Kathrins Geschichte
19. August 1989, 19:30 Uhr:
"Vorhin habe ich Sandra getroffen. Sie hat erzählt, dass heute bei einem "Paneuropäischen Picknick" an der Grenze in Ungarn wohl zwischen 600 und 700 DDR-Bürger nach Österreich geflohen sind. Eine ungarische Oppositionspartei und die Paneuropa-Union hätten die Leute eigentlich nur zum Picknick eingeladen, um für Frieden zu demonstrieren. Das dortige Grenztor sollte dann nur symbolisch geöffnet werden – als Zeichen für das friedliche Miteinander. Aber dann sind die DDR-Bürger einfach los gelaufen. Die Soldaten vor Ort haben sie nicht aufgehalten. Angeblich, damit die Lage nicht eskaliert. Wahnsinn, oder? In diesem Sommer sind ja schon einige über Ungarn in den Westen geflohen – seit Mai wird da ja der Grenzzaun abgebaut. Aber jetzt haben so viele auf einen Schlag einfach diese Gelegenheit für die Flucht genutzt! Sandra meinte auch, dass schon einige Bekannte ihrer Eltern ihre Urlaubspläne geändert hätten und im Sommer jetzt in Ungarn "Urlaub" machen wollen."
3. September 1989, 16:15 Uhr:
"Ich hatte dir doch erzählt, dass vor zwei Wochen so viele Leute beim "Paneuropäischen Picknick" über die Grenze von Ungarn nach Österreich geflohen sind. Und von den vielen DDR-Bürgern in der BRD-Botschaft in Prag. Papa hat gerade erzählt, dass da in Ungarn wohl auch einer seiner Schüler dabei war. Der ist jetzt nach den Sommerferien einfach nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Man merkt Papa richtig an, wie ihn das ärgert. Vor allem, weil er wohl einer der Besten in seiner Matheklasse war und Papa sich richtig für ihn eingesetzt hatte, damit er an die EOS, also die weiterführende Schule, zum Abi gehen kann. "Verräter" hat er ihn sogar genannt. So wütend habe ich ihn lange nicht erlebt. Aber Karl ist ja nicht der Einzige. Viele wollen weg. Papa und Mama wollen auf jeden Fall bleiben. Für sie gibt es keinen Grund zu gehen. "Erst recht nicht zum Klassenfeind", sagt Papa immer."
7. September 1989, 18:10 Uhr:
"Stell dir das vor: Robert ist gestern nach Berlin zu seinem Kumpel Frank Ebert gefahren. Heute Nachmittag wurde Frank dann bei einer Demo auf dem Alexanderplatz verhaftet. Zusammen mit einigen anderen Protestlern. Seit Juni versammeln sie sich dort jeden Monat, um gegen den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai zu demonstrieren. Damals hatten viele Menschen die Stimmauszählungen beobachtet und festgestellt, dass gar nicht so viele für die Nationale Front gestimmt hatten, wie von der SED behauptet wurde. Die Protestaktion heute hatte das Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug" und sollte so ein richtiges Pfeifkonzert werden. Deswegen hatten viele eine Trillerpfeife dabei. Robert scheint richtig sauer und besorgt. Die Stasi hatte nur auf die Demonstranten gewartet und einige schon vorher abgefangen. Robert konnte gerade so noch abhauen. Frank hatte aber schon seine Trillerpfeife rausgeholt. Den haben sie bekommen. Keine Ahnung, was sie jetzt mit ihm machen."
12. September 1989, 14:05 Uhr:
"Heute habe ich Robert in der Stadt getroffen. Er kam gerade von seiner Aktionsgruppe in der Kirche. Ich habe ihm vom Husten meiner Mama erzählt. Den bekommt sie schon seit Wochen nicht los. Er meinte, das könnte von den giftigen Abgasen kommen, die von den Chemiewerken nach Leipzig ziehen. In der Kirche gibt es wohl auch eine AG Umweltschutz, die Aktionen vorbereitet, um auf die Umweltverschmutzung hier in der Gegend hinzuweisen. Tatsächlich hat es schon länger nicht mehr geregnet und die Luft ist echt stickig. Es stinkt richtig nach Industrie, den ganzen Tag ist es grau. Manchmal hat man das Gefühl, die Sonne kommt nicht mehr durch diesen Dunst durch. Es hängt gerade auch keiner die Wäsche raus, weil die grau werden würde. Auf der Elster, unserem Fluss hier in Leipzig, schwimmt sogar immer wieder bunter Schaum auf dem Wasser. Das kommt wohl alles von der Industrie. Demnächst soll es dazu wohl auch eine Demo geben – für die Umwelt!"
18. September 1989, 21:03 Uhr:
"So ein Mist! Ich glaube, jetzt haben sie Robert erwischt. Zumindest ist er noch nicht beim Wohnheim aufgetaucht. Verdammt nochmal, es war aber auch überall Volkspolizei. Wie das passiert ist? Beim letzten Mal hab' ich die Demo nach dem Friedensgebet ja nur mit etwas Abstand verfolgt. Dieses Mal wollte ich aber näher ran. Zum Friedensgebet in der Nikolaikirche haben wir es nicht mehr rechtzeitig geschafft, aber ich war dann mit Sandra und Robert bei der Demo. Echt beeindruckend, all diese Menschen zu sehen, die für freie Wahlen und politische Reformen kämpfen. Diesmal waren auch viel mehr "Wir bleiben hier"-Sprechchöre zu hören. Irgendwann wurde es dann chaotisch. Sandra und ich haben Robert aus den Augen verloren. Wir sind dann in Sandras Wohnheim gelaufen und warten hier schon seit zwei Stunden. Eigentlich wollte Robert ja auch noch vorbeikommen…"