Oft wird vergessen, dass die Zäsur der Wiedervereinigung die in Deutschland lebenden Zugewanderten und ihre Familien genauso betraf wie die übrige Bevölkerung. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ostdeutschen Zugewanderten veränderten sich durch den Mauerfall grundlegend. Zusätzlich zu allen politischen und ökonomischen Unsicherheiten war von heute auf Morgen der Aufenthaltsstatus der im Land lebenden Vertragsarbeitenden ungeklärt und blieb dies über mehrere Jahre. Gleichzeitig verschlechterte sich die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Zugewanderten; das heißt, vorhandene ausländerfeindliche Einstellungen traten nun offener zutage. Dieser Trend erfasste auch Westdeutschland, wenn auch nicht in der gleichen Intensität.
Welche Prozesse der Netzwerkbildung und Selbstorganisation von Zugewanderten wurden durch diese Umbrüche angestoßen und wie hat sich die Wende auf migrantische Netzwerke bzw. Migrantenorganisationen in Ost und West ausgewirkt? Der Forschungsstand hierzu ist sehr lückenhaft und das, was an Forschung vorliegt, bezieht sich vor allem auf Ostdeutschland. Hier bedeutete der Fall der Mauer, dass überhaupt erstmals die Möglichkeit bestand, Vereine unter Beteiligung von Zugewanderten zu gründen.
Ethnische Netzwerke und erste Migrantenorganisationen in Ostdeutschland
In der DDR war jede Form der migrantischen Selbstorganisation verboten, doch es bildeten sich zum Teil inoffizielle, nicht-formalisierte Netzwerke. Die Vertragsarbeitenden waren in ethnisch homogenen Wohnheimen untergebracht. Hier entstanden vor allem zwischen den zahlenmäßig am stärksten vertretenen Vietnamesen und Vietnamesinnen sehr enge und teils überregionale Netzwerke, die auch zur Aufbesserung des Lebensunterhalts dienten. Aufgrund des Warenmangels in der DDR wurde geduldet, dass die vietnamesischen Vertragsarbeitenden in ihren Wohnheimen begannen, Bekleidungstextilien für den ostdeutschen Markt zu produzieren. Diese Form der Zusammenarbeit in einem engen ethnischen Netzwerk ermöglichte es ehemaligen Vertragsarbeitenden auch nach der Wende ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern. Über den Weg einer Reisegewerbeerlaubnis betrieben viele von ihnen zunächst ambulante Kleinstgewerbe wie Imbissbuden und Stände auf Märkten, wo sie vor allem Blumen und Textilien anboten.
Die Anfänge ostdeutscher Migrantenorganisationen liegen aber woanders. Mit Unterstützung vor allem von ehemaligen Gruppenbetreuerinnen und Gruppenbetreuern, aber auch seitens der neu eingesetzten Ausländerbeauftragten und kirchlichen Vertreterinnen und Vertreter entstanden in der Wendezeit erste Vereine, die sich die Verbesserung der Lebenssituation von Zugewanderten und den Kampf gegen die aufkeimende rechte Gewaltwelle zur Aufgabe machten. Einer der ältesten ostdeutschen Vereine, der bereits Ende 1990 von Deutschen und Zugewanderten gemeinsam gegründet wurde, ist der Ausländerrat Dresden e.V. Sein zentrales Ziel bestand zunächst darin, etwas gegen "Ausländerfeindlichkeit" zu tun. Eine starke Politisierung erfuhr der Ausländerrat Dresden dabei durch die Ermordung des Mosambikaners Jorge Gomondai im April 1991. Der Ausländerrat Dresden setzt sich bis heute für die Interessen von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung ein. Er ist unter anderem anerkannter Träger der freien Jugendhilfe, und seine Angebote in den Bereichen interkultureller, sozialer und bildungspolitischer Maßnahmen haben sich im Laufe der Jahre sukzessive ausgeweitet.
Ein anderes Beispiel ist der Rostocker Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V., dessen Gründung unmittelbar auf die rassistischen Angriffe zuerst auf die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende und dann auf das angrenzende Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeitende (Sonnenblumenhaus) in Interner Link: Rostock-Lichtenhagen im August 1992 zurückgeht. Noch im gleichen Jahr gründeten Deutsche sowie Vietnamesinnen und Vietnamesen gemeinsam den Verein Diên Hông mit dem Ziel, etwas gegen die "Ausländerfeindlichkeit" in der Stadt zu unternehmen. Aus dieser Initiative ging im Februar 1994 eine vietnamesisch-deutsche Begegnungsstätte hervor, in der sowohl Kultur- und Bildungsarbeit für eine deutsche Zielgruppe als auch allgemeine Sozialberatung für Vietnamesinnen und Vietnamesen angeboten wurde. Ab Juli 1997 wurde die Projektarbeit für alle Nationalitäten geöffnet.
Diese Beispiele unterstreichen: Ostdeutsche Migrantenorganisationen waren zum einen von Anfang an durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Zugewanderten geprägt. Zum anderen spiegelten sich die Herausforderungen der Wendezeit deutlich in den Vereinsaktivitäten wider. Im Mittelpunkt standen vor allem die Verbesserung der Lebenssituation von Zugewanderten und gleichzeitig der Schutz vor Rassismus durch Zusammenhalt.
Nach der Wiedervereinigung kamen entsprechend der Quotenregelungen des Königsteiner Schlüssels weitere Migrantengruppen in Ostdeutschland hinzu, vor allem Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, Kontingentflüchtlinge und Asylsuchende. Im Zuge dessen differenzierte sich das Bild migrantischer Vereine weiter aus und es gewannen zunehmend auch weitere Vereinsaktivitäten an Bedeutung, wie die Pflege der Herkunftskultur und/oder Religion. Da Ostdeutschland bis heute tendenziell eher von Abwanderung geprägt ist und die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt niedrig liegt, ist die interkulturelle Vernetzung stark ausgeprägt und ethnisch homogene Vereine bildeten sich nie in der Häufigkeit, in der sie in Westdeutschland anzutreffen sind.
Die Migrantenorganisationen in Ostdeutschland standen vielfach vor ähnlichen Problemen. Ein wichtiges Thema war und blieb der Widerstand gegen Rassismus. Außerdem folgte aus dem geringen Anteil der Zugewanderten in Ostdeutschland ein relativ geringer Druck auf politische Institutionen, das Thema Integration voranzutreiben. Solche gemeinsamen Problemlagen führten dazu, dass ostdeutsche Migrantenorganisationen bereits relativ früh damit begonnen haben, sich zu vernetzen (wenn auch oft zunächst eher informell). Heute gibt es in allen fünf neuen ostdeutschen Flächenländern landesweite Netzwerke von Migrantenorganisationen und darüber hinaus seit 2018 auch den gemeinsamen übergeordneten Externer Link: Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst).
Und im Westen?
Die Geschichte der Migrantenorganisationen in Westdeutschland reicht deutlich weiter zurück und ist eng mit der Zuwanderung im Rahmen der groß angelegten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ab 1955 verknüpft. Entsprechend gab es in Westdeutschland zum Zeitpunkt des Mauerfalls bereits eine vielfältige Landschaft von herkunftshomogenen wie herkunftsheterogenen Migrantenorganisationen, die nicht nur strukturell sondern auch inhaltlich ganz unterschiedlich aufgestellt waren und bis heute sind – so wie auch die übrige Zivilgesellschaft. Das Aktivitätsspektrum war und ist sehr breit und reicht z.B. von migrantischen Freizeit-, Sport- und Elternvereinen über kulturell-religiöse Vereine bis hin zu Organisationen oder Initiativen, die sich entwicklungspolitisch für eine bestimmte Herkunftsregion oder für politische Teilhabe in Deutschland einsetzen.
Zur Prägekraft des Mauerfalls für die westdeutsche Landschaft der Migrantenorganisationen finden sich in der einschlägigen Forschungsliteratur jedoch nur fragmentarische Hinweise. Wir wissen zum Beispiel, dass in den 1990er Jahren viele der bis dato nominell jugoslawischen Sportvereine in Deutschland auf die Sezessionskriege auf dem Balkan reagierten. Erstens ordneten sie sich nun mehrheitlich einer der früheren Teilrepubliken zu (vielfach Kroatien), was häufig auch durch eine neue Namensgebung unterstrichen wurde. Zweitens trugen sie durch Spendensammlungen wesentlich zur Unterstützung der kroatischen Unabhängigkeitsbewegung bei und leisteten einen beträchtlichen Teil der "ethnosolidarische[n] Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge" in Deutschland. Für Letzteres spielt auch eine Rolle, dass diese Sportvereine damals mancherorts die einzigen Eigenorganisationen von kroatischen Migranten und Migrantinnen waren.
Ein anderes Beispiel aus diesem Bereich ist der 1994 in Frechen bei Köln gegründete Kroatische Weltkongress in Deutschland e.V. Der Hintergrund dieser Vereinsgründung war ebenfalls der mit dem Zerfall Jugoslawiens einhergehende Krieg in Kroatien: "Hauptmotive waren die Vernetzung der weltweit verstreuten Diaspora-Kroaten, nach dem Vorbild des Jüdischen Weltkongresses (WJC), die Ermutigung zur Rückkehr in die Heimat sowie humanitäre Hilfe für die von schweren Kriegswirren gebeutelte Heimat."
Der nach dem Mauerfall vermehrte Zuzug von Aussiedlern und Aussiedlerinnen bzw. ab 1. Januar 1993 von Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen nach Ost- und Westdeutschland wird mitunter auch vor dem Hintergrund der Frage betrachtet, inwiefern die hierdurch neu entstehenden Vereine auch als eine Erweiterung der Landschaft der Migrantenorganisationen betrachtet werden sollten. Zwischen 1989 und 1993 sind knapp 1,45 Millionen Spät-/Aussiedler/-innen nach Deutschland gekommen und insgesamt lag die Zahl von 1989 bis zum Ende der 1990er Jahre bei knapp 2,41 Millionen. Zwar begreifen sich Spät-/Aussiedler/-innen aufgrund ihrer deutschen Abstammung häufig nicht als Migranten und Migrantinnen. Ihre Vereine rücken jedoch vielfach ähnliche Problemlagen wie Angebote zur Sprachförderung oder Beratung zu Herausforderungen der rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung in den Fokus ihrer Arbeit.
Abgesehen von solchen fragmentarischen Beispielen wurde bis heute nicht systematisch erforscht und zusammengetragen, welchen Einfluss die Wiedervereinigung und die mit dem Zerfall der Sowjetunion verbundenen Auswirkungen auf die westdeutsche Landschaft der Migrantenorganisationen hatte. Es bleibt sowohl wenig erforscht, wie die Entwicklungen nach dem Mauerfall die bereits vorhandenen Migrantenorganisationen prägten als auch welche Neugründungen durch die verschiedenen mit der Wiedervereinigung einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen angestoßen wurden. Dabei gibt es durchaus deutliche Hinweise darauf, dass sich auch im Westen die Lebensbedingungen für Zugewanderte hierdurch signifikant änderten.
Auch in Westdeutschland kam es zu Beginn der 1990er Jahre zu einem Anstieg von "Ausländerfeindlichkeit" bzw. offen ausgedrücktem Rassismus. Als wichtiger Treiber dieser Entwicklung gilt die Kombination aus einem im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses erstarkenden deutsch-deutschen Nationalgefühls und zeitgleich deutlich ansteigenden Zuwanderungszahlen. Die Zahl der Asylgesuche stieg im Jahr 1989 auf 121.318, im Jahr 1990 auf 193.063, 1991 auf 256.112 und 1992 schließlich auf 438.191. Hierfür spielten vor allem die Flucht- und Minderheitenwanderungen aus Ost- und Südosteuropa eine Rolle, insbesondere Geflüchtete aus dem zerfallenden Jugoslawien sowie Roma aus Rumänien. Auch wenn die Geflüchteten nicht alle in der Bundesrepublik blieben, veränderten diese Zahlen, die medial in einer "Das Boot ist voll!"-Rhetorik verhandelt und mit einem "Ansturm der Armen" verglichen wurden, die gesellschaftliche Grundeinstellung gegenüber Zugewanderten zum Negativen.
Nevim Çil beschreibt darüber hinaus in ihrer Studie "Topographie des Außenseiters", dass für die erste Generation der türkischen Zugewanderten, die auf Basis des Anwerbevertrags von 1961 nach Deutschland gekommen waren, mit dem Mauerfall vielfach auch neue ökonomische Sorgen einhergingen. Ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich infolge der zu Beginn der 1990er Jahre schrittweise verstärkten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch den Zuzug von Ostdeutschen nach Westdeutschland. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass integrationspolitische Anliegen durch die politische Fokussierung aller Kräfte auf die mit der Wiedervereinigung verbundenen Herausforderungen in den Hintergrund gedrängt wurden.
Wie reagierten die in Deutschland bereits etablierten Migrantenorganisationen auf diese Entwicklungen? War die Deutsche Einheit ein Moment, der Vereine ehemaliger „Gastarbeiter“ politisierte oder unterstützte er im Gegenteil einen Rückzug und eine Abschottung? Und welche relevanten Unterschiede gibt es zwischen den zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bereits in Westdeutschland vorhandenen Migrantenorganisationen und den erst in den Folgejahren vor allem mit der Zuwanderung aus Osteuropa neu hinzutretenden Vereinen? All diese Fragen sind bis dato nicht systematisch untersucht worden.
Forschung zu westdeutschen Migrantenorganisationen fehlt
Es liegt keine umfassende und systematische Forschung dazu vor, wie die politischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Wiedervereinigung die westdeutschen Migrantenorganisationen beeinflusst haben. Forschung zu diesem Thema würde eine wichtige Leerstelle schließen und das Bild von der deutschen Wiedervereinigung konkretisieren und vervollständigen. Sie könnte auch dabei helfen, die Vielfalt der Migrantenorganisationen in Deutschland und die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für ihre Arbeit und Entwicklung besser zu verstehen. Außerdem könnte sie wichtige Implikationen für die Ausrichtung von Integrationspolitik liefern. Fest steht: Jede Zuwanderungsgeneration und Zuwanderungsgruppe hat eigene Motivationen, Ressourcen und Kompetenzen, die selbstverständlich in die Netzwerkbildung einfließen. Genauso beeinflusst die jeweilige gesellschaftliche Situation die Zusammenschlüsse und Netzwerke. Es wäre also eine wichtige Frage, ob und wie die gesellschaftlichen Umbrüche der Jahre nach 1989 ihren Widerhall in der migrantischen Organisationslandschaft gefunden haben. Die Klärung dieser Fragen ließe Rückschlüsse zu, wie Integrationspolitik spezifische Bedingungen und Voraussetzungen unterschiedlicher Gruppen von Migranten und Migrantinnen besser berücksichtigen kann und müsste, um Integrationsarbeit effektiver zu gestalten und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern.