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Einstellungen zu Politik, Demokratie und Gesellschaft im Ost-West-Vergleich | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de

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Einstellungen zu Politik, Demokratie und Gesellschaft im Ost-West-Vergleich Umfragedaten als Zeitreihen seit 1990

Everhard Holtmann Tobias Jaeck

/ 9 Minuten zu lesen

Everhard Holtmann und Tobias Jaeck untersuchen, wie sich die Einstellungen der Deutschen in Ost und West zu Politik, Demokratie und Gesellschaft seit 1990 verändert haben. Ihr Fazit: Von einer "gespaltenen" politischen Kultur im geeinten Deutschland kann gegenwärtig nur bedingt gesprochen werden.

Einführung: Einstellungen zu Politik – Signale eines ostdeutschen Sonderweges?

Die Frage, wie schnell, wie umfassend und wie nachhaltig die Deutschen in Ost und West nach der Wiedervereinigung zu einem Volk zusammenfinden würden, beschäftigte Beobachter aus Politik und Wissenschaft schon zur Zeit des Systemumbruchs von 1989/90 (Nachweise in Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 60ff.). Bis heute ist diese Frage ein Thema kontroverser öffentlicher Debatten geblieben. Erfüllte sich Willy Brandts Prophezeiung vom November 1989, dass "zusammenwächst, was zusammengehört"? Oder ist Deutschland nach drei Jahrzehnten Wiedervereinigung immer noch "ein Staat mit zwei politischen Kulturen" (Gabriel/ Neller 2010: 132)? Bleibt also eine "gespaltene politische Kultur" (Interner Link: "Politische Einheit, gespaltene Meinungsmuster") als ein hervorstechendes Merkmal in der psychologischen Erkennungsmarke der Bundesrepublik eingraviert?

Jede der beiden konträren Einschätzungen kann sich auf empirische Belege berufen. In Fortschrittsbilanzen der Wirtschaftsforschungsinstitute (Fuest/ Immel 2019, IWH 2019) sowie in den Jahresberichten der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit (zuletzt JB Stand Dt. Einheit 2021) wurden und werden beispielsweise die enormen Fortschritte bei der nachholenden Modernisierung der ostdeutschen Ökonomie und großflächigen Infrastruktur bilanziert. Ebenso aber werden die im innerdeutschen Vergleich chronisch schwächere Wirtschaftskraft Ostdeutschlands, die Strukturprobleme seiner ländlichen Räume und das erkennbare Ost-West-Gefälle hinsichtlich gleichwertiger Lebensverhältnisse fortlaufend dokumentiert.

Angesichts der Dauerbaustellen des Einigungsprozesses, die in zentralen Problembereichen einen verlangsamten bzw. stockenden Fortschritt anzeigen, der in seinen bisherigen Ergebnissen teilweise unterschiedlich bewertet wird, überrascht es nicht, dass auch die Stimmungslage im geeinten Deutschland seit 1990 und bis heute gegenläufige Strömungen aufweist. Zumal im östlichen Teil des Landes ein in sich widersprüchliche Einstellungsprofil hervortritt. Einerseits sehen sich Ostdeutsche, wie Bevölkerungsumfragen seit längerem zeigen, in ihrer großen Mehrheit als Gewinner der Einigung (pars pro toto Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 136 – 140, FGW 2019). Andererseits zählen, so der jüngste Einigungsreport der Bundesregierung, die politischen Einstellungen "zu den wenigen verbleibenden Feldern", wo weiterhin charakteristische Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern aufscheinen: "Kennzeichnend dafür ist eine in den neuen Ländern – im Vergleich zu den alten Ländern – durchgängig skeptischere, distanziertere und auch kritischer ausgeprägte Grundeinstellung gegenüber Politik" (JB Stand Dt. Einheit 2021: 14). Dieser Befund gibt Anlass zu der Frage: Wie stellen sich die Besonderheiten des ostdeutschen Einstellungsprofils im Längsschnitt der erhobenen Einstellungsdaten dar?

Die Gleichzeitigkeit von älteren mentalen Prägungen und neuen Erfahrungswerten seit der Wiedervereinigung

Vieles spricht für die Annahme, dass Auffälligkeiten bei politischen Einstellungen in Ostdeutschland, die gegenwärtig ins Auge fallen, nicht nur situativ bedingt sind, also etwa allein durch die aktuelle Regierungspolitik erklärt werden können, sondern eine Vorgeschichte haben. In diese sind teilweise Erfahrungen eingegangen, die nach der Wiedervereinigung gemacht wurden; teilweise reicht dieser Vorlauf aber auch in die Zeit vor 1989/90 zurück. In heutigen ostdeutschen Sichtweisen vornehmlich der älteren Generationen wirken historische mentale Prägungen nach, die sich, wie z.B. eine ausgeprägte wohlfahrtsstaatliche Erwartungshaltung, noch zu Zeiten der DDR eingeschliffen hatten (vgl. Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 15ff.). Nach 1990, während der turbulenten Zeiten einer "entsicherten Gesellschaft" (Best/ Holtmann 2012) und des späteren "doppelten Transformationsschocks" (Interner Link: "Wirtschaft im Schock", ferner Brachert 2019 und Brachert/ Holtmann/ Jaeck 2020,), dienten solche Reminiszenzen an frühere Zeiten vielen Betroffenen als Orientierungshilfe. Fest steht: Die Wiedervereinigung ist auch auf der Einstellungsebene noch kein endgültig abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte, sondern ein andauernder Prozess, in den Ostdeutsche ihre eigene – und durchaus nicht einheitliche – Sicht der Dinge einbringen.

Aus gesamtdeutscher Perspektive betrachtet, existiert eine im wörtlichen Sinne geteilte Sicht auf Politik: Einstellungen werden geteilt, sind also Gemeingut; oder sie sind geteilt, d.h. sie fallen unterschiedlich aus. Dabei überschneiden sich unterschiedliche biografische Erfahrungshorizonte, wobei die Trennlinien einmal regional (Ost-West), zum anderen durch Zugehörigkeit zu Generationen (DDR-Generation, Wende-Kinder usf.), zu sozialen Bezugsgruppen oder Sozialmilieus (vgl. Interner Link: "Soziale Strukturen in Ostdeutschland") sowie drittens durch allen Menschen gemeinsame Zeiterfahrungen (wie z.B. die Hartz-IV-Gesetze oder die Corona-Pandemie) markiert sind.

Diese Erkenntnis aufnehmend, wird im Folgenden für die Politische Kultur des geeinten Deutschland ein Erklärungsansatz übernommen, der von einer Gleichzeitigkeit verschiedenartiger politischer Einstellungsmuster (was, für sich genommen, nicht viel mehr als ein Gemeinplatz wäre) ausgeht und unterschiedliche, nämlich regional spezifische, generationsbedingte und ereignisbezogene Erfahrungshorizonte integriert, welche die Einstellungen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen bzw. prägen. Das sei im Folgenden an zwei konkreten Beispielen veranschaulicht.

Beispiel 1: Aufgefordert zu einem hypothetischen Systemvergleich DDR/BRD hinsichtlich der damaligen und heutigen Lebensbedingungen, urteilten bei einer Bevölkerungsumfrage im Jahr 2014 jüngere Ostdeutsche (unter 35 Jahren) über die Bundesrepublik deutlich positiver als ältere (Gabriel/ Holtmann 2015: 136 – 139). Erwartungsgemäß zeigten sich in diesem Meinungsbild für Ostdeutschland einmal generationsbedingt differierende Einstellungen sowie zum anderen eine Tendenz zu einer gesamtdeutschen Angleichung von Einstellungen bei der jüngeren Generation.

Beispiel 2: Bei älteren Ostdeutschen überlagern sich zwei Schichten politischer und gesellschaftlicher Sozialisation, jeweils geformt durch Lebensabschnitte, die zunächst in die DDR fielen und sodann in der Bundesrepublik ihren Anfang nahmen. Erwartbar ist demgemäß ein Mix von Einstellungen, der zum einen die Angleichung an in Westdeutschland vorherrschende Einstellungsmuster abbildet und/oder zum anderen kritische Distanz gegenüber diesen anzeigt. Die Daten der oben zitierten Umfrage bestätigen beides: Über 35-jährige Ostdeutsche urteilten 2014 überwiegend (ca. 65 Prozent), die Chancen für persönlichen Aufstieg hätten sich nach 1990 verbessert. Zugleich schrieben sie jedoch mehrheitlich der DDR etliche Systemvorteile zu, nämlich bei sozialem Zusammenhalt (ca. 70 Prozent), Bildung, Kinderbetreuung, sozialer Absicherung, sozialer Gerechtigkeit und Schutz vor Verbrechen (zwischen ca. 55 und ca. 59 Prozent) (Ebenda).

Erkenntnisgewinn durch Historisierung: Umfragedaten zu politischen Einstellungen im Ost-West-Vergleich als Zeitreihen ab 1990

Im folgenden Abschnitt werden ausgewählte politische Einstellungen, differenziert nach Ost- und Westdeutschland, im zeitlichen Längsschnitt seit 1990 dargestellt. Dafür wurden Daten thematisch übereinstimmender und periodisch wiederholter einzelner Bevölkerungsumfragen in eine einheitliche Werteskala (von -2 bis +2) umcodiert. Die auf dieser Basis errechneten Mittelwerte der einzelnen Studien wurden wiederum zu einem "Metatrend" (Mittelwert aller Studien) getrennt für Ost- und Westdeutschland zusammengefasst. Die komprimierten Meta-Trendlinien bilden für zentrale Einstellungsvariablen die Verlaufskurven der Politischen Kultur in der Bundesrepublik von 1990 bis zur Gegenwart ab – wenngleich mit geringem Zeitverzug, da aussagekräftige Meta-Werte auf der Grundlage mehrerer Umfragen gebildet werden, bei welchen die Wiederholungs-Befragungen überwiegend nicht jedes Jahr erfolgen.

Eine derartige datenbasierte Historisierung der gesamtdeutschen Politischen Kultur ermöglicht zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Über einen Zeitraum von etwa 3 Jahrzehnten werden Konstanz und Wandel politischer Einstellungen grafisch dokumentiert. So wird erkennbar, ob sich im Laufe der Zeit Kontinuitäten ausformen, also be-stimmte Einstellungsmuster sich verfestigen, oder auch nicht. Zudem lassen sich Annahmen über Kontexteffekte überprüfen, d.h. ob die Kurvenverläufe auf der Einstellungsebene mit politischen oder ökonomischen Ereignissen, wie etwa der globalen Finanzkrise von 2008/09, in einem zeitlichen Begründungszusammenhang gesehen werden können.

Bei Betrachtung der Metadaten-Zeitreihen ausgewählter politischer Einstellungen seit 1990, soviel sei im Vorgriff auf deren folgende Darstellung angemerkt, werden im Ost-West-Vergleich vier strukturbildende Verlaufsmuster deutlich: einmal Unterschiedlichkeit (etwa bei Parteibindung und Demokratiezufriedenheit); zweitens Gleichlauf (so z.B. beim Institutionenvertrauen); zum dritten Angleichung (etwa bei politischem Interesse, der Bewertung der wirtschaftlichen Lage oder der Responsivität der Politik); schließlich zum vierten Divergenz (etwa beim Vertrauen in Politiker bzw. Parteien).

Metadaten-Zeitreihen für ausgewählte Einstellungsvariablen

Interesse an Politik ist eine grundlegende, allerdings vergleichsweise unverbindliche Form politischer Beteiligung (Gabriel/ Neller 2010: 79). Seit etwa 1992 und mit nur geringen Abweichungen bis heute anhaltend, sind die Kurven des politischen Interesses in Ost- und Westdeutschland in hohem Maße kongruent verlaufen (Abbildung 1). Im Zeitraum zwischen 2018 und 2020 stagnierte die Aufmerksamkeit für das politische Geschehen in beiden Teilen des Landes bzw. entwickelte sich leicht rückläufig.

Interesse an Politik in Ost- und Westdeutschland 1990 - 2020. (© bpb)

Die subjektive Einschätzung der Wirtschaftslage gilt in der Politikforschung als ein Indikator, der auf die aktuelle Bewertung der Politik Rückschlüsse zulässt und deshalb in Bevölkerungsumfragen regelmäßig erhoben wird. Auch bei diesem Indikator ist im Ost-Vergleich der "Wellengang" seit den frühen 1990er Jahren bis zum Ende der zweiten Dekade nach der Wiedervereinigung gleichförmig verlaufen. Bis 2010 blieben die Kurven zumeist im negativen Skalenbereich, wobei die Bewertungen in Westdeutschland durchwegs leicht besser ausfielen (Abbildung 2). In der Zeitspanne zwischen 2018 und 2020 erlebte die wirtschaftliche Stimmung in beiden Teilen des Landes einen rapiden Absturz. Wie für April und Mai 2020 im Politbarometer und im ARD-DeutschlandTrend monatlich erhobene Daten zeigen, hat hierbei der pandemiebedingte Konjunktureinbruch im 2. Quartal 2020 offenbar Spuren hinterlassen.

Die aktuelle Wirtschaftslage in Deutschland 1990 - 2020. (© bpb)

Wie wird sich die Wirtschaft hierzulande in Zukunft entwickeln? – Diese Frage, die für die persönliche Lebenseinschätzung – und mittelbar auch für die Politikzufriedenheit - der Bürgerinnen und Bürger bedeutsam ist, wurde seit den frühen 1990er Jahren bis etwa 2010 seitens der deutschen Bevölkerung überwiegend pessimistisch beantwortet (Abbildung 3). Seither haben sich die Ost-West-Werte auch vollständig angeglichen. Auch bezüglich der künftigen Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung sind nach 2018 die Werte deutlich abgestürzt.

Zukünftige wirtschaftliche Lage in Deutschland 1990 - 2020 (© bpb)

Die Beobachtung, ob die Bürgerinnen und Bürgern damit zufrieden sind, wie die Demokratie hierzulande "alles in allem funktioniert", zählt zum klassischen Repertoire der politischen Einstellungsforschung (Gabriel/ Neller 2010: 113ff.). Anders als bei der grundsätzlichen Positionierung zur "Idee der Demokratie" gibt die Demokratiezufriedenheit darüber Aufschluss, wie die "Performanz", d.h. die tagespolitische Leistungsbilanz der staatlichen Institutionen und der verantwortlichen politischen Akteure bewertetet wird. Auch für dieses stärker situativ bedingte Stimmungsbild zeigt sich in der Längsschnittbetrachtung für die Zeit seit 1990 im Ost-West-Vergleich ein bemerkenswert kongruentes, hier jedoch durch einen klaren Abstand beider Kurven gekennzeichnetes Verlaufsmuster (Abbildung 4). Die für Ostdeutschland gemessenen Zufriedenheitswerte unterschreiten die ostdeutschen Referenzwerte fortwährend deutlich.

Demokratiezufriedenheit 1990 - 2010. (© bpb)

Die Parteiidentifikation (PI) misst eine "im Prozess der politischen Sozialisation erworbene, langfristig stabile affektive Bindung an eine Partei". Diese gibt die nicht nur Aufschluss über das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern zum Parteienstaat, sondern leitet traditionell auch das Wahlverhalten. In der Wahlforschung wird die PI neben dem Kandidatenfaktor und der einzelnen Parteien zugeschriebenen Lösungskompetenz (Themenfaktor) als eines von drei wesentlichen Motiven der Wahlentscheidung in Wahlanalysen einbezogen.

Die in Abbildung 5 dargestellten Verlaufskurven der PI bestätigen die auch für andere politische Einstellungen wie die hier einbezogene Demokratiezufriedenheit kennzeichnende Ost-West-Differenz. In Ostdeutschland pendelt der Anteil derer, die affektiv keiner Partei zuneigen, seit den frühen 1990er Jahren um die 40-Prozent-Marke. In Westdeutschland liegt der Anteil niedriger, nämlich zwischen 30 und 40 Prozent. Zwischen 2016 und 2018 hatte sich in beiden Teilen des Landes die gefühlte Distanz zu politischen Parteien vergrößert (Abbildung 5). Dieser – im Übrigen europaweit auftretende – Trend hat sich nach Daten einzelner Umfragen wie des Politbarometers 2020 und 2021 fortgesetzt.

(© bpb)

Dass die Bevölkerung auf die Rechtmäßigkeit und Gemeinwohlbindung des Handelns der staatlichen Institutionen vertraut, ist eine Grundvoraussetzung für eine gesellschaftlich stabil verankerte Demokratie.

Wie Abbildung 6 zeigt, fällt das Vertrauen, das dem Bundestag und der Bundesregierung, mithin zwei zentralen Institutionen des parlamentarischen Regierungssystems, entgegengebracht wird, in Ost- wie Westdeutschland seit je her mäßig aus. Jedoch ist es über die letzten eineinhalb Jahrzehnten hinweg mit gewissen Schwankungen gewachsen. Das West-Ost-Gefälle veränderte sich dabei kaum. Allerdings bewegt sich die ostdeutsche Vertrauenslinie stets im negativen Skalenbereich. In beiden Teilen des Landes ist der langjährige Aufwärtstrend zwischen 2016 und 2018 abgebrochen. Die Einzeldaten des Eurobarometers zeigen indes für 2020 in West und Ost wieder einen Vertrauensanstieg.

Vertrauen in die Bundesregierung und den Bundestag 2002 -2020. (© bpb)

Auch der politischen Parteien und Politikern gewährte Vertrauensbonus ist, wie die Längsschnittbetrachtung der Daten zeigt, in beiden Landesteilen ausnehmend gering (Abbildung 7). Seit Beginn der 2000er Jahre ist bis 2018 eine moderate Aufwärtsentwicklung in dieser Vertrauensbeziehung erkennbar. Wie die Daten des Eurobarometers zeigen, hatte 2020 – hier als Daten einer einzelnen Umfrage nicht abgebildet – auch das politische Personal teil an dem allgemein positiven Wandel der Grundstimmung in der Bevölkerung, der im Westen etwas stärker ausfiel als im Osten.

Vertrauen in Parteien / Politiker 2002 - 2020. (© bpb)

Der Indikator "Responsivität" gibt Auskunft über die seitens der Bevölkerung wahrgenommene Rückkopplung von Politikerinnen, Politikern und Parteien an Anliegen und Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Verglichen mit dem Ausgangspunkt Mitte der 1990er Jahre, haben sich der ostdeutsche und der westdeutsche Responsivitätswert seither positiv entwickelt (Abbildung 8). Beide Metawerte blieben jedoch stets deutlich im negativen Skalenbereich. Nach dem 2018 eingetretenen Trendknick zeichnet sich ausweislich der Daten des GLES-Tracking für 2020 und 2021 – hier als Daten einer einzelnen Umfrage nicht abgebildet – auch hier wieder eine positive Entwicklung ab.

Responsivität der Politiker und Parteien 1990 - 2020. (© bpb)

Zusammenfassung und Ausblick

Die Verlaufskurven der Einstellungsdaten dokumentieren sowohl langfristige Trends als auch punktuelle Trendwechsel. Die Kurvenverläufe folgen über die Zeit hinweg in Ost- wie Westdeutschland denselben Wellenbewegungen. Anders gesagt: Die Auf- und Abschwünge in den Stimmungslagen sind in beiden Teilen des Landes in hohem Maße kongruent. In den ersten 25 Jahren nach der Wiedervereinigung zeigen die Meta-Daten eine überwiegend konvergente Entwicklungsrichtung an. Von einer "gespaltenen" politischen Kultur im geeinten Deutschland kann folglich gegenwärtig nur bedingt gesprochen werden.

Seit etwa 2015 öffnete sich die Ost-West-Schere wieder stärker, so z.B. – außer beim hier nicht erörterten Wahlverhalten – bei der Parteibindung und dem Vertrauen zu den politischen Akteuren. Dennoch sind bei der politischen Partizipation im erweiterten Sinne die Gemeinsamkeiten von Ost und West größer als die Unterschiede. Stärker ausgeprägt als in Westdeutschland ist in Ostdeutschland jedoch eine in Teilen der Bevölkerung verbreitete und in den letzten Jahren deutlicher hervorgetretene Abstandshaltung gegenüber zentralen Grundsätzen und Verfahrensregeln der parlamentarischen Demokratie.

Quellen / Literatur

  • Best, Heinrich/ Holtmann, Everhard (Hrsg.) (2012): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt/ New York.

  • Brachert, Matthias (2019): Bestimmungsgründe regionaler Unterschiede der politischen Partizipation in Deutschland, in: Holtmann 2019, S. 219 – 290.

  • Brachert, Matthias/ Holtmann, Everhard/ Jaeck, Tobias (2020): Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten (FES Empirische Sozialforschung 12), Bonn.

  • Forschungsgruppe Wahlen/ FGW (2019): 30 Jahre Mauerfall. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage Juni/ Juli 2019 (Externer Link: www.forschungsgruppe.de).

  • Fuest, Clemens/ Immel, Lea (2019): Ein zunehmend gespaltenes Land? In: ifo Schnelldienst 16/2019, 22.August 2019, S- 19 – 24.

  • Gabriel, Oscar W./ Neller, Katja (2010): Bürger und Politik in Deutschland, in: Ders./ Fritz Plasser (Hrsg.), Deutschland, Österreich und die Schweiz im neuen Europa, Baden-Baden, S. 57 – 146.

  • Gabriel, Oscar W./ Holtmann, Everhard/ Jaeck, Tobias/ Leidecker-Sandmann, Melanie/ Maier, Jürgen/ Maier, Michaela (2015): Deutschland 25. Gesellschaftliche und Politische Einstellungen (bpb Zeitbilder), Bonn.

  • Holtmann, Everhard (Hrsg.) (2019). Die Umdeutung der Demokratie. Poltiische Partizipation in Ost- und Westdeutschland, Frankfurt/Main.

  • Institut für Wirtschaftsforschung Halle/ IWH (2019: Wirtschaft im Wandel 1/2019, 23. April 2019.

  • Jaeck, Tobias (2019): Die "langen Wellen" im Entwicklungsverlauf von politischer Partizipation in Ostdeutschland von 1990 bis zur Gegenwart, in: Holtmann 2019, S. 35 – 56.

  • Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2021 (2021): hrsg. vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Berlin (Externer Link: bmwi.de).

  • Roose, Jochen (2021): Politische Polarisierung in Deutschland. Repräsentative Studie zu Zusammenhalt in der Gesellschaft (KAS4Democracy), Berlin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nähere Erläuterungen zum methodischen Konstrukt der Meta-Trendlinien in Gabriel/ Holtmann 2014: 9f. sowie in Jaeck 2019: 35 – 37.

  2. Gabriel/ Neller (FN 1), S. 94 – 97. Vgl. auch Martin Kroh: Parteiidentifikation: Konzeptionelle Debatten und empirische Befunde, in: Thorsten Faas/ Oscar W. Gabriel/ Jürgen Maier (Hrsg.), Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung, Baden-Baden 2020, S. 458 – 479.

  3. Befragte ohne Parteibindung waren im Politbarometer im Durchschnitt der Jahre 2019 und 2020 insgesamt 37,7 bzw. 36,7 Prozent. Von Januar bis Mai 2021 betrugen die Anteile im Schnitt 39,0 Prozent. Dabei lagen die im Osten ermittelten Werte zwischen 4 bzw. 5 Prozentpunkten höher als im Westen.

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Dr. phil, geb. 1946; Professor für Politikwissenschaft, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg, Großer Berlin 14, 06108 Halle/S.
E-Mail Link: everhard.holtmann@zsh.uni-halle.de

Dipl.-Soz., geb 1977; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg (s.o.).
E-Mail Link: tobias.jaeck@zsh.uni-halle.de