Einführung: Einstellungen zu Politik – Signale eines ostdeutschen Sonderweges?
Die Frage, wie schnell, wie umfassend und wie nachhaltig die Deutschen in Ost und West nach der Wiedervereinigung zu einem Volk zusammenfinden würden, beschäftigte Beobachter aus Politik und Wissenschaft schon zur Zeit des Systemumbruchs von 1989/90 (Nachweise in Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 60ff.). Bis heute ist diese Frage ein Thema kontroverser öffentlicher Debatten geblieben. Erfüllte sich Willy Brandts Prophezeiung vom November 1989, dass "zusammenwächst, was zusammengehört"? Oder ist Deutschland nach drei Jahrzehnten Wiedervereinigung immer noch "ein Staat mit zwei politischen Kulturen" (Gabriel/ Neller 2010: 132)? Bleibt also eine "gespaltene politische Kultur" (
Jede der beiden konträren Einschätzungen kann sich auf empirische Belege berufen. In Fortschrittsbilanzen der Wirtschaftsforschungsinstitute (Fuest/ Immel 2019, IWH 2019) sowie in den Jahresberichten der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit (zuletzt JB Stand Dt. Einheit 2021) wurden und werden beispielsweise die enormen Fortschritte bei der nachholenden Modernisierung der ostdeutschen Ökonomie und großflächigen Infrastruktur bilanziert. Ebenso aber werden die im innerdeutschen Vergleich chronisch schwächere Wirtschaftskraft Ostdeutschlands, die Strukturprobleme seiner ländlichen Räume und das erkennbare Ost-West-Gefälle hinsichtlich gleichwertiger Lebensverhältnisse fortlaufend dokumentiert.
Angesichts der Dauerbaustellen des Einigungsprozesses, die in zentralen Problembereichen einen verlangsamten bzw. stockenden Fortschritt anzeigen, der in seinen bisherigen Ergebnissen teilweise unterschiedlich bewertet wird, überrascht es nicht, dass auch die Stimmungslage im geeinten Deutschland seit 1990 und bis heute gegenläufige Strömungen aufweist. Zumal im östlichen Teil des Landes ein in sich widersprüchliche Einstellungsprofil hervortritt. Einerseits sehen sich Ostdeutsche, wie Bevölkerungsumfragen seit längerem zeigen, in ihrer großen Mehrheit als Gewinner der Einigung (pars pro toto Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 136 – 140, FGW 2019). Andererseits zählen, so der jüngste Einigungsreport der Bundesregierung, die politischen Einstellungen "zu den wenigen verbleibenden Feldern", wo weiterhin charakteristische Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern aufscheinen: "Kennzeichnend dafür ist eine in den neuen Ländern – im Vergleich zu den alten Ländern – durchgängig skeptischere, distanziertere und auch kritischer ausgeprägte Grundeinstellung gegenüber Politik" (JB Stand Dt. Einheit 2021: 14). Dieser Befund gibt Anlass zu der Frage: Wie stellen sich die Besonderheiten des ostdeutschen Einstellungsprofils im Längsschnitt der erhobenen Einstellungsdaten dar?
Die Gleichzeitigkeit von älteren mentalen Prägungen und neuen Erfahrungswerten seit der Wiedervereinigung
Vieles spricht für die Annahme, dass Auffälligkeiten bei politischen Einstellungen in Ostdeutschland, die gegenwärtig ins Auge fallen, nicht nur situativ bedingt sind, also etwa allein durch die aktuelle Regierungspolitik erklärt werden können, sondern eine Vorgeschichte haben. In diese sind teilweise Erfahrungen eingegangen, die nach der Wiedervereinigung gemacht wurden; teilweise reicht dieser Vorlauf aber auch in die Zeit vor 1989/90 zurück. In heutigen ostdeutschen Sichtweisen vornehmlich der älteren Generationen wirken historische mentale Prägungen nach, die sich, wie z.B. eine ausgeprägte wohlfahrtsstaatliche Erwartungshaltung, noch zu Zeiten der DDR eingeschliffen hatten (vgl. Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 15ff.). Nach 1990, während der turbulenten Zeiten einer "entsicherten Gesellschaft" (Best/ Holtmann 2012) und des späteren "doppelten Transformationsschocks" (
Aus gesamtdeutscher Perspektive betrachtet, existiert eine im wörtlichen Sinne geteilte Sicht auf Politik: Einstellungen werden geteilt, sind also Gemeingut; oder sie sind geteilt, d.h. sie fallen unterschiedlich aus. Dabei überschneiden sich unterschiedliche biografische Erfahrungshorizonte, wobei die Trennlinien einmal regional (Ost-West), zum anderen durch Zugehörigkeit zu Generationen (DDR-Generation, Wende-Kinder usf.), zu sozialen Bezugsgruppen oder Sozialmilieus (vgl.
Diese Erkenntnis aufnehmend, wird im Folgenden für die Politische Kultur des geeinten Deutschland ein Erklärungsansatz übernommen, der von einer Gleichzeitigkeit verschiedenartiger politischer Einstellungsmuster (was, für sich genommen, nicht viel mehr als ein Gemeinplatz wäre) ausgeht und unterschiedliche, nämlich regional spezifische, generationsbedingte und ereignisbezogene Erfahrungshorizonte integriert, welche die Einstellungen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen bzw. prägen. Das sei im Folgenden an zwei konkreten Beispielen veranschaulicht.
Beispiel 1: Aufgefordert zu einem hypothetischen Systemvergleich DDR/BRD hinsichtlich der damaligen und heutigen Lebensbedingungen, urteilten bei einer Bevölkerungsumfrage im Jahr 2014 jüngere Ostdeutsche (unter 35 Jahren) über die Bundesrepublik deutlich positiver als ältere (Gabriel/ Holtmann 2015: 136 – 139). Erwartungsgemäß zeigten sich in diesem Meinungsbild für Ostdeutschland einmal generationsbedingt differierende Einstellungen sowie zum anderen eine Tendenz zu einer gesamtdeutschen Angleichung von Einstellungen bei der jüngeren Generation.
Beispiel 2: Bei älteren Ostdeutschen überlagern sich zwei Schichten politischer und gesellschaftlicher Sozialisation, jeweils geformt durch Lebensabschnitte, die zunächst in die DDR fielen und sodann in der Bundesrepublik ihren Anfang nahmen. Erwartbar ist demgemäß ein Mix von Einstellungen, der zum einen die Angleichung an in Westdeutschland vorherrschende Einstellungsmuster abbildet und/oder zum anderen kritische Distanz gegenüber diesen anzeigt. Die Daten der oben zitierten Umfrage bestätigen beides: Über 35-jährige Ostdeutsche urteilten 2014 überwiegend (ca. 65 Prozent), die Chancen für persönlichen Aufstieg hätten sich nach 1990 verbessert. Zugleich schrieben sie jedoch mehrheitlich der DDR etliche Systemvorteile zu, nämlich bei sozialem Zusammenhalt (ca. 70 Prozent), Bildung, Kinderbetreuung, sozialer Absicherung, sozialer Gerechtigkeit und Schutz vor Verbrechen (zwischen ca. 55 und ca. 59 Prozent) (Ebenda).
Erkenntnisgewinn durch Historisierung: Umfragedaten zu politischen Einstellungen im Ost-West-Vergleich als Zeitreihen ab 1990
Im folgenden Abschnitt werden ausgewählte politische Einstellungen, differenziert nach Ost- und Westdeutschland, im zeitlichen Längsschnitt seit 1990 dargestellt. Dafür wurden Daten thematisch übereinstimmender und periodisch wiederholter einzelner Bevölkerungsumfragen in eine einheitliche Werteskala (von -2 bis +2) umcodiert. Die auf dieser Basis errechneten Mittelwerte der einzelnen Studien wurden wiederum zu einem "Metatrend" (Mittelwert aller Studien) getrennt für Ost- und Westdeutschland zusammengefasst.
Eine derartige datenbasierte Historisierung der gesamtdeutschen Politischen Kultur ermöglicht zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Über einen Zeitraum von etwa 3 Jahrzehnten werden Konstanz und Wandel politischer Einstellungen grafisch dokumentiert. So wird erkennbar, ob sich im Laufe der Zeit Kontinuitäten ausformen, also be-stimmte Einstellungsmuster sich verfestigen, oder auch nicht. Zudem lassen sich Annahmen über Kontexteffekte überprüfen, d.h. ob die Kurvenverläufe auf der Einstellungsebene mit politischen oder ökonomischen Ereignissen, wie etwa der globalen Finanzkrise von 2008/09, in einem zeitlichen Begründungszusammenhang gesehen werden können.
Bei Betrachtung der Metadaten-Zeitreihen ausgewählter politischer Einstellungen seit 1990, soviel sei im Vorgriff auf deren folgende Darstellung angemerkt, werden im Ost-West-Vergleich vier strukturbildende Verlaufsmuster deutlich: einmal Unterschiedlichkeit (etwa bei Parteibindung und Demokratiezufriedenheit); zweitens Gleichlauf (so z.B. beim Institutionenvertrauen); zum dritten Angleichung (etwa bei politischem Interesse, der Bewertung der wirtschaftlichen Lage oder der Responsivität der Politik); schließlich zum vierten Divergenz (etwa beim Vertrauen in Politiker bzw. Parteien).
Metadaten-Zeitreihen für ausgewählte Einstellungsvariablen
Interesse an Politik ist eine grundlegende, allerdings vergleichsweise unverbindliche Form politischer Beteiligung (Gabriel/ Neller 2010: 79). Seit etwa 1992 und mit nur geringen Abweichungen bis heute anhaltend, sind die Kurven des politischen Interesses in Ost- und Westdeutschland in hohem Maße kongruent verlaufen (Abbildung 1). Im Zeitraum zwischen 2018 und 2020 stagnierte die Aufmerksamkeit für das politische Geschehen in beiden Teilen des Landes bzw. entwickelte sich leicht rückläufig.