für Migrant*innen nach der Deutschen Einheit. Während die Zeitzeug*innen ihre vornehmlich als rassistisch empfundene Sicht auf die Gesellschaft in Deutschland artikulieren, zeigt uns der Regisseur die Stadt Berlin als von Slogans und symbolträchtigen Statuen durchzogenen Ort. Die Graffiti auf den Marx- und Lenin-Statuen sowie auf den Mauerstücken in der Stadt bestätigen bildlich die Aussagen der Interviewten: "Nein zum 4. Reich", "Bild [gemeint ist die Boulevardzeitung] ist rassistisch". Candan begleitet eine antifaschistische Demonstration und eine Auseinandersetzung von Aktivist*innen mit der Polizei. Die Polizei wird auch in einigen Interviews mit den Zeitzeug*innen kritisiert: Mehrere Male kommt die Passivität der Behörden bei den Übergriffen auf die Heime in Hoyerswerda zur Sprache. Auch die Bilder einer angriffslustigen Polizei auf der antifaschistischen Demo spitzen das einseitige Bild einer latent rassistischen Polizeikultur weiter zu. Angesichts aktueller Fälle von rechtsextremistischen Einstellungen innerhalb der Polizei zeigen diese Szenen, dass Migrant*innen die Haltung der Polizei schon damals problematisiert haben.
Candans Doku lässt Menschen zu Wort kommen, die bis dahin ungehört geblieben waren. Sein Film zeigt Zusammenhänge, deren Wirkmächtigkeit angesichts der Verbreitung rechtsextremistischer Denk- und Empfindungskulturen immer noch schockierende Ausmaße hat. Gerade aufgrund der direkten Artikulation rassistischer Verhältnisse in Deutschland erlaubt der Film die Bezugnahme auf Diskurse, die auch nach inzwischen dreißig Jahren nicht an Relevanz verloren haben.
Rezeption des Films bis heute
Was bleibt Kritisches zu sagen angesichts der Pionierleistung von Candans Film – insbesondere was die Analyse rassistischer Verhältnisse aus der Perspektive der Betroffenen betrifft? In den vielzähligen Veranstaltungen, bei denen Candans Film gezeigt wird, wird stets die Einseitigkeit seiner Perspektive kritisiert, die ausschließlich die Migrant*innensicht in den Mittelpunkt rückt. Der Rassismus werde dadurch nicht sichtbar, sondern vielmehr die Angstgefühle der Menschen, die Candan befragt.
Als migrantischer Wissenschaftler kann ich die Beklemmung in den Worten der Sprechenden in "Duvarlar – Mauern – Walls" nachempfinden –- beklemmende Gefühle, die ich, bevor ich den Film sah, so nie medial artikuliert gefunden hatte. Selbstbewusst entgegnet Candan denjenigen, die seine einseitige Sicht kritisieren, meist mit seiner eindeutigen politischen Haltung gegenüber Rassismus. Diese einseitige Haltung zeichnet Candans Film letztlich aus, allerdings macht sie auch die Sichtung des Films schwierig, in dem Rassismus nur noch als ein soziales und politisches Übel erscheint, das bekämpft werden muss.
Rassismus ist ein komplexes System, das sich nicht auf Fremdheitskonstruktionen reduzieren lässt. Das weiß der Film, und das lässt er seine Interviewten auch sagen. Die entsprechenden Bilder dieser Systemseite von Rassismus konnten bis heute aber nur die wenigsten Filme sichtbar machen. Auch "Duvarlar – Mauern – Walls" geht hier noch nicht weit genug.
In den anderen Dokumentationen des Regisseurs stehen die Menschen und das Aktivistische ebenfalls im Zentrum: In "My Child" (2013) lässt Candan Eltern aus der Türkei von inzwischen erwachsenen Interner Link: LGBT-Kindern über ihre Erfahrungen sprechen und begleitet auch hier die Straßenproteste von LGBT-Aktivist*innen. In "Üç Saat" ("Drei Stunden", 2008) filmt er mehrere Jugendliche in der Türkei über einen längeren Zeitraum bei der Vorbereitung ihrer Abschlussprüfungen, um darüber das fragwürdige System der Zugangsprüfung für die Hochschulen zu kritisieren. Zu fragen bleibt, ob eine solche Betroffenheitsperspektive allein – um mit einer berühmten Frage der postkolonialen Theoretikerin Spivak zu sprechen – die "Subalternen", also diejenigen, die als die Unterdrückten einer Gesellschaft zu betrachten sind, zum Sprechen bringen kann.
Das hängt wie so oft davon ab, ob die Stimmen der Subalternen überhaupt gehört werden können. Bei einem Screening von Duvarlar im Februar 2020 in Köln – nur wenige Tage vor dem rechtsterroristischen Anschlag von Hanau mit neun Toten – wollte einer der Zuschauer mehr Repräsentation positiver gesellschaftlicher Verhältnisse und bat darum, auch die Integrationserfolge in Deutschland zu würdigen. Candan entgegnete dem Fragenden damals sinngemäß: Noch heute würden Menschen von den Ängsten sprechen, die sein Film erstmals gezeigt hat. Ihre Sicht der Dinge sichtbar zu machen, das sei damals seine Aufgabe gewesen. Candans Film abstrahiert vom zeithistorischen Problem des Mauerfalls auf ein gesellschaftsübergreifendes Problem. Diese eindeutige pro-migrantische Haltung von Candans Film scheint auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung eine Perspektive zu sein, die dringender benötigt wird denn je.